
Ein Gespräch des Think-Tanks «Culture Church“ mit Dr. Roman Soliviy
Da der folgende Text sehr umfassend ist, befindet sich am Ende den Link zum PDF als Ausdruck. So kann er beim Lesen aus besser verstanden und bearbeitet werden und vielleicht sogar zur Weiterbildung dienen.
Wenn man sich die gegenwärtige Entwicklung in der Welt anschaut, kann man kaum optimistisch sein. Wir befinden uns derzeit in einer besonders schwierigen Situation, in der wir nicht wissen, wohin die Reise geht. Geht es weiter abwärts oder können wir uns auffangen und das Schlimmste verhindern? Wird das, was wir erreicht haben, zerstört oder werden wir uns zusammenraufen, um wieder eine Ordnung zu schaffen, in der wir uns gut entwickeln können?
Die Lektüre des folgenden Beitrages könnte uns helfen, die gegenwärtigen Entwicklungen etwas besser zu verstehen und vielleicht auch ein wenig vernünftiger damit umzugehen. Besonders interessant ist er für philosophisch und theologisch Interessierte, die Hintergründe und Denkanstöße suchen.
Mein Dank geht an Taras Dyatlik, ukrainischer Theologe und Pfarrer, der den Link zu diesem Gespräch auf seiner Facebook-Seite gepostet hat. Bei ihm finde ich viele wertvolle Beiträge, die auch uns im Westen betreffen. Wir sind inzwischen befreundet und ich werde ihn dieses Jahr in der Ukraine besuchen. Außerdem plane ich ein Buch mit einigen seiner sehr guten und berührenden Texte. Mehr über ihn erfahren Sie im folgenden Interview.
Bild: „Meditation der eigenen Situation“, Aquarell zum Krieg von Danylo Movchan
Einleitung
Diese Welt ist nicht unser Werk. Gott hat sie geschaffen, und ursprünglich war sie sehr gut. Gott will, dass alle seine Geschöpfe gut und in Frieden leben können. Aber er tut es nicht für alle, sondern gibt uns die Freiheit zu wählen, das Gute oder das Böse zu wählen, es zu tun oder nicht zu tun. Und auch heute spricht Gott durch das Antlitz eines jeden anderen Menschen zu uns: "Töte den anderen nicht, tu dem anderen nichts Böses».
Heute, im dritten Jahr dieses umfassenden Krieges, sind alle unsere bisherigen hilflosen Versuche, uns zu erklären, warum es zu diesem Krieg gekommen ist, irgendwie bei uns allen angekommen. Die Intensität unserer Fragen hat nachgelassen, wir haben uns alle irgendwie an den Tod gewöhnt.
Aber wie können wir nach allem, was uns widerfahren ist, noch irgendwie an einen guten Gott glauben, der zum Beispiel diesen Putin im Kreml regieren lässt?
Überhaupt ist es für uns Menschen immer ein sehr riskantes Unterfangen, etwas über Gott oder im Namen Gottes sagen zu wollen. Aber genau das versucht die Kirche immer wieder.
Liebe Freundinnen und Freunde der Kirchenkultur. Wir haben heute Roman Solovjy zu Gast, Pfarrer und Professor an der Theologischen und Humanwissenschaftlichen Fakultät in Lemberg und Direktor des Osteuropäischen Theologischen Instituts in Kiew. Das Thema unseres heutigen Gesprächs ist die sogenannte «Theologie des Anderen». Und wie sie aussehen kann, wenn wir sie in einer so komplexen Situation wie dem Krieg leben. Und über die einzigartige Chance, die uns die Erfahrung des Krieges geben kann. Wir werden auch über gute Literatur dazu sprechen.
Theologie des Anderen: Ursprung und Hauptthesen
In den letzten Jahren haben wir in «Kulturkirche» immer wieder über das Thema «Theologie der Gastfreundschaft» gesprochen. Ich schreibe gerade ein Buch darüber. Dieses Thema ist für mich nach wie vor sehr aktuell und geht viel tiefer, als ich anfangs dachte. Ich lese dazu gerade wieder viel von den beiden französischen Philosophen Derrida und Levinas. Vor allem bei Derrida finde ich vieles, was für mich sehr tiefgründig ist und was ich für mein Buch verwenden kann.
Gleichzeitig bereite ich für unsere theologische Fakultät in Lemberg eine Vorlesung zum gleichen Thema vor, die ich im Sommer halten werde.
Die meisten theologischen Bücher, die ich zu diesem Thema lese, sind nicht ausreichend. Wirklich Brauchbares finde ich eigentlich nur bei Theologen, die sich auch mit dem aktuellen philosophischen Diskurs auseinandersetzen. Bei Levinas zum Beispiel finde ich diese sehr wichtigen Sätze: "Im Antlitz des anderen begegnet uns etwas sehr Geheimnisvolles, das etwas Transzendentes hat, das uns auf etwas unendlich Größeres hinweist.
"Wir können dieses Geheimnis des Anderen nicht ganz verstehen und auch nicht genau definieren. Und doch spricht Gott durch jedes Antlitz eines anderen zu uns. Die Worte, die Gott dann durch den anderen zu uns spricht, sind zum Beispiel solche Worte wie: "Du sollst ihn nicht töten", was im Grunde ganz allgemein heißt: "Du sollst deinem Nächsten nichts Böses tun".
Für Derrida steht dieses Grundgebot an erster Stelle seiner Philosophie, aus der sich entsprechend jede andere Ethik ableiten sollte. Für uns ist das heute allerdings sehr schwer umzusetzen: Wenn dir zum Beispiel im Gesicht des anderen der Feind entgegentritt, der dir gerade Böses antun oder dich gar töten will. Wie soll ich dann im anderen Gott erkennen?
Auch darüber können wir heute miteinander reden. Ich lese dazu gerade ein Buch von John Caputo, in dem uns einige Gedanken begegnen, die mir sehr segensreich erscheinen. In diesem Buch sagt er uns übrigens auch ausdrücklich, dass seine «Theologie des Anderen» nicht absolut zu verstehen ist, dass damit z.B. Selbstverteidigung in jedem Fall abzulehnen wäre. Wir dürfen uns verteidigen, wenn wir angegriffen werden. Aber seine Theologie bedeutet nicht, dass wir ausnahmslos jeden anderen akzeptieren müssen, dass also jeder ungehindert tun und lassen kann, was er will...
