
Ein Gespräch des Philosophen Wolodymyr Jermolenko mit dem sowjet-ukrainischen Dissidenten Myroslaw Marynowytsch
Diesmal begrüße ich als unseren besonderen Gast Myroslaw Marynowytsch, einer der ehemaligenm ukrainischen Dissidenten und sowjetischen Gefangenen, der heute Prorektor der Ukrainischen Katholischen Universität ist. Wir sprechen mit ihm über die Werte der ukrainischen Dissidentenbewegung, über die Unterschiede zwischen der damaligen ukrainischen und der russischen antisowjetischen Bewegung, über den Strafvollzug in der UdSSR und im heutigen Russland, über Werte in Zeiten des Krieges und über die Religion. Myroslav Marynovych, ich freue mich sehr, dass Sie bei uns sind.
Die ukrainische Dissidentenbewegung zu Sowjetzeiten
Ich möchte unser Gespräch mit dem Thema der Dissidenz, der Philosophie der Dissidenz beginnen. Ich glaube, dass Sie heute in der Ukraine einer der klügsten und stärksten Vertreter der Generation sind, die während der Sowjetzeit inhaftiert worden sind. Wenn Sie auf diese Generation zurückblicken, was sollte die Ukraine Ihrer Meinung auch heute bei uns unbedingt bewahren? Welche Ideale, welche Elemente eurer Weltanschauung, welche Werte von damals?
Vielleicht sollten wir mit dem Bewusstsein der absoluten Notwendigkeit der Wahrheit beginnen. Die Dissidentenbewegung begann als Protest gegen die Herrschaft der Lüge. Juri Orlow war einer von ihnen. Für seinen Einsatz für die Einhaltung der Menschenrechte wurde er mehrfach ausgezeichnet. Als ihm einmal ein westlicher Journalist die Frage stellte, warum er, als sehr erfolgreicher theoretischer Physiker, Dissident geworden wäre, sagte er, er hätte damals einfach nicht mehr schweigen können. Wen Sie das auch schon einmal erlebt haben, können Sie gut nachvollziehen, wie es damals für ihn war, als er einfach nicht mehr schweigen konnte. Irgendwann halten Sie es nicht mehr aus und es geschieht dann einfach.
Geht es Ihnen heute vielleicht so, was den Wandel in Europa betrifft?
Gegenwärtig ist Europa in meiner Wahrnehmung tatsächlich in einer Sackgasse gelandet. Aber ich muss selbverständlich auch eingesehen, dass keiner von uns die ganze Wahrheit besitzt. Die unzähligen Lügen, die in der Sowjetunion damals ständig verbreiten wurden und wir alle uns schämten, musste irgendwann jemand stoppen und offen sagen, dass keine Macht dieser Welt die absolute Wahrheit für sich beanspruchen kann.
Wir erlaubten uns damals, zu sagen,
was wir tatsächlich dachten und entsprechend auch zu handeln.
In unserer Postmoderne kann ich dies aber nicht mehr sagen,
weil es absolut falsch verstanden werden kann.
Gegenwärtig befinden wir uns aber in einer Sackgasse, und ich glaube, dass dies mit auch ein Grund unserer sehr schwierigen Lage ist. Wenn niemand mehr eine absolute Wahrheit kennt, liegt für uns die die Wahrheit vielleicht irgendwo zwischen den Extremen. Dieses System ist sehr verwundbar, weil es nur dann fungtionieren kann, wenn sämtliche Vertragsparteien auch guten Willens sind. Aber sobald es eine politische Kraft gibt, die absichtlich Fakes in dieses System einführt, wird das ganze System irgendwann zu einer Fälschung.
Wo sehen Sie das?
Sagen wir einfach, dass es in unserem Fall sehr leicht zu sehen ist, wir müssen gar nicht nur theoretisch darüber sprechen und irgendetwas dazu erfinden. Putin speist seine russischen Fälschungen ständig in unser System ein.
Unser System wird ständig durch die Sichtweise
der Wahrheit der russischen Welt beeinflusst.
Überall finden wir den russischen Standpunkt. Wenn dies uns ständig begegnet, beginnt unser Gehirn ganz automatisch das arithmetische Mittel unter Berücksichtigung dieses Standpunktes zu berechnen. Das Resultat ist dann durch die ständige russische Propaganda meilenweit von der Wahrheit entfernt. Und ohne, dass die Mehrheit der Menschen erkennen, dass ihr System gefälscht ist, besonders auf der Ebene der Wahrheit. Deshalb ist es für uns sehr wichtig, dass für uns alle tatsächlich eine absolute Wahrheit existiert.
Wir können uns ihr dann irgendwie nähern oder uns von ihr auch entfernen, aber sie existiert für uns tatsächlich. In diesem Bereich sehe ich grosse Probleme.
Wahrheit ist für uns alle eine objektive Aufgabe,
nicht eine intersubjektive Aufgabe,
deren Ergebnisse sehr unterschiedlich aussehen,
weil heute allgemein anerkannt ist,
dass es keine objetive Wahrheit für uns geben kann.
Entschuldigen Sie mein großen philosophischen Jargon. Die Wahrheit ist für mich kein Konsens. Wenn es nur einen Konsens zwischen dem Opfer und dem Mörder kann, dann gibt es überhaupt nicht mehr eine Wahrheit.
Aber wie kann das gehen, wenn heute für die Russen das Wort "Wahrheit" aber auch eine große Rolle spielt? Der Titel des Film Brad-2, "The Power of Truth", wird von ihnen sogar als Slogan für den Krieg verwendet, schreiben sie auf ihre Panzer und anderswo. Ich verstehe diesen logan immer als diese typische russische Schizophrenie, dass sie uns im Grunde genommen das Gegenteil zeigen, dass ihre Wahrheit nicht wahr sein kann. Sind Sie damit einverstanden?
Ja, absolut. Es fällt mir sehr schwer, das wirklich sagen zu müssen, wenn ich all das analysiere, was in gerade unter den Menschen in den russischen Städten geschieht, obwohl ich diese Dinge nicht wirklich verfolge. Ich bin sehr besorgt, dass die Mehrheit der Russen, selbst wenn manche auch erahnen, dass an der offiziellen Wahrheit etwas faul ist, es dennoch glauben. Ihr Instinkt für Sicherheit, für das eigene Überleben, bringt sie dazu, eher ihrem System zu vertrauen als sich sehr schwierigen Fragen zu stellen. Deshalb sagen sie einfach:
"Ich bin sicherer, wenn ich so tue,
als würde ich dieser Propaganda glauben.
Andernfalls müssten wir uns zu sehr
vielen sich aufdrängenden Fragen stellen".
