
Skript einer Lehrveranstaltung des Philosophen Wolodymyr Jermolenko in Kyjiw, übersetzt mit Deepl-Translator und bearbeitet von Max Hartmann.
Foto: "Ukraine verstehen": https://ukraineverstehen.de/wolodymyr-jermolenko-philosoph-und-ukraine-erklaerer/
Vielen Dank an unsere Gäste, die in die Ukraine gekommen sind. Eure physische Anwesenheit ist sehr wertvoll für uns. Man kann die Menschen nicht verstehen, wenn man nicht zu ihnen geht, mit ihnen spricht und sie zu verstehen versucht. Ich selbst betrachte mich wie einer unserer großen ukrainischen Denker des 18. Jahrhunderts als wandernder Philosophen, der nicht in seinem Zimmer sitzt, sondern von Stadt zu Stadt geht und mit den Leuten über seine Gedanken spricht.
Nach meinem Vortrag werde ich gemeine ich gemeinsam mit den Süden unseres Landes reisen. Morgen werden wir in Cherson sein, einer großen Stadt, die 2022 ganze acht Monate lang von den Russen besetzt war und beidseits des Flusses Dnipro liegt. Die Russen sind dort an den Ufern der anderen Seite nur ca. 5 Kilometer entfernt und beschießen die Stadt ständig. In dieser Situation leben zu müssen, ist ziemlich gefährlich. Aber die Leute bleiben trotzdem und versuchen, ein möglichst normales Leben zu leben. Wenn wir immer wieder zu ihnen kommen, bedeutet nur schon unsere Anwesenheit für sie eine Unterstützung. Diesmal werden wir dem Militär Bücher bringen. Normalerweise bringen wir ihnen Autos. Seit Beginn des groß angelegten Krieges haben wir mehr als 40 Autos unseren Soldaten gebracht. Wir fahren jeden Monat mehrmals nach Cherson mit Hilfsgütern. Jeder von uns war wohl schon drei bis vier Monate lang dort, wenn alle ihre Tage zusammenzählen. Und dies, obwohl ich zum Beispiel auch drei Kinder habe, worum ich mich kümmern sollte. Der Schulunterricht in unserer Kriegszeit ist übrigens auch eine interessante Sache, die wir genießen sollten. Nun, das habe ich natürlich etwas sarkastisch gemeint, weil wir dauernd mit Luftalarmen zurechtkommen müssen. Trotzdem geht der Unterricht irgendwie normal weiter, wenn auch nicht an den gewohnten Orten.
Die globale Bedeutung dieses Krieges
Ich möchte euch einiges zur globalen Bedeutung unseres Krieges erzählen. Das Schlüsselwort, das ich dabei verwenden werde, heißt «reaktionär» (an eigentlich nicht mehr zeitgemäßen Verhältnissen festhalten). Ich meine damit, dass wir so etwas wie "Gefangene" sind. Die Idee, dass die Demokratien immer gewinnen wird, ist unser Gefängnis. Ich respektiere Francisco Fukuyama wirklich sehr. Er kommt auch sehr oft zu uns. Ich respektiere seine Bücher wirklich, aber ich denke, dass sein Buch „Das Ende der Geschichte“ irgendwie falsch interpretiert und missverstanden wird. Aber es gibt dieses Meme vom Ende der Geschichte und vom Sieg der liberalen Demokratien, das irgendwie aktuell ist und ich glaube, dass wir immer noch irgendwie Gefangene davon sind. Deshalb glauben wir nach wie vor, dass bestehende Imperien oder neue Imperien in unserer Zeit eine Art Missverständnis sind, das früher oder später ganz verschwinden wird, da sich unsere Demokratie als stärker erweist.
Ich persönlich denke, dass dies nicht auch der Fall sein wird. Für mich ist eines der Schlüsselelemente des Denkens unserer antiken Philosophen von Aristoteles bis zu den modernen Philosophen die Idee der Demokratie. Heute sehen wir aber auch, dass die Demokratie an so manchen Orten sehr zerbrechlich sind. Es gibt etwas auf der Welt, das sich ihr an so manchen Orten entgegensetzt. Für uns bedeutet es eine Rückkehr der alten Machtvorstellungen.