Die Theologie der Zeit, in die Levinas hineingeboren wurde, verstand es, den anderen ohne Ausnahme bedingungslos anzunehmen. Aber die damalige hermeneutische Tradition sagte im Blick auf den Kern dieser Frage auch: nicht ohne Ausnahme. Wir müssen auch in unserer Ethik eine Hermeneutik entwickeln, die gewisse Ausnahmen zulässt.
Dazu gibt es ein berühmtes Beispiel:
Die britische Schriftstellerin Patria Margaret Pizzey gründete 1971 das erste Frauenhaus als Schutzraum für Frauen, die Gewalt erlitten hatten. Als sie einmal in diesem Haus war, hörte sie, wie jemand an die Tür klopfte und rief, sie solle aufmachen. Sie sagte: «Ich weiß, es wäre meine Pflicht, jeden Fremden und Obdachlosen hereinzulassen. Aber woher soll ich wissen, wer dieser Mann ist, der gerade an unsere Tür geklopft hat? In diesem Haus habe ich 30 Frauen, die Gewalt erlitten haben. Ich weiß wirklich nicht, wer dieser Mann ist. Ist er ein Messias oder ein Monster? Ist er ein biblischer Heiliger oder ein Jack the Ripper? Was soll ich in dieser Situation tun, wenn mein ethisches Prinzip die Gastfreundschaft ist und mein Haus für alle offen sein sollte, aber dieser Mann diesen Frauen vielleicht Gewalt antut?
Alle meine Forschungen zur Theologie der Gastfreundschaft sagen im Kern immer dasselbe: «Nein, es muss bei aller Anerkennung dieser Ethik auch gewisse Ausnahmen in der Auslegung dieses Prinzips geben. Es gibt Ausnahmen: Im Krieg wissen wir um die böse Absicht des anderen, der uns als Feind gegenübersteht und gegen den wir uns in diesem Fall verteidigen müssen.
In einer Situation, in der ich die Absichten des anderen bereits kenne, geht es nicht darum, jemandem sein Recht auf Gastfreundschaft zu verweigern, wenn ich ihm meine Tür nicht öffne, obwohl ich weiß, dass ich es tun müsste, weil ich die bösen Absichten des anderen kenne, der mir Gewalt antun oder mich sogar töten will. Es gibt auch ein Recht auf Notwehr. Dazu gibt es übrigens in unserer theologischen Zeitschrift ein sehr gutes Gespräch mit John Capito, das wir übersetzt haben.
Ich glaube, angesichts unseres Zielpublikums und der Breite unseres Themas und der vielen Namen, die schon gefallen sind, sollten wir vielleicht auch erklären, wer dieser Caputo eigentlich ist?
John Caputo und seine Theologie des schwachen Gottes
John Caputo ist ein amerikanischer Religionsphilosoph, der viele Jahre eine akademische Karriere als katholischer Theologe gemacht hat. An amerikanischen Universitäten schrieb er klassische, sehr schöne Werke über die mittelalterliche Kunst und später über die Hermeneutik bei Heidegger.
Als er etwa 45 Jahre alt war, Mitte der 1990er Jahre, lernte er die Werke von Jacques Derrida kennen. Das ermutigte ihn, seine Theologie mit dieser Philosophie zu verbinden, was er eine Zeit lang nur außerhalb der Grenzen der akademischen Theologie vertrat, da es sich um eher konfessionelle Werke handelte und er über seine anderen Überzeugungen nicht immer in wissenschaftlicher Sprache schrieb. So wurde er in der akademischen Welt zum Außenseiter, weil seine Bücher eher als Philosophie denn als Theologie angesehen wurden.
Einige eher traditionelle, kirchlich geprägte Theologen interessieren sich schließlich für einige seiner Bücher, lesen sie und erkennen ihre Relevanz für die Kirche. Sie beginnen, über ihre bisherige Theologie und deren Implikationen für die Zukunft der Kirchen nachzudenken. Das gilt besonders für sein Buch «Theologie der Schwachheit Gottes» (im Deutschen oft mit «Theologie des Unbedingten» übersetzt), also über Gott, der sich in Christus den Menschen in ihrer Schwachheit zeigt, wie in seiner Schwachheit am Kreuz.
Was hältst du von der "Theologie des Todes Gottes"? Ist die Theologie von Caputo nicht sehr ähnlich?
Für mich ist die "Theologie des Todes Gottes" etwas anderes, obwohl Caputo mit einigen ihrer Vertreter durchaus ähnliche Ansichten vertritt. In seinem viel gelesenen Buch "Die Schwachheit Gottes" versucht er noch mehr, sich von den Lehren der traditionellen Theologie zu lösen, insbesondere vom Calvinismus, nach dessen Lehre Gott alles, was in dieser Welt geschieht, vorherbestimmt hat.
Caputo erinnert dagegen immer wieder an die Stellen im 2. Korintherbrief, in denen der Apostel Paulus besonders von der Schwachheit Gottes spricht. Damit will er den Christen dort sagen, dass wir alle durch Christus zu einer besonderen Verantwortung gegenüber den Schwachen berufen sind, nicht nur in der Gemeinde, sondern in der ganzen Welt, zu einem Leben in Barmherzigkeit und Gastfreundschaft,
Diese Überzeugung war eigentlich schon die Maxime der gesamten antiken europäischen Philosophie und Religionen und wird später wieder aufgegriffen, angefangen bei Emmanuel Levinas, der davon überzeugt ist, dass Gott durch das Antlitz des anderen zu uns spricht und der andere durch sein Antlitz zu uns spricht. Bei Caputo geht es aber vor allem um die Suche nach einer Theologie, in der Gott uns, gewissermaßen als eine besondere Form der Theodizee, nicht die Verantwortung für das Böse in der Welt abnimmt.
Ist es Gott, der das Böse zulässt?
An dieser Stelle muss auch Gregory Boyd erwähnt werden, dessen Theologie der von John Caputo sehr ähnlich ist. Auch er ist davon überzeugt, dass Gottes Schöpfung am Anfang sehr gut war und dass es Gottes Wille ist, dass es uns gut geht und wir in Frieden zusammenleben können. Das geschieht aber nicht ohne unseren Beitrag, sondern gibt uns die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob wir Gutes oder Böses tun.