Wenn wir über dieses Thema sprechen, kommen wir auch der nationalen Frage in den Zeiten Ihrer Dissidenz ein wenig näher. Ich kenne diese Realität nicht genau, aber was sehe ich als externer Beobachter? Dass z. B. die ehemaligen russischen Dissidenten im neuen Russland nur deshalb geehrt wurden, vor allem Solschenizyn, weil er ein Ideologie vorschlug, die im Grunde genommen genau das Gegenteil der UdSSR war, nämlich eine Rückkehr zum alten russischen Reich. Dies bemerkten aber nicht viele. Nur wenige erinnerten sich noch an ie Zeiten, als es bereits ein Vierteljahrhundert, bevor der "Archipel Gulag" erschien, eigentlich nur noch den eigenen Garten gab, dank dem sie sich einigermassen gut selbst versorgen konnten.
Wie entwickelten sich damals in der Bewegung der Dissidenz die Beziehungen zwischen Ukrainern und möglicherweise anderen Nationalitäten der UdSSR, nicht-imperialen, kolonisierten Dissidenten und den russischen Dissidenten? Gab es schon damals schon diese Widersprüche?
Das Verhältnis war, so würde ich sagen, ein anderes. Einerseits kann man nicht verleugnen, dass die russische Dissidenten sehr lange in der Welt und auch in der Sowjetunion mehr moralische Autorität besaßen als alle anderen Dissidenten, und diejenigen, die nach der Wahrheit suchten, zog es nach Moskau und den Moskauer Dissidenten. Das Phänomen von Henrik Altonian in Charkiw zum Beispiel illustriert diese Anziehungskraft sehr gut. Das Epizentrum der Dissenz lag einfach in Moskau und bei Sacharow und anderen Leuten.. Und wir anderen waren damit auch ein Teil dieser großen, großen Gemeinschaft. Wir müssen eingestehen, dass die ukrainische Helsinki-Gruppe ohne die Hilfe der Moskauer Helsinki-Gruppe die effektiv hätte sein können, wie sie es war.
- Henryk Altunyan wurde am 24. November 1933 in der Stadt Tiflis in der Georgischen SSR in eine armenische Familie geboren . 1944 zogen er und seine Familie nach Charkiw. Henryk Altunyan war
Mitglied der KPdSU, ein aktiver und ideologischer Kommunist und Parteiorganisator der Abteilung. Nachdem Nikita Chruschtschow 1964 von seinem Posten als Erster Sekretär der KPdSU abgesetzt worden
war , „wich er jedoch von der Parteilinie ab“ 1969 wurde er festgenommen und zu drei Jahren Haft in einem Lager veruteilt. Später wurde er nochmals verhaftet und zur Maximalstrafe zu 7
Jahren Haft in Lagern mit strengem Regime und 5 Jahren Verbannung veruteilt. Sacharow forderte dann die Freilassung politischer Gefangener. Anschliessend ging er in die Politik.
1987 wurde Altunyan freigelassen , obwohl er selbst nie eine Schuld eingestanden hatte. Nach der Gründung der Volksbewegung der Ukraine für Perestroika im Er arbeitete unter anderem im Regionalparlament Charikis in der Kommission für Veteranen, Rentner, Behinderte, Unterdrückte, Menschen mit geringem Einkommen und internationalistische Soldaten sowie der Kommission für Verteidigung und Staatssicherheit, und wurde er Co-Vorsitzender der Charkiwer Zweigstelle von Memorial. 2005 starb er nach einer erfolglosen Operation in einem Milikrankenhaus in Israel gebracht , konnte dort jedoch nicht gerettet werden und starb am 30. Juni 2005 . Begraben in Charkiw.
Was will ich damit sagen? Unsere Gesandten in Moskau spürten sehr wohl unsere Unterschiede. Unsere Dissidenten in Moskau sagten uns deshalb immer wieder: «Ja, unsere Dokumente enthielten schon vorwiegend dieselben Dinge wie sie, aber sie sähen auch gewisse deutliche Unterschiede, besonders in den Dokumenten aus Armenien, Georgien und Litauen. Es würde in ihnenaber zu shr Aufmerksamkeit auf Fragen der kulturelle Rechte und nationaler Existenz geschenkt. Es sollte aber um die Menschenrechte, um unsere Bürgerrechte, darüber müssen wir reden, warum vermischt ihr es mit euren nationalen Fragen und lenkt damit vom eigentlichen Thema ab?»
Die Position der Moskauer Dissidenten zu unseren nationalen Fragen war bestenfalls eine sehr dürftige, wie Sergej Kowaljow es einmal sehr gut beschrieb, als er mir sagte: "Myroslaw, ich fühle keine nationale Frage. Für mich geht es um die Frage: Kosmopolitismus oder Russifizierung?" Für ihn war es kein Problem. Er war selbst Russe. Er fühlte keine nationale Ungerechtigkeit in der Sowjetunion. Niemand verbot ihm, antisowjetische russische Tänze zu tanzen. Im Lager, bei Auseinandersetzungen mit den Offizieren, verteidigte er aber schon das Recht der Ukrainer, sich in der UPA zu verteidigen. Ich hätte gerne einmal gehört, wie er uns verteidigt hatte. Mir gegenüber zeigte er sich jedenfalls nie empfänglich für nationale Fragen. Das war für ihn unnötig.
- Die Ukrainische Aufständische Armee, kurz UPA, war die ukrainische Partisanenbewegung und ihr militärischer Flügel, die «Organisation Ukrainischer Nationalisten» (OUN, Bandera-Fraktion OUN-B). Sie wurde 1942 gegründet und existierte bis etwa 1956. Im Zweiten Weltkrieg kollaborierte die UPA zeitweise mit dem nationalsozialistischen Deutschland und bekämpfte die Polnische Heimatarmee. Nach dem Krieg kämpfte sie weitere fünf Jahre in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik gegen die Sowjetunion.
Mit anderen Worten, es herrschte die Vorstellung vor, dass es vor allem darum ging, die totalitäre Sowjetunion zu demokratisieren. Das sowjetische Imperium sollte nicht angetastet werden, weil es im Prinzip in der Sowjetunion für sie gar kein Imperium geben konnte. Ich hörte nur von einem einzigen Russen in den Lagern, später auch von Vladimir Bukowski, dass es notwendig wäre, das Russische Reich zu zerstückeln. Aber diese Frage wurde in der russischen Dissidentengemeinschaft nicht diskutiert, und ich war sehr enttäuscht, als ich einmal hörte, dass Alexander Podrabinek, als er, ich glaube, gut vor einem Jahr in Deutschland sprach und bestritt, dass das russische Volk von imperialen Gefühlen besessen wäre.