Viele der heutigen Demokratien sind schwach geworden, weil die Menschen in den Demokratien oder Republiken, in der sie sich entwickelt haben, ihre Freiheit als einfach selbstverständlich ansehen. Sie betrachten ihre Freiheit als wie eine Ware, die sie einfach genießen, aber nicht dafür kämpfen wollen. In einem bestimmten Moment der Entwicklung sind manche Leute irgendwie enttäuscht vom Überfluss an Freiheit, die heute auf dem Markt für sie vorhanden ist. Manche beginnen deshalb, bestimmte Tyrannen zu unterstützen, diese neuartigen Tyrannen, die es heute gibt und den Leuten in ihrer Unzufriedenheit sagen: „Okay, wir werden das für euch regeln.“
Es ist erstaunlich, wie die Krise der Demokratie, die wir heute in fast allen demokratischen Staaten erleben, uns dasselbe zeigt, was früher einmal aus denselben Gründen zum Faschismus und Nationalsozialismus führte.
Dieselbe Entwicklung habe ich auch in unserer Rezeption der antiken Philosophien vor 2000 Jahren gesehen und darauf aufmerksam gemacht, dass es wichtig wäre, dass wir heute auch das Konzept der Imperialismus verstehen, weil wir in einer Utopie leben, die typisch für das 20. Jahrhundert ist und den Prozess der De-Kolonisierung und De-Imperialisierung für abgeschlossen halten.
Es gibt zwei Probleme im Blick auf die Demokratie. Natürlich kennen wir alle die Geschichte des 20. Jahrhunderts, als europäischen Imperien, die im 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert entstanden sind, zusammenbrachen. Zuerst geschah es in Spanien und in Portugal, dann im Osmanischen Reich und im Deutschen Reich und schließlich auch in den als maritim zu bezeichnenden Imperien wie Frankreich und Großbritannien, den Niederlanden und Belgien mit ihren Kolonien.
Ich betrachte es als den ersten Fehler, dass wir glauben, dieser Prozess (De-Kolonisierung und De-Imperialisierung) wäre heute mehr oder weniger abgeschlossen. Es ist aber nur die eine Seite der Geschichte, und dieser Seite fehlt der Blick auf die andere Seite der Geschichte von Russland und die heutige Entwicklung.
Die zweite Sache ist, dass die Interpretation der großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts wie etwa die Geschichte des Zweiten Weltkriegs sehr einseitig gesehen wurde, nur diejenige Seite, was der Zweite Weltkrieg für den Mainstream in Europa und Deutschland bedeutet hat, es dabei um den deutschen Imperialismus geht und um den Nationalsozialismus und so weiter.
Drittens ist es eine Illusion, dass die Entkolonialisierung ein natürlicher Prozess wäre. Man hatte früher seine Imperien, dann aber kam die Entkolonialisierung.
Nun, wir müssen heute sicher auch die Probleme in den heutigen Demokratien sehen, aber sie sind immer noch Demokratien. Beschäftigen wir uns also mit ihnen.
Wenn wir ihre Geschichte betrachten, lässt sich daraus keine allgemeingültige Regel ableiten, aber wir sehen heute wieder denselben Trend, wie es früher immer wieder geschah: Wenn ein Imperium verschwindet, entsteht ein neues Imperium, das sich wieder andere Gebiete gebieten will. Ich nenne diese Erscheinung Re-Imperialisierung. Wenn wir uns die Geschichte des 21. Jahrhunderts ansehen, spricht sehr vieles dafür.
Wir stehen heute sozusagen an einem Scheideweg. Wir können uns zwar noch versichern, dass die Idee von Fukuyama nach wie vor gültig ist, dass sich die liberalen Demokratien nach wie vor auf einer Art Expansionskurs befinden. Es ist immer noch möglich, an die Demokratie zu glauben, und die Existenz der Ukraine beweist es.
Wir sehen aber auch ein anderes, sehr düsteres Bild, in dem wir im 21. Jahrhundert die Rückkehr alter Imperien und die Entstehung neuer Imperien sehen müssen. Dabei denken wohl alle zuerst an China und die Art und Weise, wie dieses große Land die Welt kolonisiert. Doch Russland möchte in diesem Spiel auch ein guter Akteur sein.