Vielleicht kann uns dieser Theologe heute, wo so viele nach einer Antwort auf diesen Krieg fragen, auch ein wenig weiterhelfen. Wenn wir zum Beispiel gerade an die schrecklichen Brände in Los Angeles denken, hören wir von vielen Christen dort: Ist das passiert, weil so viele Menschen bei uns gesündigt und Gott irgendwie vergessen haben? Sollen wir Christen hier auch fragen: Ist es wegen der Sünden bei uns, dass Gott Putin und den Krieg zugelassen hat? All diese durchaus berechtigten Fragen könnten ein guter Anlass sein, nicht nur über andere, sondern vor allem über uns selbst nachzudenken.
Überhaupt ist es immer ein sehr, sehr riskantes Unterfangen, wenn wir meinen, an Gottes Stelle oder gar in Gottes Namen etwas Richtiges sagen zu können. Und genau das versuchen unsere Kirchen immer wieder. Manchmal maßen sich unsere Kirchen vielleicht zu viel an, wenn sie auf alles eine Antwort geben wollen. Wenn wir an all unsere Fragen nach dem Sinn dieses Krieges denken, stehen wir doch alle noch ohne wirkliche Antworten da ...
Bei all unseren Fragen sollten wir uns an die gute alte Tugend erinnern, die viele unserer zeitgenössischen Theologen, vor allem in der westlichen Tradition, immer noch als intellektuelle Bescheidenheit ansehen, nämlich an das Bewusstsein der eigenen Grenzen des Wissens zu appellieren. Kierkegaard hat uns dazu einmal gesagt: "Unser Leben lässt sich nur im Rückblick verstehen, aber wir müssen es im Blick auf uns selbst leben". Niemand von uns hat einen vollständigen Überblick über das, was in dieser Welt geschieht. Nur Gott weiß alles.
Das heißt, Gott sieht die Welt in ihrer ganzen Wirklichkeit, mit all ihren Verflechtungen, mit all ihren kausalen Zusammenhängen. Wir aber sehen das alles nicht. Wir leben begrenzt im Rahmen unserer eigenen Existenz und suchen nach Antworten auf die unzähligen Fragen, die sich uns im Laufe unseres Lebens stellen. Deshalb müssen wir uns immer wieder unserer eigenen Begrenztheit bewusst werden und eine gewisse Demut an den Tag legen.
Du hast uns gerade an die verheerenden Brände in Los Angeles erinnert. Es erschreckt mich immer wieder, wie schnell sich viele Menschen anmaßen, im Namen Gottes ein Urteil über das zu fällen, was gerade geschehen ist. Und sie sagen dann ganz konkret, dass es wegen der Sünden vieler Menschen unter ihnen passiert ist. Aber das würde ich nie sagen.
Das würde ich auch nicht sagen. Nicht, dass so etwas möglich wäre, aber niemals so sicher, dass wir es wirklich wissen könnten, wie diese Leute behaupten, dass sie natürlich wissen, warum so etwas bei ihnen geschehen ist. Es sei eben die logische Folge der menschlichen Gottlosigkeit, der vielen Sünden. Mit diesem Bibelverständnis sind diese Menschen aufgewachsen, sie haben es in unzähligen Predigten immer wieder gehört und in ihren Andachtsbüchern gelesen, eine andere Auslegung haben sie nie kennen gelernt. Was wir lesen und hören, prägt jeden von uns in gewisser Weise.
Und dann schauen wir mit der Matrix unserer eigenen Gottesvorstellungen im Kopf auf die Wirklichkeit dieser Welt - und schon haben wir das entsprechende Ergebnis. In der Bibel finden wir aber ganz andere Geschichten, wie Gott mit den Menschen und ihren Sünden umgegangen ist. Aber das Wichtigste, was uns die Bibel dazu sagt, ist, dass wir nicht vorschnell urteilen sollen. Ich glaube, das ist eigentlich auch das wichtigste Gebot.
Deshalb sollten wir nie in die Rolle Gottes schlüpfen, der allein weiß, warum etwas geschehen ist, und deshalb nicht vorschnell urteilen.
Wenn wir uns das Neue Testament anschauen, dann geht es in der Polemik eigentlich immer um bestimmte fromme Heuchler und nicht um ausgesprochen unfromme Sünder. Wenn wir also hören, wie viele sehr fromme Christen sagen, es sei wegen der vielen Leute in Los Angeles passiert, die nichts mit Gott zu tun haben wollten, dann sind das eigentlich nicht die Kategorien von Menschen, mit denen Christus in den Evangelien eigentlich polemisiert hat. Wenn wir uns die Menschen anschauen, die wirklich offen waren für die Botschaft Christi, dann waren das genau die Menschen, die aus der Rolle derer herausfielen, die man sich damals als fromme Menschen vorstellte.
Generell müssen wir mehr wie Christus gegen diejenigen polemisieren, die gegen andere polemisieren, als gegen säkulare Menschen, die außerhalb unseres eigenen Systems stehen und nicht einmal auf die Idee kommen, sich gegen Gott versündigt zu haben, weil es für sie keinen Gott gibt.
Überhaupt sehen wir in den Evangelien immer wieder, wie überaus liebevoll Christus mit den Menschen umgegangen ist, die zu den Ausgestoßenen gehörten, den Aussätzigen und den Zöllnern, den Frauen mit einer unmoralischen Lebensgeschichte, dem römischen Hauptmann und vielen anderen, und auch in der Apostelgeschichte finden wir dasselbe, dass Christus sich eigentlich immer zuerst besonders um die Menschen kümmert, die als verloren gelten, und sie in seine Gemeinschaft einlädt. Die ganze Polemik Christi, die wir in den Evangelien finden, bezieht sich auf die Pharisäer und andere jüdische Religionsgelehrte.
Gerade die Menschen, die außerhalb unserer gewohnten Vorstellungen leben, bedürfen in besonderer Weise unserer Liebe und Gastfreundschaft. Gerade in diesen Menschen spricht Gott in besonderer Weise zu uns allen. Über unsere Gastfreundschaft und unsere vorurteilsfreie Annahme aller Menschen, so wie sie sind, gibt es sogar die Geschichte von Jesus, als ihn einmal eine unreine Frau absichtlich berührte und er sie trotzdem heilte. Aus dem Leben Jesu und seinen Wundern kann man sogar schließen, dass auch heute der Glaube eines Menschen nicht die unbedingte Voraussetzung für ein Wunder ist. Andererseits ist dies in gewisser Weise sehr wohl der Fall, wenn wir die soziale Seite seiner Zuwendung zu den Menschen betrachten. Es gilt auf jeden Fall von seiner Seite her.