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Vladimir Bukowski: 1942-2019, sowjetischer, britischer und russischer Menschenrechtsaktivist , Schriftsteller, Publizist und eine Persönlichkeit des öffentlichen
Lebens . Einer der Gründer und aktiver Teilnehmer der Dissidentenbewegung in der UdSSR. Im Westen erlangte er Bekanntheit durch seine Bekanntmachung der Praxis der Strafpsychiatrie in der
UdSSR. Insgesamt verbrachte er 12 Jahre in Gefängnissen und wurde zwangsweise „behandelt“. 1976 tauschten die sowjetischen Behörden ihn gegen einen chilenischen kommunistischen Führer,
woraufhin er nach Cambridge zog. Auch als Emigrant blieb er einer der schärfsten Kritiker der UdSSR und ihrer Politik. Als die Sowjetunion auseinanderfiel, forderte Bukowski ein Tribunal
vergleichbar den Nürnberger Prozessen, um den Kommunismus öffentlich anzuprangern. Der frühere Dissident wurde des Besitzes von Kinderpornografie beschuldigt. Bukowski hielt dies für eine
Verleumdungskampagne. Ob der russische Geheimdienst ihm die Pornobilder auf seinen PC übertrug oder er sich selbst verfehlte, bleibt offen.
- Alexander Podrabinek, * 8. August 1953 in Moskau) ist ein russischer Journalist und Menschenrechtsaktivist. Nachdem er eine medizinische Fachschule absolviert hatte, arbeitete Podrabinek zunächst als Helfer in einem medizinischen Notfallteam. Zu Beginn der 1970er Jahre schloss er sich der Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion an, im Westen bekannt wurde er durch sein 1977 abgeschlossenes Buch «Die Strafmedizin». 1978 wurde er verhaftet und wegen Verleumdung des Sowjetsystems zu fünf Jahren Verbannung in Nordostsibirien verurteilt. 1980 wurde er in der Verbannung ein zweites Mal, diesmal zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Von 1987 bis 2000 war er Chefredakteur der wöchentlich publizierten Menschenrechtszeitschrift Express-Chronika.2004 wurde Podrabinek vom FSB ins Lefortowo-Gefängnis verbracht und es wurde ihm mitgeteilt, dass in Zusammenhang mit einem Buch wegen der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen ermittelt werde. Im Herbst 2009 tauchte er vorübergehend unter, nachdem Naschi-Aktivisten aufgrund eines Artikels über Sowjet-Veteranen täglich vor seinem Haus demonstriert hatten.
Und es gab einige, Sie erwähnten zwei, richtig?
Meiner Meinung nach gibt es aber einen Unterschied zwischen dem imperialistischen Solschenizyn und dem liberalen Sacharow.
War das tatsächlich ein richtiger Unterschied oder ist es falsch?
Nein, das ist richtig. Wir, die Ukrainer, haben bei Solschenizyn sehr stark diese spätere Entwicklung bei ihm bemerkt. Diese war, wie ich glaube, schon vorher bei ihm da. Aber diese Entwicklung manifestierte sich erst, nachdem er die Sowjetunion verlassen hatte. Darauf reagierten wir sehr scharf. Ich erinnere mich noch gut, dass ich ungefähr 1988 einen kritischen Artikel über Solschenizyn veröffentlichte, woraufhin sich meine Beziehungen zu einigen russischen Dissidenten, die sich damals gerade in Frankreich aufhielten, abkühlten.
Warum denn?
Weil sie glaubten, dass ich dies nicht hätte machen dürfen, da Solschenizyn doch für uns alle ein Heiliger ist. Diese Meinungsverschiedenheit wurde von fast allen ukrainischen Dissidenten empfunden. Oksana Jakowlewna Meschko schrieb später einmal, die russischen Dissidenten hätten uns immer wieder dasselbe gesagt:
"Ihr Ukrainer habt immer irgendeine Empfindlichkeit
gegenüber uns Russen."
Josef Zissels schrieb ebens0, dass er als Dissident immer wieder dasselbe von den Moskauer Dissidenten hören musste. Eigentlich gab es diese Empfindlichkeit bei uns noch nicht, aber sie hatten einfach kein Verständnis für unsere nationale Frage. .
- Oksana Jakiwna Meschko, eine ukrainische Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Teilnehmerin der Oppositionsbewegung in der Ukraine in der Nachkriegszeit und De-facto-Leiterin der
Ukrainischen Helsinki-Gruppe während der Massenverhaftungen durch den KGB Ende der 1970er Jahre.
Sie wurde 1905 in einer Kleinbauernfamilie mit alten Kosakenwurzeln geboren, die einst der Leibeigenschaft entflohen war. Während ihres Studiums heiratete sie einen Lehrer des Instituts, Fedor Sergienko, ein ehemaliges Mitglied der Ukrainischen Kommunistischen Partei. Während ihres Studiums wurde sie aber mehrfach „aus sozialen Gründen“ vom Institut verwiesen. Von 1947 bis 1954 war sie Gefangene in sowjetischen Lagern. 1972 wurde sie im Fall ihres Sohnes verhaftet. Ab Juni 1980 verbrachte sie zweieinhalb Monate in einer Zelle mit Patienten, die in der psychiatrischen Klinik zwangsweise „untersucht“ wurden. Im Januar 1981 wurde sie zu sechs Monaten Gefängnis und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Ende 1985 kehrte er aus der Verbannung zurück. 1991 verstarb sie im Alter von 85 Jahren.
- Josef Zissels: Dissident jüdischer Herkunft, Ko-Vorsitzender des Ukrainischen Verbandes Jüdischer Organisationen und Gemeinden (VAAD) und stellvertretender Vorsitzender des Ukrainischen Kongresses der ethnischen Gemeinschaften. Herausragende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die für die Entwicklung des ukrainisch-jüdischen Dialogs unverzichtbar ist.
Wie konnten Sie damals Beziehungen zu anderen Vertretern anderer Nationalitäten aufbauen?
Ich habe den Eindruck, dass sich die jüdisch-ukrainischen Beziehungen unter den Dissidenten nach der Unabhängigkeit der Ukraine zu verändern begangen. Sie erwähnten Zissels, und ich erinnere mich an einen seiner besten Texte über Iwan Stus, den Michail Cheifez schrieb.
- Michail Cheifez: Verstarb 2019 im Alter von 89 Jahren in Jerusalem. Er war ein russisch-israelischer Schriftsteller, Publizist , Historiker und Menschenrechtsaktivist , einer der bekanntesten Vertreter der Dissidentenbewegung in der UdSSR . Als Lagerkamerad von Wassyl Stus und anderen Persönlichkeiten der ukrainischen Befreiungsbewegung hinterließ er Erinnerungen an viele von ihnen und bewahrte auch viele Gedichte von Stus auf.
Gab es noch andere Beispiele, in denen Beziehungen zur diesen Leuten aufgebaut wurden, oder gab es andere nationale Gruppen, die den Russen näher standen? Oder lebten die Russen getrennt von den anderen, und diese konnten ihnen gar nicht begegnen?