Die Geschichte Russlands lehrt uns zwei Dinge, die wir beachten sollten: Die erste Tatsache ist, dass Russland sich immer wieder als Imperium neu erfindet und ihre alten Ideen aufgreift, die schon früher in seiner Geschichte populär waren. Wie zum Beispiel, wenn wir uns einmal das Moskauer Reich des 16. Jahrhunderts ansehen, wo wir ein erstes Mal die russische Expansion sehen können, als Iwan der Schreckliche das Khanat von Kazan eroberte und weitere Khanate. Dann wurde Sibirien erobert bis hin zum Pazifik. Dieser Moskauer Imperialismus lässt sich als etwas verstehen, dass dieser eigentlich das Erbe der "Goldenen Horde" des zerbrochenen Mongolischen Reiches antritt. Das Moskauer Reich war zuvor in Teil davon und übernahm nun nach und bis ins 18. Jahrhundert seine Überrest. Katharina II. übernahm auch das Krim-Khanat, was sozusagen für uns die erste Annexion der Krim durch den Kremlimperialismus und das Russische Reich bedeutete, immer noch als eine Art Wiederherstellung des mongolischen Reiches der «Goldenen Horde» als eines der mächtigsten Reiche im Mittelalter.
Dieselbe Geschichte sehen wir, wenn ich noch über früher nachdenke, bereits im Römischem Reich, das dann teilweise zusammenbrach, aber als neues Imperium in Byzanz weiterlebte. Byzanz wurde aber schon bald von anderen Imperialisten herausgefordert, von den Türken und den Osmanen. Die Osmanen wäre es möglich gewesen, dass sie uns vielleicht gezeigt hätten, wie Imperien nach dem Zusammenbruch sich in gute Republiken umwandeln, richtig?
Es ist also durchaus möglich, dass beim Zusammenbruch von Imperien die alten Imperien irgendwann Rache ausüben. Wenn wir alle diese Dinge für uns in die heutige Zeit projizieren, welches Resultat ergibt sich dann für unsere Zukunft? Wird das 21. Jahrhundert also wieder ein Jahrhundert der Re-Imperialisierung und nicht der De-Imperialisierung werden?
Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, können wir sicher sein, dass wir im 21. Jahrhundert eine Welt der Re-Imperialisierung erleben werden. Wenn Russland diesen Krieg mit seiner alten Idee gewinnt, gegen die sich die Ukraine als Republik und Demokratie wehrt, werden wir ihre Welt haben. In dieser Welt möchte ich aber, ehrlich gesagt, nicht leben müssen.
Es gibt dazu auch eine Diskussion mit dem, was wir den globalen Süden nennen. Viele Menschen im globalen Süden, viele prominente Redner von dort sagen uns immer wieder: «Okay, wir verstehen auch. Aber wir kämpfen nicht gegen euren russischen Imperialismus. Wir kämpfen gegen den europäischen Imperialismus und den nordamerikanischen Imperialismus, diese Dinge.» Ich frage sie dann: «Okay, ich verstehe euch auch. Aber welche Vorstellung habt ihr denn? Ihr seid doch auch irgendwie mit dieser demokratisch-republikanischen Tradition verbunden. Lasst uns darüber nachdenken, was der westliche Imperialismus für euch bedeutet hat, der heute endlich am Verschwinden ist. Wir sehen heute aber bei euch einen anderen Imperialismus, der den alten ersetzt, den neuen chinesischen Imperialismus und den russischen. Ist das für euch denn besser?»
Ich glaube, diese Diskussion fehlt weitgehend in der globalen Welt. Das ist ein Thema, das den sogenannten globalen Norden und den globalen Süden auch mit dem globalen Norden vereinen und wir zu einer echten De-Imperialisierung im 21. Jahrhundert voranschreiten können, damit wir einen neuen Imperialismus verhindern können, wenn wir realisieren, dass in der Geschichte der Sieg von Republiken über Imperien eine Chance ist.
Das zweite, was ich sagen will, ist, dass es eine bestimmte Art der Fehlinterpretation des 20. Jahrhunderts gibt, oder besser gesagt, sind es unterschiedliche Interpretationen dessen, was das Ende des Zweiten Weltkrieges im 20. Jahrhundert für die Menschen in Ost- und Westeuropa mit Nordamerika bedeutet.
Für die gesamte westliche Welt war das Ende des Zweiten Weltkriegs ein Sieg des Guten gegen das Böse, während es für Osteuropa ein Sieg eines Bösen gegen ein anderes Böses war. Das ist eine sehr wichtige Sache, die wir alle verstehen sollten, dass es im Osten nur der Sieg eines Bösen war, der Sieg des Stalinismus bzw. der stalinistischen Version des Kommunismus gegen den Nationalsozialismus und damit die Stärkung des Stalinismus und durch des Stalinismus des alten russischen Imperialismus.