Es gilt, wie ich einmal bei Renée Anderson, einer schwedisch-dänischen Ökonomin, gelesen habe, die schreibt, dass die Dänen, wenn sie in einen Zug einsteigen und sich nach den Mitreisenden umsehen, ihnen zunicken, um ihnen zu sagen, dass sie hier willkommen sind.
Deutsche Philosophen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs
Wie kam es zu dieser Theologie oder Philosophie des Anderen?
Historisch gesehen taucht diese Idee der Unterscheidung zwischen dem eigenen Selbst und dem Selbst des Anderen zum ersten Mal bei dem deutschen Philosophen Friedrich Hegel auf. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Konzept der Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Anderen allgemein anerkannt. Dies ist vor allem dem Werk französischer Philosophen wie Emmanuel Levinas zu verdanken.
Emmanuel Levinas war ein litauischer Jude, der nach dem Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf es in Litauen zu mehreren Pogromen kam, nach Deutschland ging, um dort Philosophie zu studieren, unter anderem bei Usserl und Geiger, den philosophischen Vätern der Phänomenologie. Danach ging er nach Frankreich und wurde einer der ersten französischen Gelehrten, die diese Richtung vertraten. Dies geschah noch vor dem Zweiten Weltkrieg.
Seine persönliche Erfahrung des Zweiten Weltkrieges war sehr schrecklich. Er verlor seine Eltern, seinen Bruder und die Eltern seiner Frau, die in Litauen geblieben waren. Sie alle kamen im Holocaust um. Seine Frau und seine Tochter konnten nur dank der Hilfe von Freunden, französischen Philosophen, gerettet werden, die sie in einem Kloster unterbringen konnten.
Den Ersten Weltkrieg erlebte Levinas als Soldat in der französischen Armee. Danach verbrachte er lange Zeit in einem Kriegsgefangenenlager. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte er immer wieder, seine Erfahrung der Shoah, dieser unglaublichen Katastrophe, irgendwie in seiner Philosophie zu verarbeiten. Als Lösung schlug er als erste Maxime jeder Ethik das vor, was später in der Philosophie als "absolute Transzendenz des Anderen" bezeichnet wurde. Sie geht davon aus, dass der Andere für mich zunächst einfach ein anderer Mensch ist als ich selbst. Heute wird auch diskutiert, ob wir nicht auch andere, nichtmenschliche Wesen oder sogar unbelebte Objekte, also unsere gesamte Umwelt, mit einbeziehen sollten. Aber Levinas meinte einfach jeden anderen Menschen und wollte uns unsere ethische Verantwortung gegenüber allen anderen Menschen bewusst machen. In der Wahrnehmung dieser Verantwortung liegt die Hauptaufgabe von uns allen, das heißt, wenn wir das Antlitz eines anderen Menschen sehen, spricht Gott zu uns: "Töte ihn nicht. Tu ihm nichts Böses."
Natürlich war diese Thematik auch ein gewisser Versuch von Levinas, auf die schrecklichen Erlebnisse seiner Familie im Holocaust zu reagieren.
Später, nach den 1960er Jahren, als alle seine Hauptwerke veröffentlicht waren, wurde diese Thematik schließlich von vielen französischen und deutschen Philosophen und Theologen als sehr wichtig wahrgenommen.
Auch die Bibel kann in diesem Sinne gelesen werden. Schon auf den ersten Seiten der Bibel können wir lesen, wie wichtig die Gemeinschaft, das gute Zusammenleben ist. Nachdem Gott den ersten Menschen erschaffen hatte, schuf er einen weiteren. Sein Wille ist es, dass wir uns auch unserer Verantwortung füreinander bewusst sind und entsprechend zusammenleben. Diese Welt gehört nicht uns allein, Gott hat sie groß genug für uns alle geschaffen.
Gott wollte nicht für sich allein bleiben. Darum schuf er sich ein anderes Wesen. Nicht wie er selbst, aber nach seinem Bild, ihm ähnlich. Als Gott den Menschen schuf, schuf er also auch einen anderen Menschen. Er schuf den Menschen als Mann und Frau, d.h. er schuf dem Mann eine Frau, die anders ist als er, die aber zusammengehört. In der Beziehung zwischen Gott und Mensch erkennt der Mensch auch sich selbst, seine Eigenart und Individualität.
Deutsche Philosophen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges
Diese ganze Thematik ist in der Philosophie und Theologie der letzten Jahrzehnte sehr wichtig geworden, weil sie versucht, uns unsere Verantwortung für den anderen zu zeigen und eine gute Gemeinschaft in unserer Gesellschaft zu fördern. Deshalb sollten wir gar nicht erst anfangen, uns miteinander zu vergleichen und uns selbst zum Maßstab zu machen, um zu definieren, was ein anderer Mensch ist, der zu uns passt, sondern wir sollten dem anderen unvoreingenommen erlauben, uns so zu begegnen, wie er ist.
Dieses Thema lässt sich übrigens bis zu vielen Philosophen des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, etwa zu Heidegger und anderen, die tatsächlich schon davon gesprochen haben. Für uns Christen heißt das, dass wir einander so begegnen, wie Christus uns die Liebe Gottes bedingungslos offenbart hat. Er will, dass wir einander mit der gleichen Liebe begegnen und achten und anderen die Freiheit geben, sich zu zeigen, zu sprechen und zu sein, wie sie sind, ohne sie an unseren Maßstäben zu messen.
In diesem Zusammenhang ist Heidegger für uns eine sehr interessante Persönlichkeit, einschließlich der Tatsache, dass er leider auch mit Hitler sympathisierte.
Verstehe ich das richtig? War das wirklich so?