Ich denke, wir sollten hier über eine gewisse Dynamik sprechen. Als zum Beispiel die ukrainische Helsinki-Gruppe gegründet wurde, stellte sich die Frage, wie man mit dem Thema Antisemitismus umgehen sollte. Damals, buchstäblich von Anfang an, förderte der KGB bereits das antisemitische Thema „Sag mal, was hältst du von der ukrainischen Helsinki-Gruppe? Ukrainer? Nationalisten? Marynowytsch, …, ist doch die ukrainische Helsinki-Gruppe.". Sogar wir wurden auf diese Weise karikiert.
Eine Zeit lang, das muss ich eingestehen, gab es bei uns eine gewisse Vorsicht bei der Aufnahme von Juden, nicht weil wir erwarteten, dass sie die Gruppe woanders hinbringen würden, sondern weil sie als Propaganda gegen die Interessen der ukrainischen Helsinki-Gruppen verwendet worden wäre. Aber die Situation in den Lagern war völlig anders. Aryeh Woodka ist für mich ein Beispiel. Wir verstanden uns sehr gut.
- Aryeh Woodka, ein bekannter Dissident in der UdSSR, später Bürger Israels. Er gründete 1968 die größte Dissidentenorganisation in der UdSSR) sagte einmal, dass dann, wenn Juden und Ukrainer beschlossen hatten, eine Aktion in der Zone durchzuführen, es keine Rolle spielte, ob alle anderen damit auch einverstanden waren oder nicht. Wenn sich die beiden Gruppen einig wären, sollten alle in der Zone sich daran beteiligen. Wenn jüdische Mitgefangene zum Beispiel eine Aktion für die Rettung des poetischen Erbes von Stus durchführen wollten, wussten alle, dass sie seine Gedichte auswendig lernten und dann aus dem Lager schmuggeln, und drucken ließen. Also kann ich sagen, dass dieses Bündnis zwischen dem Tryzub und dem Davidstern in den Lagern sehr gut funktionierte.
Es gibt eine sehr wichtige These von Joseph Zissels, den Sie schon erwähnt haben, der über diese Annäherung mit mir sprach, aber auch darüber, wie wichtig es für Dissidenten der 1970-er Jahre wäre, vielleicht schon den 1960-er Jahren war, sich mit den politischen Gefangenen der Nachkriegszeit einzusetzen, insbesondere den Kämpfern der UPA. In seinen Memoiren schrieb er, so erscheint es mir, als würde er selbst als ehemaligen UPA-Führungsmitglied zu bezeichnen oder etwas Ähnliches. Natürlich sind die Leute schockiert, wenn ich dies in anderen Ländern erzähle, wo meine Zuhörer meistens eine sehr stereotypische Vorstellung der UPA haben. Sie sehen in der UPA eine Nazi-Bewegung, die sehr antisemitisch war (die russische Propaganda benutzt dies eifrig zur Begründung, die Ukraine müsse „entnazifiert“ werden).
Was halten Sie von dieser generationenübergreifenden Verbindung zwischen den politischen Gefangenen der Nachkriegszeit, vor allem aus dem ukrainischen Widerstand und den Dissidenten ganz allgemein?
Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich noch etwas hinzufügen, was ich bei der Beantwortung der vorhergehenden Frage vergessen habe. Ich habe gesagt, dass die Moskauer Dissidenten ein Recht auf die Einsicht unserer Dokumente eingefordert haben, muss aber zu ihrer Ehre auch sagen, dass sie nie den Weg unserer Dokumente in den Westen versperrt haben. Ich stelle immer wieder fest, dass sie uns trotz meiner Kritik an ihrer Haltung zur nationalen Frage den Weg nicht versperrt haben, sie haben uns geholfen, sie haben in ihren Häusern Treffen für uns und westliche Journalisten organisiert. Dies war sehr wichtig.
Nun also die UPA. Ich würde sagen, dass die Etablierung des ukrainischen Dissenses immer mit der nationalen Frage verbunden war.
Es ist schon richtig,
dass die Ukrainer schon immer zurückgeschaut haben,
nicht nur ich persönlich,
und auf diejenigen gesehen haben,
die schon einmal für ihre Unabhängigkeit gekämpft haben.
Wir brauchten damals aber gar nicht zurückzuschauen, sie waren ja neben uns schon im Lager. Zenoviy Krasivskyi zum Beispiel ist ein prominenter Vertreter dieser Widerstandsbewegung jener Jahre, und so war die genealogische Linie der Widerstandskämpfer sehr stark in der Etablierung der Widerstandsbewegung.
- Zenoviy Krasivskyi: * 12. November 1929, † 20. September 1991, war ein ukrainischer Dichter, Schriftsteller, Mitglied der UPA und der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, ein Opfer der sowjetischen Strafpsychiatrie.
Wir sollten aber auch eine andere geneologische Linie nicht vergessen, nämlich die Wirkung der berauschenden Freiheit nach dem 20.Jahrhundert. Die Idee, dass es möglich sein könnte, das aufzubauen, was später als Sozialismus mit menschlichem Antlitz bezeichnet wurde. Sie ist auch eine legitime genealogische Linie, und sie wurde auch dabei genutzt. Ich sage nicht, dass es damals keine Diskussionen zu diesem Thema gab, aber ich denke, dass die ukrainischen Dissidenten als solche meistens versuchten, sich nicht an irgendwelche Markierungen der Vergangenheit zu binden, selbst wenn sie über die Bedeutung dieses früheren Kampfes sprachen.
Gleichzeitig wollte ich nicht mit der Bandera-Bewegung
in Verbindung gebracht werden,
einer rein nationalistischen Bewegung,
weil ich mich nicht mit ihr identifizieren wollte.
Deshalb musste ich mich einmal mit Zenoviy Krasivskyi treffen, um zu sehen, wie sehr diese beiden Linien, die demokratische und die nationalistische miteinander verbunden sind und friedlich zusammenarbeiteten.
Sheptytsky ist eher Ihr Held als Bandera, nicht wahr?
- Andrej Scheptyzkyj war Metropolit der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in der Ukraine. Während seines Episkopats von 1901 bis 1944 führte er die Kirche durch zwei Weltkriege und erlebte sieben politische Regime, diese waren: österreichisch-ungarische, russische, ukrainische, polnische, sowjetische, nationalsozialistische deutsche und nochmals sowjetische Herrschaften. Gegen die nationalsozialistischen Herrscher und den Holocaust wandte er sich mit seinem Schreiben „Du sollst nicht töten“; dennoch unterstützte er die deutschen Streitkräfte als Befreier von der sowjetischen Herrschaft und befürwortete die Aufstellung einer Division der Waffen-SS aus ukrainischen Freiwilligen.
Ja, es trifft zu.
Aber es bedeutet heute nicht, dass diese beiden Figuren uns heute auch sehr widersprüchlich erscheinen. Oder doch nicht?