Im Grunde genommen müssen wir das, was nach dem Ersten Weltkrieg mit Russland geschah, als Beginn einer neuen imperialistischen Phase in seiner Geschichte betrachten, nach seinem Höhepunkt im Russischen Reiches des 19. Jahrhunderts und seiner damaligen europäischen Präsenz. Russland im 19. Jahrhundert hatte die Macht über Polen und Finnland. Die ukrainische Frage war damals noch sehr klein, die Schlüsselfrage war damals Polen, die polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert. Somit könnte man die Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg als Beginn einer Zeit der Ent-Imperialisierung Russlands ansehen, in der Bildung der Sowjetunion, die ein sehr kniffliger Kompromiss war, den Stalin 1930 dann mit seinen massiven Repressionen, dem Holodomor und vielen anderen Gewalttaten zu überwinden versuchte.
Aber im Grunde führte das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs dazu, dass der russische Imperialismus bald wieder zurückkam, als Russland wieder stärker wurde. Für den Westen war der 2. Weltkrieg gewonnen und damit das absolut Böse besiegt, der Nationalsozialismus endlich überwunden. Und Deutschland bereute sein größtes Verbrechen, den Holocaust.
Für die Osteuropäer ist das alles natürlich auch gültig. Der Nationalsozialismus und der Holocaust waren auch für uns eine riesige Tragödie. Aber für uns war die Gefahr damit nicht vorbei. Nach dem Krieg folgte für uns ein weiterer Teil einer furchtbaren Geschichte.
Im Westen fehlt die Betrachtung dieser weiteren Geschichte. Für uns und Russland war, ehrlich gesagt, der 2. Weltkrieg noch nicht vorbei. Es gab eine weitere schreckliche Geschichte. Wenn wir uns diese ganze Sache in Bezug auf die moralische Frage ansehen, dass wir gegen das Böse kämpfen sollten, ist es offensichtlich, dass uns dieses Übel heute wieder im totalitär gewordenen Russland begegnet.
Ich weiß, dass das Konzept des Bösen für viele von euch sehr problematisch erscheint. Viele kritisieren mich deswegen auch, aber ich bestehe darauf, dass diese Sache wichtig ist. Eine andere Sache, die sehr wichtig ist, ist für mich die Tatsache, dass die Natur des russischen Imperialismus sehr oft missverstanden wird, weil wir ihn aus der Perspektive des maritimen westlichen Imperialismus betrachten, der im Ersten Weltkrieg gewonnen hatte.
Das ist das Thema von Timothy Snyder. Es ist ein sehr interessantes Argument, dass im Ersten Weltkrieg im Grunde genommen die maritimen Reiche wie Großbritannien und Frankreich gewonnen haben, während die Landreiche wie Deutschland, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und das Russische Reich verloren. Ich denke, dass dies dazu geführt hat, dass die Menschen vergessen haben, dass es auch die Logik des Landimperialismus gibt, die sich von der Logik des Seeimperialismus der maritimen Reiche deutlich unterscheidet. Und zweitens, dass man den Zweiten Weltkrieg immer auch als einen Versuch imperialer Rache sowohl von deutscher als auch von russischer Seite betrachten kann. Gerade weil die Deutschen verloren haben, neigen wir dazu, wie gesagt, den Zweiten Weltkrieg nur durch die Augen des deutschen Nazi-Imperialismus und nicht durch die Augen des russischen Imperialismus zu betrachten, was übrigens okay ist, aber es ist ein wichtiger Unterschied.
Was ist also der Unterschied zwischen Seeimperien und Landimperien? Ich werde nun die entsprechenden Ideen beschreiben und dann sagen, dass wir sie natürlich nie in ihrer reinen Form finden werden, da sie immer irgendwie Hybriden sind. Der Unterschied besteht darin, dass man in maritimen Imperien die entfernten Völker kolonisierte und der Kolonisator zu den Kolonisierten sagte, dass ihr anders seid als wir, und dass dieser Unterschied nicht überwunden werden kann, sodass ihr immer anders sein bleibt als ich.