Warum das so war, wird uns immer ein Rätsel bleiben. Wir wissen nur mit Sicherheit, dass Heidegger bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges als Rektor der Universität Freiburg auch Mitglied der NSDAP war. Danach wurde er deswegen abgesetzt und verurteilt, obwohl man ihm eigentlich keine antijüdischen Äußerungen oder tatsächlichen Antisemitismus oder ähnliches nachweisen kann. Es war damals für jeden, der Philosophie an einer Universität lehrte, eine sehr schwierige Sache, weiterhin eine Lehrerlaubnis zu bekommen.
Aber es ist eine sehr traurige Geschichte, dass er nicht versucht hat, seinen Kollegen Husserl, der ja sein Lehrer und Mentor war, irgendwie zu verteidigen, nachdem dieser wegen seiner jüdischen Herkunft seine Stelle an der Universität verloren hatte. Als Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Entnazifizierungspolitik auf Lebenszeit die Möglichkeit genommen wurde, weiterhin an deutschen Universitäten zu lehren, setzten sich Philosophen wie Karl Jaspers und andere dennoch für ihn ein, weil sie immer noch der Meinung waren, dass ein solcher Heiliger unter den Philosophen, wie Heidegger es war, nicht wegen seines Versagens für immer außerhalb des akademischen Lebens stehen sollte.
Aber es geschah. Für den Rest seines Lebens, obwohl er nach dem Zweiten Weltkrieg noch mehr als zwanzig Jahre lebte, konnte er an keiner Universität in Europa mehr lehren.
Der berühmte Schriftsteller Thomas Mann und seine nicht minder interessanten Kinder, die ebenfalls gute Bücher schrieben und hohe Ansprüche an den Vater stellten, schrieben Heidegger Briefe, in denen sie ihn aufforderten, sich endlich öffentlich zu seinem Versagen bei den damals sehr schlimmen Entwicklungen im Deutschland der dreißiger Jahre zu bekennen. Heidegger hat das bis zu seinem Tod nie getan, weil es ihm offenbar zu schwer fiel, dieser Erwartung zu entsprechen.
Es gab eine ganze Generation deutscher Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich ähnlich verhielten wie er, zum Beispiel Heinrich Böll. Er hat sogar den Stalinpreis bekommen, wenn ich mich recht erinnere. Es gab zumindest einige, die sich erst gegen Ende ihres Lebens getraut haben, etwas darüber zu sagen, dass sie damals zum Beispiel Gruppenleiter in der «Deutschen Jugend», der Jugendorganisation der Nazis, waren. Auch dieses Eingeständnis war nach dem Zweiten Weltkrieg eine sehr schwierige Sache.
Gerade heute habe ich einige Interviews mit dem bekannten Theologen Jürgen Moltmann gehört. Was er dort über seine persönlichen Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt hat, hat mich sehr beeindruckt und ist für uns alle sehr interessant. Er ist erst letztes Jahr im Alter von 98 Jahren gestorben. Wir müssen ihn unbedingt hören.
1944 wurde Jürgen Moltmann, damals 18 Jahre alt, gegen seinen Willen zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Er kam aus einer sehr säkularen Familie. Seine Eltern gingen zum Beispiel nur an Weihnachten in die Kirche. Sein Vater pflegte ihm dann zu sagen, das sei nur, um als Familie in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen. Als sehr junger Mann erlebte er dann, wie schrecklich der Krieg war. Er beschloss, sich dem nächstbesten britischen Soldaten anzuschließen, ergibt sich und gerät in Kriegsgefangenschaft. Da er genügend Englisch spricht, sagt er dem Soldaten einfach: «Ich ergebe mich». Daraufhin kommt er in ein Kriegsgefangenenlager.
Als schließlich die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg immer mehr ans Licht der Öffentlichkeit kamen, war Moltmann wie alle deutschen Intellektuellen völlig entsetzt über das ganze Ausmaß des Grauens. Alle seine schönen Vorstellungen von der großen deutschen Philosophie, Literatur und Kunst waren für ihn zerstört durch die Tatsachen dieser Verbrechen und Grausamkeiten, die das Ganze für immer kontaminierten.
Der junge Moltmann sieht keinen Sinn mehr im Weiterleben. Nachdem er zuerst in Schottland und dann in England in einem Kriegsgefangenenlager war, begegnet ihm eines Tages, nach fast drei Jahren, ein britischer Seelsorger, der sich um die deutschen Kriegsgefangenen kümmerte, und gibt ihm die Bibel. Er, dieser junge Mann, der völlig säkular war, begann schließlich, in der Bibel zu lesen, zuerst die Klagepsalmen, dann vor allem das Markus-Evangelium. Dort liest er die Worte Jesu am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Später betont Moltmann immer wieder, dass ihm damals in diesen Worten Jesu am Kreuz zum ersten Mal in seinem Leben wirklich Gott begegnet sei, und dass Christus ihm damals zum Bruder geworden sei.
Hier begegnen wir also einem Menschen, der die gleichen schrecklichen Kriegserfahrungen machen musste wie wir heute in der Ukraine. Er steht auf den Trümmern der großen deutschen Kultur, erlebt die völlige Zerstörung all seiner Ideale und fragt sich: Warum soll ich überhaupt weiterleben? Wer bin ich eigentlich? Von diesem Moment an beginnt für ihn ein langer Prozess, der ihn schließlich zum Christentum führt. Später wird er sogar zu einer der wichtigsten Stimmen der gesamten protestantischen Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts.
Für mich ist es ein sehr bewegendes Beispiel eines Menschen, der durch die Tragödie des Krieges, durch die völlige Zerstörung aller seiner Lebensideale schließlich zu einem persönlichen Glauben an Gott findet und zu einer der besten und kreativsten theologischen Stimmen des 20. Jahrhunderts wird.
Das Trauma des Krieges in der zeitgenössischen ukrainischen Dichtung
Wenn wir nun weiter über unsere eigene Situation sprechen, möchte ich noch einmal auf unsere besondere Poesie zurückkommen, die gerade in diesem Krieg bei uns entsteht. Eigentlich finden wir sie nicht nur in der Lyrik, sondern auch in der Prosa, vor allem in den vielen Memoiren und Tagebüchern von Menschen, die in unserer Armee im Krieg gedient haben. Ich denke an all diese Bücher, die von Menschen geschrieben wurden, die säkularisiert sind und die im Militärdienst wahrscheinlich in der Mehrheit sind.