Ich denke, wir können versuchen, sie irgendwie zusammenzubringen. Ich habe dafür eine ganz einfache Erklärung. Die nationalistische Theorie und der nationalistische Geist basieren auf einer Nullsumme. Wir stehen dem Feind gegenüber. Wir müssen ihm ihrem Hass begegnen. Das ist der achte Punkt des Dekalogs der ukrainischen Nationalisten. Und das wars, mein Sieg bedeute für dich dein Sieg, dein Feind ist auch mein Feind.
Das Problem des Westens heute ist,
dass er weiterhin mit Putin Positivsummen spielt,
ohne dabei zu beachten,
dass wir uns mit ihm im Krieg befinden.
Putin spielt mit einer negativen Summe, weil er weiß, dass er sonst verlieren wird, und er will, dass der andere mehr verliert als er. Die Logik unsere Nullsumme wird im Westen aber kaum verstanden.
Was bedeutet diese Nullsumme? Darf ich Sie das fragen? Ich habe kürzlich darüber nachgedacht, und es scheint mir, dass mir das heutige Russland noch schlimmer erscheint als die UdSSR, weil die UdSSR in gewisser Weise immer auch etwas für ihr Image im Westen besorgt war. Man war damals sehr besorgt, dass einige unserer Botschaften ins Ausland gehen und dort öffentlich wahrgenommen werden, wenn sie beispielsweise von unseren Hungerstreiks für Menschenrechte erfahren. Heute macht sich Russland deswegen keine Sorgen mehr. Sehen Sie den Unterschied?
Ja, es ist ein großer Unterschied. Ich könnte beispielsweise sagen, als gegen mich ermittelt wurde und ich dann vor Gericht stand, auf eine gewisse glücklich sein konnte, weil mein Ermittler mir immer wieder sagte: „Sie schreiben den Leuten immer von Folterungen anderer Gefangener während Ermittlungen gegen sie, wir foltern dich aber gar nicht? Wir werden Sie gehen lassen, so wie wir Dzyuba gehen liesen.“ Ich wurde tatsächlich nie körperlich gefoltert, und vor allem hat mein Vermittler nie versucht, mich zur Reue zu zwingen.
- Iwan Dzyuba, 1931-2022, war ein ukrainischer Literaturkritiker, sozialer Aktivist, Dissident, Held der Ukraine, Akademiker der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, zweiter Kulturminister der Ukraine.
Strafvollzug in der UdSSR und im gegenwärtigen Russland
Es ist also nicht das frühere Verhalten, das heute die russischen Untersuchungsbeamten an den Tag legen, das heute unsere Gefangenen oder Häftlinge terrorisieren.
Der Unterschied ist meiner Meinung nach, dass Putin sich nicht an Breschnew orientiert, sondern an Stalin, an Iwan dem Schrecklichen, ich weiß nicht, an wem noch, aber jedenfalls nicht an der Breschnew-Ära, und dementsprechend handelt er auch, obwohl ich sagen würde, dass es sogar einen gewissen Unterschied zwischen der Stalin-Ära und heute gibt. Denn in der Stalinzeit gab es auch eine Ideologie, die unterschiedlich ausgelegt werden konnte. Vor allem wollte diese Ideologie auch sehr humanistisch erscheinen.
Aber heute gibt es nur diese Ideologie,
in der gesagt wird:
„Wir gegen die Faschisten in der Ukraine kämpfen.
Die Ukrainer sind alle Nazis,
das müsst ihr wissen.“
Es gibt keine anderen Ausreden, nur dieses eine ideologische Postulat.
In den Gefängnissen, über die wir heute sprechen, geht es nicht um die Wahrheit.
Es gibt keine Rücksicht mer,
dass jemandan an den Folgen
der Folterungen seines Körpers
sterben könnte.
Auf den Körper kann man verzichten, die Seele kann durch einen anderen Körper ersetzt werden. Deshalb wird gnadenlos gefolgert.
Es ist eine sehr zynische Haltung. Und Sie haben Recht, dass Putin zur Überzeugung gekommen ist, dass nur die Angst sein System aufrechterhalten kann.
So, wie Stalin damals überzeugt war,
dass die Angst der wichtigste Kitt des sowjetischen Systems sein sollte,
so glaubt Putin heute,
dass nur die Angst sein System retten kann.
Als einer, der als größter Zar in der russischen Geschichte dastehen will, muss er deshalb Angst verbreiten, es muss diese rücksichtslose Grausamkeit geben, je schrecklicher diese Grausamkeit ist, desto mehr Angst haben die Leute und desto größer ist der Erfolg...
Und die schlechte Nachricht ist,
dass die heutige Welt sehr viel zynischer
geworden ist als früher.
Ich glaube, wir erleben heute eine ständige Erosion der Werte, die es einmal gegeben hat. Anders lässt sich nicht zu verstehen, warum es in dieser Welt so viele Kräfte gibt, die Putin unterstützen oder gleichgültig gegenüber demjenigen sind, was gerade bei uns passiert, und das, was Putin sagt, für bare Münze nehmen, obwohl es in der Tat sehr zynisch ist.
Wir haben die Helsinki-Bewegung schon mehrfach erwähnt. Die Helsinki-Bewegung, könnte man sagen, ist ein Paradoxon der totalitären Geschichte, denn die Sowjetunion unterzeichnete 1975 die Helsinki-Abkommen. Aber er anerkannte sie nur teilweise, um gewisse Grenzen für immer festzuschreiben, vor allem die Grenzen der baltischen Staaten. Und so unterzeichnete sie die Erklärung der Unverletzlichkeit der Grenzen dementsprechend nur teilweise und dann die Erklärung über die Menschenrechte und so weiter. Daraus entstand dann die Helsinki-Bewegung, die schließlich dazu führte, dass ...
Ich weiß nicht, aber ich glaube, es gibt auch eine gewisse Logik zwischen der Helsinki-Bewegung und der Volksbewegung für die Unabhängigkeit der Ukraine. Gibt es eine gewisse Kontinuität zur nationalen Befreiungsbewegung der späten 1980-er Jahre? Kann man sagen, dass die Helsinki-Bewegung in gewisser Weise den Grundstein für den späteren Zusammenbruch der UdSSR gelegt hat?
Ich würde das gerne bejahen, aber bevor ich es am Ende noch vergesse, haben Sie etwas Wichtiges über die Wahrnehmung Breschnews gesagt, als er dieses Abkommen, die Schlussakte von Helsinki, unterzeichnete. Sie haben etwas Wichtiges über Breschnews Auffassung gesagt, als er dieses Abkommen, die Schlussakte von Helsinki unterzeichnete, und er war in erster Linie am Abkommen für internationale Anerkennung der Grenzen eines Staates interessiert und an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Er hat sich damals einfach nicht um den dritten Korb der Menschenrechte gekümmert, weil er davon überzeugt war, dass die Verhaftungen von 1971-1973 das Territorium der Sowjetunion vor allen möglichen Protesten in diesem Sinn gesäubert hatten. Diejenigen, die damals protestiert hatten, saßen ja alle in den Lagern.