Diese Erscheinung zeigte sich deutlich im späteren 19. Jahrhundert, als in Europa die ersten Rassentheorien aufkamen, vor allem in Frankreich und Großbritannien, und diese sich dann auch in Deutschland und anderen Orten verbreiteten. Typisch für diese Art der Kolonisierung ist besonders Afrika. Es bedeutet Rassismus, wenn du einem anderen sagst: «Du hast eine andere Hautfarbe als ich. Also müssen wir verstehen: «Du wirst immer anders sein als ich, wirst nie so sein wie ich.» Dieser Unterschied bedeutet eine Hierarchie: "Ich stehe höher als du, und deshalb darf ich über dir herrschen." Das ist die Logik des rassistischen maritimen Imperialismus.
Die Logik des Landimperialismus geht dagegen gerade anders. Wir sehen es besonders deutlich am Beispiel der Beziehung von Russland und der Ukraine. Die Logik des Landimperialismus bedeutet: Ich kolonisiere mir eigentlich mir sehr nahe Menschen und nahe Nationen: «Du siehst aus wie ich auch, und du sprichst auch eine mir ähnliche Sprache. Also gehören wir zusammen.» Das sagt dieser Kolonisator den Leuten, über die er herrschen will. «Du bist wie ich. Also kannst du gar nicht jemand anders sein, du kannst nur zu mir gehören.» Das Werkzeug meiner Herrschaft über andere ist damit nicht die Idee eines Unterschieds, sondern die Idee der Gleichheit. Diese Ideologie ist sehr wichtig, wenn wir uns die Geschichte der Beziehung von Russland und die Ukraine ansehen.
Ich habe bereits gesagt, dass es natürlich auch Mischformen gibt. Der britische Imperialismus in Bezug auf Amerika im späten 18. Jahrhundert ist wahrscheinlich einer dieser Hybriden, also ein maritimer Imperialismus, aber gleichzeitig wohl auch mit der Logik der Gleichheit verbunden. Andere wissen diese Dinge besser als ich, aber nehmen wir zum Beispiel einmal den Nationalsozialismus und das, was Hitler tat. Er sagte: «Ihr Juden seid nicht Europäer, ihr seid Semiten, stammt aus Asien. Ihr seid damit immer anders als wir und ihr könnt nie so sein wie wir. Ihr könnt noch so sehr versuchen, euch an uns zu assimilieren, euch bei uns zu integrieren, unsere Sprache zu sprechen und wie wir auszusehen. Ihr gehört einfach nicht hierher." Er sah die Aufgabe der Nazis darin, die Juden in ihrem Versuch der Integration zurückzudrängen, um diese für ihn natürliche Distanz zur deutschen Bevölkerung wiederherzustellen. Zuerst hatten die Nazis dann die Idee, die Juden irgendwohin wegzubringen, nach Madagaskar oder sonst wohin, und dann kam die fürchterliche Idee der «Endlösung der Judenfrage» und damit die Vernichtung aller Juden.
Die Logik der Russen gegenüber den Ukrainern ist eine andere. Ihre Logik ist anders als bei den Nazis zu den Juden: «Nicht: Ihr seid anders als wir, wollt aber wie wir sein. Nein, das geht nicht: Ihr werdet nie gleich wie wir sein. Ihr könnte noch so sehr versuchen, euch an uns zu assimilieren, dieselbe Sprache zu reden und wie wir auszusehen. Ihr alle seid Semiten, stammt aus Asien und gehört nicht hierher.» Der Grund zum Rassismus ist hier nicht die Logik einer fehlenden Assimilation. Das ist, so glaube ich, der entscheidende Punkt, der oft nicht verstanden wird.
Die andere Logik wird irgendwie nicht verstanden, weil Russland bei euch im Westen als Nation wie andere wahrgenommen wird. Russland ist aber keine Nation. Russland ist ein Imperium, das andere Völker, andere Nationen immer wieder kolonisierte und weiter kolonisieren will. Wir sehen es, wenn wir zum Beispiel das Verhalten gegenüber Zentralasien, dem Kaukasus oder anderen Gebieten ansehen.
Damit schließe ich ab und möchte nochmals auf meinen ersten Punkt zurückkommen, nämlich die Art, wie wir die russische Geschichte lesen sollten, nämlich so, wie ich ein Imperium definiere: Ein Imperium ist etwas, das ein einziges Zentrum hat, aber keine festen Grenzen. Dieses Verständnis ist der Unterschied zur Idee einer Republik. Ich verwende den Begriff Republik nicht in eurem amerikanischen Kontext, ich verwende bei mir die Idee der republikanischen Demokratie meistens als Synonym für eine gute Staatsidee, aber mit einigen Unterschieden, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Aber die Idee der Republik (die eine lateinische Übersetzung des griechischen Begriffs "Politeia") ist es, dass eine Nation Grenzen kennt und mehre Zentren und nicht expandieren will.