Sogar du, Roman Soliviy, hast kürzlich einen Vortrag über diese Poesie gehalten. Fast alle Namen der Autoren, von denen du gesprochen hast, waren mir völlig neu. War darunter nicht auch dieser sehr bekannte Maksym Krywzow? (Maksym ist ein junger ukrainischer Soldat, der sich freiwillig zur Armee gemeldet hat. Er wurde genau an dem Tag getötet, an dem sein erstes Buch erschien. Letztes Jahr hörte ich beim „Lucerne Festival“ die Uraufführung eines Maksym gewidmeten Requiems durch das Jugendsymphonieorchester der Ukraine, das mich sehr bewegte. Das Buch habe ich mir später in Lemberg gekauft. Dank Deepl versuche ich nun, einen Eindruck von seiner Lyrik zu bekommen; MH).
Sein Buch habe ich natürlich auch gekauft, als es herauskam. Aber es gibt noch viele andere, sehr interessante neue Gedichte. Besonders interessant finde ich, dass es bei uns noch nicht so viele Lyrikbände gibt. Lyrik ist eben keine Massenkultur. Ich will die Lyrik nicht schlecht machen, überhaupt nicht, aber es erstaunt mich wirklich. Es ist einfach sehr spannend, wie sich dieser Krieg auf unsere Literatur auswirkt.
Wir können vielleicht nur spekulieren, aber wenn wir uns die Entwicklung der Literatur in diesem Krieg anschauen und versuchen, sie näher zu beschreiben, auch die Neuerscheinungen von Büchern ukrainischer Theologen, und wenn wir uns auch die Entwicklung in unserem eigenen theologischen Projekt in der Ukraine anschauen, wenn ich das noch einmal sagen darf, dann glaube ich, dass wir noch staunen werden, was sich bei uns noch alles entwickeln wird. Dazu noch ein Wort.
Natürlich ist unsere gegenwärtige Situation einzigartig, weil wir alle zum ersten Mal in unserem Leben einen wirklichen Krieg erleben, und das in einer unglaublichen Intensität bei uns. Aber im Großen und Ganzen ist es nicht der erste Krieg in unserer ukrainischen Geschichte. Ich habe schon erwähnt, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine ähnliche Entwicklung unter den Intellektuellen gab, wie wir sie heute bei uns erleben. Sie fand vor allem im Judentum und in der christlichen Theologie nach Auschwitz statt. Damals haben viele Philosophen jüdischer Herkunft und ebenso viele christliche Theologen versucht, die Frage zu beantworten: Warum war das alles bei uns möglich, was geschehen ist? Bin ich auch mitschuldig geworden? Sind wir alle durch unser Schweigen mitverantwortlich? War zum Beispiel unser Glaube an Gott nur eine formale, oberflächliche Sache? Müssten wir vielleicht umkehren zum wahren Christentum? Oder sollten wir uns vielleicht zu den Idealen des Kommunismus bekennen? Oder war das alles nur eine schreckliche Manifestation des Bösen in uns, an der wir nicht schuld sind? Aber wie kann man nach all dem, was geschehen ist, heute noch an die Existenz eines Gottes glauben?
Ein anderer berühmter Philosoph der "Frankfurter Schule", Adorno, ebenfalls jüdischer Herkunft, hat deshalb einmal gesagt, dass für ihn eine Dichtung nach Auschwitz nicht mehr möglich sei. Dieser Satz ist sehr berühmt geworden.
Es ist aber sehr interessant zu sehen, dass einer der berühmtesten Dichter nach dem Holocaust, Paul Celan, der zum Teil auch unser eigener Landsmann war, aus Czernowitz, aus der Bukowina kam, obwohl er heute bei uns vor allem als jüdischer französischer Dichter bekannt ist. Auch er hat den Holocaust überlebt, aber dann in den 60er Jahren, wie viele andere Überlebende des Holocaust, Selbstmord begangen, weil er die Realität dessen, was für ihn geschehen war, nicht akzeptieren konnte.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch ein anderes sehr interessantes Beispiel erwähnen. Es handelt sich ebenfalls um einen deutsch-französischen Philosophen jüdischer Herkunft, Jean Améry, der in einem Konzentrationslager inhaftiert war und dort gefoltert wurde. Er hat einmal gesagt, dass ein Mensch, der einmal gefoltert worden ist, in seinem weiteren Leben nie wieder in der Lage sein wird, zu einem anderen Menschen irgendeine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, weil er diese traumatische Erfahrung für immer in sich trägt. Früher sagte er, er glaube, dass unsere körperliche Hülle, die uns zusammenhält und uns als Individuen Integrität und Unabhängigkeit verleiht, uns davor schützen kann, dass andere in unseren Körper eindringen. Als dann der Krieg ausbrach, wurde er sehr bald sehr schrecklich gefoltert, und er hat später auch Selbstmord begangen.
Da fällt mir auch Primo Levi ein.
Bei Primo Levi finden wir die gleiche Geschichte, dass er gefoltert wurde. Er war der Mann, der der Welt zum ersten Mal ganz ehrlich von Auschwitz erzählt hat.
Warum interessieren dich diese Schriftsteller besonders? Mir fallen noch andere ein. Eli Wiesel zum Beispiel.
Weil meine Großmutter in Auschwitz gestorben ist. Die Mutter meiner Mutter ist mit 28 Jahren auch in Auschwitz gestorben. Deshalb habe ich mich immer sehr, sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Aber leider waren diese traumatischen Erlebnisse für manche Menschen so schwer, dass sie danach nicht mehr weiterleben konnten.
Primo Levi, der als Erster ein Buch über seine Zeit in Auschwitz schrieb und es mit der Frage betitelte: "Ist das ein Mensch? Später, sein ganzes Leben lang, hat er in vielen anderen Werken versucht, uns allen zu beweisen, dass all dieses Grauen tatsächlich mitten unter uns geschehen ist. Als er eines Tages nach Auschwitz zurückkehrte, ging er schließlich zu dem Haus, in das sein Vater gebracht worden war, und sah dort wie durch ein Traumfenster seinen eigenen Vater. Das war Anfang der 1980er Jahre.