Wir befinden uns hier also am Ende der 197er-Jahre?
Ja, das war es.
War es also diese Massenverurteilungen der 1970- Jahre?
Ja, das war es.
Man konnte es deshalb getrost unterschreiben.
das Geniale an der Idee von Helsinki ist, dass es in der Sowjetunion - und ich halte mich nicht für den Urheber dieser Idee, ich weiß ehrlich gesagt auch nicht einmal, wer sie sich asgedacht hat, aber es war eine geniale Idee, die als Lackmustest benutzt werden konnte, um anschliessend der Welt zu zeigen, dass die Unterschrift von Breschnew nichts bedeutet hatte, nicht umgesetzt wurde, da er nie die Absicht hatte, die Versprechen des dritten Korbes zum Schutz der Menschenrechte tatsächlich einzuhalten. Deshalb konnte diese Erklärung seelenruhig unterschreiben. Dann aber habe ich diesen Fehler gemacht.
Hatte die westliche Helsinki-Bewegung aber dann einen gewissen Einfluss auf den Zusammenbruch der Sowjetunion?
Ja, sie war sehr wichtig für uns. Es gab aber dabei einen positiven und einen negativen Aspekt. Auf der positiven Seite glaube ich auch, dass die Helsinki-Gruppen, wie andere Dissidentengruppen in der Sowjetunion oder Einzelpersonen auch, den Hauptpfeiler der Ideologie des sowjetischen Regimes, die Angst, damals in der Tat für immer zerstört hat. Wenn es dann Leute gab, die öffentlich verkündeten, dass sie dies und jenes in der Umsetzung der Menschenrechte überwachen würden und sie sich dem ideologischen Kanon der Sowjetunion bei Nichteinhaltung widersetzen würden, dann war dies nun möglich, und es stellte sich heraus, dass wir nicht immer diese Angst haben mussten, sondern dass wir unsere bürgerliche Position nun zeigen könnten. Dies war später mit eine Grund, dass die Sowjetunion und ihre ganze Ideologie in ihrem schrecklichen Mass tatsächlich zerstörte.
Die Rolle der westlichen Werte
Also diese Linie war positiv, was ich heute aber sehe, ist ihre negative Seite, die Schlussfolgerungen, die der Westen durch die Helsinki-Verträge zog, dass man glaubte, Softpower wäre endlich stärker als Hardpower. Und dass man sich immer an diese Formel halten sollte, die dann, aus welchen Gründen auch von jemandem erfunden wurde, „Wandel durch Handel“.
Gehen Sie Handelsbeziehungen ein,
und alles andere wird dann auch gut.
Ja, so wurde dann gehandelt, und zwar schrittweise.
Es wurde also sehr kaufmännisch gedacht, wirklich. Und allmählich wird es sich dann in anderen Bereichen auch verändern.
Nun, man kann es nicht sofort ändern. Aber allmählich, Schritt für Schritt, wird sich das System ändern. So wie es sich nach dem Helsinki-Abkommen auch geändert hat. Wir haben Handel miteinander getrieben, wir haben sichere Grenzen gezogen, wir haben mit der Sowjetunion zusammengearbeitet. Dann ist sie einfach zusammengebrochen. Genau darin liegt die Gefahr. Diese falsche Einschätzung, das einzigartige Helsinki-Experiment würde weiter funktionieren.
Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Das ist sehr interessant.
Heute sehen wir, wie zerstört dieses Erbe von Helsinki ist,
weil Russland die Grenzen immer weiter verletzt hat,
und wir nicht wissen, wie wir es stoppen können.
Heute spricht man über das Einfrieden der Kriegsgrenzen in möglichen kommenden Verhandlungen. Die Ukraine wird aber die Besatzung ihrer Gebiete nicht anerkennen. Aber wir in die Situation der baltischen Staaten geraten, die anscheinend nie anerkannt worden sind, , aber de facto heute alle anerkennen. De jure waren sie nie anerkannt worden, sie war dann aber in irgendeinem Dokument von .. doch festgelegt.
Sie sind damit Meinung, dass der Helsinki-Prozesse heute eigentlich zerstört ist?
Zu ihrer Förderung wurde damals auch die OSZE zur Überwachung bei Konflikten gegründet. Heute müssen wir aber sagen, dass diese zu einer Geisel Russlands geworden ist.
Was heisst dies für Sie?
Ich glaube, dass die Helsinki-Bewegung heute tatsächlich begraben ist, weil Putin niemals die Rolle von Breschnew spielen wird. Putin wird keine Versprechungen machen, er wird nicht den Friedensstifter spielen. Ich glaube einfach nicht, dass Breschnew für ihn ein Vorbild ist. Er wird anders handeln, stalinistisch, er wird ein Jalta 2 anstreben, und damit Russlands Übermacht. Er wird sagen:
"Ich werde mein Recht, gehört zu werden,
energisch durchsetzen.
Wir werden die Welt mit euch teilen."
Es wird wohl so sein, wie Sie gesagt haben.
Ich habe den Eindruck, Putin will ein Stalin sein, aber in Wirklichkeit ist er nur ein Breschnew. Ich denke die ganze Zeit darüber nach, denn sein Regime ist ein völlig gerontologischer Organismus. Die Leute um ihn herum, die ganze sogenannte russische Elite, sind sehr alte Leute. Und sie haben keine Regelung der Nachfolge.
Die Rolle der Religionen
Wie können wir den Dialog zwischen den Religionen aufbauen?
In der Tat hat die Ukraine bereits fantastische Errungenschaften vorzuweisen, die in der Welt nicht oft vorhanden sind. Ich meine zum Beispiel, dass unsere Erfahrung im christlich-muslimischen Dialog in der Ukraine zwischen Krimtataren und Ukrainern eine große Anerkennung verdient hätte. Ich jedenfalls zolle ich den Krimtataren sogar noch mehr Respekt. In jener Zeit, als Mustafa Dschemiljew den Grundsatz der Gewaltlosigkeit für sein krimtatarischen Volkes akzeptierte, prägte er seinen Geist bis heute. Deshalb gehören sie heute für mich zu den großen Europäern
- Mustafa Dschemiljew: ukrainischer Politiker und seit 1998 prowestlicher Abgeordneter im ukrainischen Parlament. Als Dissident in der Sowjetunion setzte er sich bis zu ihrem Ende 1991 für Menschenrechte und insbesondere die Belange seiner 1944 nach Zentralasien zwangsumgesiedelten Volksgruppe der Krimtataren ein. Nach der Annexion der Krim 2014 durch Russland wurde Dschemiljew die Einreise auf die Krim für fünf Jahre verweigert.
Diese Erfahrung der Zusammenarbeit,
einer Art Koexistenz,
ja sogar einer Partnerschaft,
ist sehr wichtig.