Wenn man sich die russische Geschichte ansieht, liegt das Problem schon bei der Gründung des Staates. Er wurde nicht in Kyjiw oder anderswo gegründet. Es geschah in der Zeit, als das mongolische Imperium gestürzt wurde und das das neue russische Reich zum Schlüsselakteur in der Nachfolge wurde. Dies geschah im 15. und früheren 16. Jahrhundert, als Russland entstand. Danach begannen die Zaren sofort, ihr Reich zu erweitern, bis an den Pazifik und die Grenzen von China.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts geschah bei uns dann das, wofür das Bohdan Chmelnyzkyj- Denkmal steht, der Aufstand gegen die polnische Herrschaft und damit verbunden die Hinwendung zu Moskau. Die Ukraine wählte damals die falsche Schutzmacht, was sich sehr schlecht auf unsere Geschichte auswirkte.
Damals expandierte das Moskauer Reich bis zum Pazifik. Dieser unglaubliche Machtgewinn schuf im russischen Geist die Ideologie, «Russland hat keine Grenzen, unser Russland soll immer größer werden, und auch unser politischer Einfluss soll weltweit immer größer werden». Diese Idee der russischen Welt, die Idee des Eurasianismus, ist heute die dominante Ideologie in Russland. In dieser Vorstellung kennt Russland mit seiner Zivilisation keine Grenzen und kann ungehemmt in andere Länder einmarschieren, weil dort etwa Teile der Bevölkerung Russisch sprechen oder was alles an anderen Gründen dann angegeben wird. Die russische Angst ist es, dass sie sich kein Reich mit festen Grenzen vorstellen können, weil sie ihren Imperialismus nicht aufgeben wollen und sich Russland nicht wie die anderen europäischen Nationen als Nationalstaat vorstellen können; aus der Angst, Russland würde dann schrumpfen, an Territorium und Macht verlieren, wenn es seinen Einfluss nicht mehr erweitern kann. Diese Idee ist bis heute bei den meisten Russen allgemein anerkannt.
Aber mein letzter Punkt ist es, dass ich mir wünsche, dass ihr heute vor allem mitnehmt, dass das 21. Jahrhundert auch ein Jahrhundert der De- und nicht der Re-Imperialisierung sein kann. Der ukrainische Kampf spielt dabei die Schlüsselgeschichte. Wenn die Ukraine verliert, bedeutet das, dass wir in die Welt der Re-Imperialisierung eintreten. Wir werden also in eine Welt der neuen territorialen Konflikte eintreten, in der Grenzen keine Rolle mehr spielen. Wenn wir wieder Imperien tolerieren, dehnen sie sich immer auch aus. Das wird für uns alle schlecht sein. Für Europa wird es besonders schlecht sein. Die Idee des europäischen Traumes ist es, dass alle vom Wohlfahrtsstaat profitieren können. Im Budget wurde kaum mehr etwas für das Militär ausgegeben, also kann sich Europa gar nicht selbstständig verteidigen.
Europa wird damit seine militärische Kapazität wieder neu aufbauen müssen, sonst wird die europäische Idee bald einmal einfach weg sein. Diesselbe Sache ist auch wichtig für die USA, weil die USA mit ihrer Idee, sich als Grossmacht für eine allgemein anerkannte internationale Ordnung mit Freiheit und Demokratie einzusetzen, heute nicht mehr gesichert ist. Durch den Krieg von Russland in der Ukraine sind aber wir eine für uns alle gefährlichen Situation. Wenn wir uns dem allem wirklich stellen, müssen unsere Militärausgaben hoch-, hoch-, hochgehen. Und was wir als unsere bisherigen Ausgaben für dem Haushalt unseren Sozial- und Gesundheitswesen, der allgemeine Wohlfahrt gewohnt sind, werden tief-, tief-, tiefsinken. Und in dieser Lage wird man uns Ukrainer wohl sagen: Wir können euch nicht mehr unterstützen...
Ich hoffe aber, dass niemand von uns in einer Welt leben, in der es keine Freiheit mehr gibt, weder im nördlichen noch im südlichen Teil dieser Welt.
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