Eine andere berühmte Stimme ist Eli Wiesel, eine der berühmtesten Stimmen von Auschwitz. Auch er erzählt uns, dass ihn manchmal mitten am Tag schreckliche Erinnerungen wie in einem Traum überfielen. in einem Traum überfielen. Er hat viele, viele Jahre mit Gott gerungen. In seinem Buch und in seiner Nobelpreisrede hat er gesagt, er sei auch heute kein Atheist, er leugne nicht die Existenz Gottes, aber er könne niemals akzeptieren, was er in Auschwitz gesehen und erlebt habe, wo seine ganze Familie ausgelöscht worden sei.
Dasselbe Trauma finden wir bei vielen anderen Zeitzeugen. Ein anderes berühmtes Beispiel ist Günter Grass, ein sehr bekannter deutscher Schriftsteller, der als einer der konsequentesten Kritiker der Schwäche der deutschen Kultur während der Nazizeit gilt, als kaum jemand es wagte, Hitler wirklich die Stirn zu bieten. In seinem vorletzten Buch, das er vor seinem Tod schrieb, gestand er schließlich selbst seine damalige Schwäche ein. Er erzählte, dass er als Jugendlicher aufrichtig an Hitlers Reden geglaubt, der Hitlerjugend angehört und sogar freiwillig in der Wehrmacht gedient habe. Er hat das alles kurz vor seinem Tod zugegeben.
Wir können also nicht sagen, wie jemand einmal mit seinem Kriegstrauma umgehen wird. Das wird bei jedem anders sein. Wir werden alle damit konfrontiert werden. Ich habe eingangs gesagt, dass wir nicht die Ersten sind, die das Trauma der Kriegserfahrungen immer in sich tragen werden.
Die Hauptaufgabe von uns Ukrainern wird es sein, unsere Kriegserfahrungen nicht zu vergessen.
Ich denke zum Beispiel an die Balkankriege in den 90er Jahren. Ich war mehrmals auf dem Balkan und habe dort viele Freunde gefunden. Ich erinnere mich gut an meinen Freund Miroslav Volf, der in den USA geboren ist, den ich in der Krajina kennengelernt habe und dessen theologische Bücher heute von vielen gelesen werden. Er hatte auch einige Zeit bei Moltmann studiert, dessen Ekklesiologie die Grundlage seiner Doktorarbeit wurde.
Als Moltmann seine Dissertation gelesen hatte, in der es darum ging zu zeigen, welche Konsequenzen seine theologische Ausbildung im Bereich der Ekklesiologie für seine spätere Arbeit in der realen Situation einer Kirche haben könnte. Später erzählte er uns in einem Seminar, dass er damals gelernt habe, wie wichtig für uns die bedingungslose Annahme des Anderen, also dessen, was wir gerade diskutiert hatten, geworden sei.
Nachdem Volf seinen Vortrag gehalten hatte, der bei den Zuhörern gut ankam, ging Moltmann zu Volf und fragte ihn: «Sagen Sie mir ehrlich: Wie wäre es für Sie? Könnten Sie wirklich einen Tschetnik vorbehaltlos akzeptieren?»
Ja, das ist eine sehr berechtigte Frage. Tschetniks, das waren diese serbischen Nationalisten, von denen man gerade erfahren hatte, wie brutal sie unzählige Muslime und Kroaten umgebracht hatten. Das war in der Tat eine ungeheure intellektuelle Herausforderung, der er sich stellen musste. Danach hat er mit großem Elan sein vielleicht bestes Buch «Von der Ausgrenzung zur Umarmung» geschrieben, in dem er von der Spannung zwischen Akzeptanz und Ausgrenzung spricht und davon, wie schwer es ist, diese Spannung auszuhalten.
Ja, das ist eine sehr berechtigte Frage.
Die Tschetniks, das waren diese serbischen Nationalisten, von denen man gerade erfahren hatte, wie brutal sie unzählige Muslime und Kroaten umgebracht hatten, das war in der Tat eine enorme intellektuelle Herausforderung, der er sich stellen musste, und er hat dann mit großem Elan sein vielleicht bestes Buch «Von der Ausgrenzung zur Umarmung» geschrieben, in dem er von der Spannung zwischen Akzeptanz und Ausgrenzung spricht und davon, wie schwer es ist, diese Spannung auszuhalten. Ja, auch wir werden uns dieser Herausforderung stellen müssen.Und wir fragen zu Recht: Diese Theologie der bedingungslosen Annahme des Anderen, geht das wirklich, wenn der Feind auf dich zukommt, mit dem eindeutigen Wunsch und mit dem ganz klar formulierten Ziel, dich zu töten und zu ermorden? Unter welchen Bedingungen könnte so etwas, wenn überhaupt, in einem langsamen Prozess bei uns möglich werden, der irgendwann zu Vergebung, Versöhnung und Wiederherstellung unserer gegenseitigen Beziehungen führen könnte?
Übrigens ist dieses Buch bei uns bisher kaum gelesen worden, obwohl es schon vor mehr als zehn Jahren erschienen ist. Es sollte unbedingt in einer ukrainischen Übersetzung neu aufgelegt werden, bisher ist es nur auf Russisch erschienen. Das alles war in der Tat eine enorme intellektuelle Herausforderung, der er sich stellen musste, und danach hat er mit großem Elan sein vielleicht bestes Buch «Von der Ausgrenzung zur Umarmung» geschrieben, in dem er über die Spannung zwischen Akzeptanz und Ausgrenzung spricht und darüber, wie schwer es ist, diese Spannung auszuhalten.
Wir alle müssen uns irgendwann mit unseren Kriegserfahrungen auseinandersetzen. Wie das aussehen kann, haben wir an einigen Beispielen aus der Vergangenheit gesehen. Ob wir es wollen oder nicht, es wird sehr unterschiedlich aussehen, je nach Blickwinkel und eigener Kriegserfahrung.
Übrigens, wenn ich noch einmal auf Volf zurückkommen darf: Wo war er eigentlich während der damaligen «Special Military Operation»?
Miroslav Volf hat während des Krieges in Tübingen studiert.
Das heißt, er war eigentlich nicht direkt von den Ereignissen betroffen, aber er hatte Verwandte, die in der Stadt Osijek in Kroatien lebten, die von drei Seiten von Serben umzingelt war. Er fuhr dorthin und musste viele Trauerfeiern abhalten.Noch heute sind in Osijek an vielen Häusern die Spuren des Artilleriebeschusses deutlich zu sehen. Soweit ich mich erinnere, verließ er die Stadt Ende der 1980er Jahre, um sein Studium in Deutschland, in Tübingen, fortzusetzen. Nun, Jugoslawien hatte ein etwas gemäßigteres Regime als wir in der Sowjetunion.Es war eine andere, aber auch tragische Erfahrung.