Ich besuche oft das islamische Zentrum in Lwiw. Ich werde sehr gut aufgenommen, und die Stimme der Muslime wird bei uns auch sehr gut aufgenommen. Es lohnt sich also, sie zu sehen und zu würdigen.
Der zweite Punkt, den ich erwähnen möchte, ist die Bereitschaft zur Partnerschaft, zur Zusammenarbeit an der Basis der Gläubigen. Ich habe zum Beispiel persönlich eine sehr gute Zusammenarbeit erlebt, als wir als eine Gruppe von Christen aller drei Konfessionen in der Ukraine ein Dokument mit dem Titel "Sehnsucht nach Wahrheit, die befreit" vorbereitet haben. Ich war der Initiator, aber ich habe gesehen, wie gerne alle anderen mitgemacht haben.
Niemand sagte, ich bin griechisch-katholisch,
orthodox oder protestantisch.
Es spielte einfach keine Rolle.
Alle waren sich einig, dass das Thema der Postwahrheit, das Thema der falschen Angriffe auf die Wahrheit, ein Problem ist, das alle Religionen, alle Menschen betrifft.
Und noch einmal, wird dies auch in der Welt wahrgenommen?
Obwohl wir dieses Dokument übersetzt haben, wurde es im Ausland kaum beachtet, aber in diesem Fall geht es mir nicht um den Ruhm der Unterzeichner, sondern um die Bewertung des Phänomens, d. h. die Ukraine hat tatsächlich ein großes Potenzial. Was die interreligiöse Zusammenarbeit angeht, so hat der Maidan sie gerade hervorgehoben. Ich weiß nicht, ob wir noch Zeit haben, aber nach der "Orangenen Revolution", ich gerate etwas durcheinanderzukommen, was alle diese Revolutionen angeht, ich sage es vorsichtig, erhielt ich eine Anfrage von meinen westlichen christlichen Partnern, ein Treffen für eine Delegation von „Kirche in Not“, einer christlichen Organisation in Europa, in Kyjiw zu organisieren, für Leitungspersonen aus den verschiedenen Konfessionen. Ich fing also an, mich vorzubereiten und dachte darüber nach, welche Argumente ich verwenden würde, um Angriffe auf diese interreligiöse Veranstaltung oder irgendeine Art von Misstrauen zurückzudrängen, was sollte ich dann tun?
Es stellte sich heraus, dass alle meine Sorgen über dieses Treffen nicht notwendig gewesen waren, als wir über die Aufgabe unseres gemeinsamen Einsatzes für die Einhaltung der Menschenrechte usw. gesprochen haben.
Da zeigte sich wirklich,
wie sehr sich seit dem Maidanganz allgemein
die Bereitschaft zur gegenseitigen Zusammenarbeit
in der Ukraine verändert hatte.
Ich meine, dies ist heute einer der größten Verdienste des Maidans bei uns heute ist, dass sie damals die die innere Bereitschaft der ukrainischen Gesellschaft, dass sie die Bedeutung der gegenseitigen Zusammenarbeit hervorgehoben hat.
Vielleicht eine letzte Frage, lassen Sie uns mit dieser abschließen. Kürzlich, am 1. Dezember, veröffentlichte diese Gruppe das Dokument: "Werte in Zeiten des Krieges". Wir haben ihn gemeinsam mit Ihnen geschrieben, aber ich denke, Sie sind immer noch der Hauptautor. Was ist wichtig, um zu verstehen, wie sich die Werte im Krieg verändern?
Ich würde sagen, es sind nicht die Werte selbst, die sich verändern, sondern es ist unsere Wahrnehmung dieser Werte, die sich verändert, oder unsere Fähigkeit, sie im wirklichen Leben anzuwenden und in Übereinstimmung mit ihnen zu leben. Ich bin immer sehr vorsichtig, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich neue Werte fordere.
Wir müssen zurückgehen zu ad fontes,
zur Grundlage der menschlichen Zivilisation,
dem Dekalog. Das ist alles,
wir brauchen nichts anderes zu erfinden.
Aber die Interpretation des Dekalogs, die Interpretation der Werte, die in unserer menschlichen DNA stecken, das ist etwas ganz anderes.
Was bedeutet also die Wahrheit heute, wenn sie auf die ukrainische geopolitische Existenz angewandt wird? Wie können wir unsere Beziehungen zum Westen und zu Russland aufbauen, damit wir sagen können, dass wir an der Wahrheit und an den entsprechenden Werten festhalten? Hier wird doch die Anwendung dieser Werte in sehr realen Situationen bei uns getestet.
Ja, vieles muss neu überdacht werden, denn diese naiven Werte der westlichen Welt, dass Frieden als selbstverständlich angesehen wird, dass Friedenswerte auf ein Land im Krieg angewendet werden, dass das Konzept einer Demokratie im Frieden einer Demokratie im Krieg nicht aufgezwungen werden kann, dass ein solcher, vielleicht naiver Individualismus aus Friedenszeiten, einer Demokratie im Krieg aufgezwungen werden kann.
Mir scheint, dass die Stärke der Ukraine heute in gewissem Maße darin liegt, dass sie der Beginn eines Gesprächs über diese universellen Werte ist, und diese trotz des Krieges bei uns allen nicht verschwinden, sondern irgendwie dennoch zum Tragen kommen, vielleicht in anderen Farben. Für mich spielen die Worte von Benjamin Franklin eine ganz entscheidende Rolle in meiner Weltanschauung:
"Wer für eine vorübergehende Sicherheit auf Freiheit verzichtet,
verdient weder Freiheit noch Sicherheit".
Wobei ich dann das Wort Freiheit einfach durch Werte ersetze, denn Freiheit ist nur einer der Werte. Es ist keine Wahnvorstellung, wenn dieser Satz auch besagt, dass der heutige Westen dabei so uneins geworden ist, keine ihre Werte nicht mehr kennt. Deren Folgen zeigen sich bereits deutlich, wenn der Westen dieses Dilemma zwischen Werten und Sicherheit zugunsten der Sicherheit aufzulösen beginnt. Der Westen ist bereit, bestimme seiner Werte zu opfern, sie einfach beiseitezulegen und zu sagen: "
"Okay, wir geben nicht auf.
Aber ihr müsst nun einfach
auf die von Russland eroberten Gebiete verzichten,
zu Gunsten eurer Sicherheit."
"Eigentlich widerspricht es unseren Werten, aber wir können den Konflikt nicht anders einfrieren. Die Lösung müssen wir auf später verschieben."
Und nun zur Wahrheit. Diejenigen, die so denken, sind nicht bereit und verdienen es auch nicht, weder die Werte der Wahrheit noch der Sicherheit. Sie werden auf diesem Weg weder das eine noch das andere erreichen.
Wenn der Wert der Sicherheit
auf Kosten der Wahrheit geht,
wird diese nur sehr kurzlebig sein
und später vielleichtnoch
zu einer größeren Tragödie führen.
Ja, dem kann ich nur zustimmen. - Myroslaw Marynowytsch, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Sie haben Cult gehört, einen Podcast über Kultur. Sie waren bei seinem Co-Autor, dem Philosophen Wolodymyr Yermolenko. Vielen Dank fürs Zuhören. Ruhm für die Ukraine!
Die Erklärungen zu Persönlichkeiten, die im Westen kaum bekannt sind, sind nähere Angaben vor allem aus Wikipedia hinzugefügt (deutsche und ukrainische Version). Bilder dazu hier am Ende, inklusive Link zum Orginal des Podcast.
Bilder der erwähnten Menschenrechtler
Henryk Altunyan - Vladimir Bukowski - Alexander Podrabinek - Oksana Meschko - Joef Zissels - Michail Cheifez - Aryeh Woodka - Zenoviy Krasivskyi - Andrej Scheptyzky - Iwan Dzyuba - Mustafa Dschemiljew
Das universum hinter dem stacheldraht - memoiren von myroslaw Marynowitscn

Myroslaw Marynowytsch, 1949 im ukrainischen Dorf Komarowytschi nahe Lwiw geboren, ist ukrainischer Menschenrechtsaktivist, Mitbegründer der ukrainischen Helsinki-Gruppe, politischer Gefangener, später Präsident und jetzt Ehrenpräsident der ukrainischen Vereinigung von Amnesty International und Ehrenpräsident des ukrainischen PEN-Zentrums sowie Träger des Ordens der Freiheit der Ukraine und zahlreicher anderer Ehrungen. Er arbeitet als Publizist sowie Religionswissenschaftler und Vizerektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw.
Wegen seiner Mitarbeit in der ukrainischen Helsinki-Menschenrechtsgruppe wurde Marynowytsch während der Breschnew-Ära sieben Jahre als Dissident in einem Arbeitslager inhaftiert und zwangsweise für drei Jahre ins Exil nach Kasachstan geschickt. Die Gruppe war die erste legale, nicht im Untergrund agierende Gruppe der Widerstandsbewegung, welche die Menschenrechtsituation in der Ukraine während der Sowjetzeit an die Öffentlichkeit brachte. Myroslaw Marynowytsch wuchs in einer eng verbundenen galizischen Familie auf, absolvierte die sowjetische Schule und studierte Elektrotechnik am Polytechnikum in Lwiw. All dies spielte auch eine wichtige Rolle bei seiner Entwicklung in Richtung Widerstand gegen das totalitäre Regime.
Authentisch, bewegend und offen erzählt er vom Leben im sowjetischen Kyjiw während der Zeit der Helsinki-Bewegung, von den Aktivitäten der ukrainischen Gruppe, von der Überwachung durch den KGB, von ungerechtfertigten Verhaftungen und der ungerechten sowjetischen Justiz. Er berichtet ausführlich über das Leben im Lager für politische Gefangene »Perm-36« und beschreibt die Umstände seiner anschließenden Verbannung. Er widmet dem spirituellen Wachstum eines Menschen in einer Extremsituation große Aufmerksamkeit, gibt faszinierende Einblicke in seine Gedanken zum Dissidententum und zum Wesen des Totalitarismus. Zuletzt fällt er sein Urteil über das kommunistische System – auch angesichts des Krieges von Russland gegen die Ukraine, der mit der Annexion der Krim im Februar 2014 begann, am 24. Februar 2022 mit einer umfassenden Invasion fortgesetzt wurde und immer noch andauert. Das Buch endet zudem mit zukunftsweisenden Überlegungen über den Krieg hinaus.
Das Buch ist ist die unglaubliche Geschichte eines Menschen und seines Mutes, nicht einfach wie fast alle zu resignieren vor den herrschenden Zuständen: damals der Kommunismus mit seiner völliger Überwachung der Bevölkerung, der Fremdsteuerung durch Moskau, der Verhinderung elementarer Menschenrechte wie Glaubens- und Meinungsfreiheit, einer freien Presse und einer freien Wirtschaft (nicht einmal eigene Bauernbetriebe oder Gewerbebetriebe waren in der Ukraine möglich). Die Bevölkerung sollte «entukrainisiert» werden bzw. russifiziert. Einmal mehr in der Geschichte war man als Ukrainer ein Mensch «zweiter Klasse» (oder noch weniger).
Myroslaw Marynowytsch schluckte das alles nicht und gründete, nachdem Breschnew die Helsinki-Erklärung zur Wahrung der Menschenrechte unterschrieben hatte, zusammen mit neun weiteren mutigen Leuten eine ukrainische Helsinki-Gruppe. Sie wollten so die Einhaltung anmahnen. Sie wussten auch um den Preis. Alle wurden verurteilt, landeten im Straflager für «besonders Gefährliche» und in der Verbannung. Doch seine Familie hielt zu ihm und ebenso die Frau, die ihn heiratete, was für ihn unter diesen Umständen nicht selbstverständlich war.
Heute ist er eine starke Stimme in der Ukraine und weit darüber hinaus. So konnte er den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter treffen und ihm persönlich für seine damalige Initiative für die Menschenrechte danken, aber auch den polnischen Papst Johannes II und den heutigen Papst Franziskus.
Seine Memoiren sind authentisch und ungeschönt offen. Trotz allem zeigt er immer wieder seinen für ihn typischen Humor. Er verfügt zwar über keinen Doktortitel, den er problemlos geschafft hätte – für ihn sind seine Erfahrungen durch das Leiden und die unerwartete persönliche Begegnung mit Gott mehr als genug.
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Bilder aus Archiv MyroslaW Marynowytsch
Myroslaw Marynowytsch als junger Mann - Stacheldraht des Straflagers für besonders Gefährliche Perm 36 - Lagerbaracken - Toilette in Strafzelle - Isolierzelle - Myroslaw Marynwytsch mit seiner Frau Ljuba Heina - Myroslaw Marynowytsch dankt Jimmi Carter - Besuch bei Ronald Reagan - Audienz bei Papst Johannes Paul II
Zu Besuch bei Myroslaw und Ljuba Marynowytsch (April 2024)
Myroslaw und Ljuba mit Pflegesohn Mikhailo Heina - Ich bekleidete mich für sie besonders mit einem ukrainischen Hemd mit Stickerei - Ljuba zeigt das Buch, das sie über ihren Mann geschrieben hat - Myroslaw mit witziger Geste: Er zeigt das Buch, das er über seine Frau geschrieben hat - Campus der Katholischen Universität Lwiw (sein Lebenswerk) - Im Zentrum die Kirche (Aussen- und Innenansicht) - Fotos der Studierenden, die im Krieg bereits getötet wurden - Sein Büro an der Universität - Gedenkstelle für die "Himmlischen Hundert" (den Menschen, die im Volksaufstand auf dem Maidan 2024 erschossen wurden) - Mensa der Universität
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