Vor dem Krieg, als Jugoslawien noch existierte, kehrte Volf er nach seinem Studium in Tübingen nach Jugoslawien zurück und wurde zum Militärdienst eingezogen. Da seine Frau aus den USA stammte und er eine deutsche theologische Ausbildung genossen hatte, hielt ihn der jugoslawische Geheimdienst natürlich für einen Spion.
Es gibt einige Philosophen, deren Namen ich jetzt leider nicht nennen kann, die sich mit der Frage beschäftigt haben, wie sich unser Gedächtnis entwickelt, wann und wie Erinnerungen entstehen.
Ich glaube, dass diese Erfahrungen, die Erinnerungen auslösen können, auch bei uns in der Ukraine sehr vielen Menschen passieren werden.
Vor dem Krieg, als Jugoslawien noch existierte, kehrte Volf er nach seinem Studium in Tübingen nach Jugoslawien zurück und wurde zum Militärdienst eingezogen.Seine Frau stammte aus den USA, und er hatte eine deutsche theologische Ausbildung. Er hat darüber ein wunderbares Buch geschrieben mit dem Titel "Das Ende der Erinnerung", in dem er über seine schrecklichen Erfahrungen berichtet, als er mit seiner deutschen Ausbildung und einer amerikanischen Frau in die jugoslawische kommunistische Armee eingezogen wurde, wo die jugoslawischen Spezialdienste ihn definitiv für einen amerikanischen, deutschen oder zionistischen Spion hielten und ihm einfach eine schreckliche Zeit der absolut totalen Bespitzelung bereiteten.
Das Trauma des Krieges im Spiegel unserer heutigen Lyrik
Die Schriftsteller haben schon viel über unsere Kriegserfahrungen gesagt. Sie können nicht schweigen. Ich glaube, das gilt vor allem für die Lyrik. Und auch für andere Literatur. Wir haben schon viele gute Bücher. Und ständig kommen neue dazu.
Die Schriftsteller reagieren immer auf die drängendsten Fragen in unserer Gesellschaft, sie spüren den Nerv der Zeit wie niemand sonst, aber jetzt, im dritten Kriegsjahr, stellen selbst die Literaturkritiker fest, dass sich diese poetische Reaktion auf den Kriegsausbruch erschöpft zu haben scheint. Es erscheinen jetzt viel weniger wirklich originelle und erhellende Texte als im ersten Kriegsjahr. Wir scheinen diese besondere Schärfe bereits verloren zu haben. Der Tod ist uns alltäglich geworden, das Sterben, die Kriegssituation. Er überwältigt uns immer noch buchstäblich jeden Tag. Und die Dichter reagieren immer noch auf das, was um uns herum geschieht. Das ist meine emotionale Reaktion.
Ja, das sehe ich auch. Ich glaube, das ist ein sehr guter Punkt, den du hier angesprochen hast. Wir haben auch schon viele interessante Beiträge für unser zukünftiges theologisches Projekt erhalten.
Wir können zum Beispiel auf die Blogs und andere Beiträge des protestantischen Theologen Taras Dyatlik verweisen, der im Rahmen seiner christlich-biblischen Existenztheologie daran arbeitet, in dem er versucht, unsere heutige Realität, unsere Herausforderungen und Erfahrungen im Licht der biblischen Geschichten zu lesen. Umgekehrt ist bei ihm die Auslegung der biblischen Geschichten immer auch ein gegenwartsbezogener Prozess, die biblischen Texte werden von unseren heutigen Erfahrungen her neu gelesen.
Wir haben das bei Jürgen Moltmann gesehen, nachdem er die Worte Jesu am Kreuz gelesen hatte: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Einerseits halfen ihm diese Worte, seinen gegenwärtigen Zustand besser zu verstehen.Nicht nur seinen eigenen Zustand nach dem Krieg, sondern auch den Zustand der deutschen Gesellschaft, ihre eigentümliche Gottverlassenheit.Auf der anderen Seite half ihm dieses Gefühl der Einsamkeit, der Gebrochenheit, der Hoffnungslosigkeit, der Zukunftslosigkeit in gewisser Weise auch, die schreckliche Erfahrung seines Leidens im Garten Gethsemane am Vorabend der Kreuzigung und am Kreuz besser zu verstehen.
Unsere heutige Aufgabe
Taras Dyatlik zum Beispiel arbeitet bereits an dieser Schnittstelle zwischen existenzieller und biblischer Reflexion und schreibt darüber viele Texte, die sehr originell und interessant zu lesen sind.Ich bin sicher, dass sie in Zukunft Teil unseres ganzheitlichen, humanistisch-existenzialistischen theologischen Projekts sein werden, das sich bei ihm schon seit vielen Jahren entwickelt.
Nun, ich habe auch gesehen, dass er ständig seine Gedanken auf Facebook postet. Vielleicht sind seine Predigten auch auf YouTube, wo ihn jeder finden kann?
Er hat auch eine eigene Website, auf der alle seine Beiträge zu finden sind.Der Tod ist uns alltäglich geworden, das Sterben, die Kriegssituation.Er überwältigt uns immer noch buchstäblich jeden Tag.Und die Dichter reagieren immer noch auf das, was um uns herum geschieht.Das ist meine emotionale Reaktion. Ja, das sehe ich auch.Ich glaube, das ist ein sehr guter Punkt, den du hier angesprochen hast.
Er predigt auch sehr oft in seiner örtlichen Kirche in Sela. Sie können sich also seine Predigten und die damit verbundenen Aktionen ansehen, mit denen er versucht, die Menschen ganzheitlich zu erreichen.Er lebt wirklich das, was er predigt und worüber er schreibt. Wir finden bei ihm eine Kluft zwischen dem, wie er schreibt, und dem, wie er selbst lebt und wirklich fühlt. Er verschweigt uns nicht die Schrecken des Krieges, er erzählt uns auch, dass sein Bruder im Krieg gestorben ist.
All diese Dinge schildert er uns auf eine sehr eindrückliche, existenzielle und theologische Weise.Deshalb ist er meiner Meinung nach eine der interessantesten protestantischen theologischen Stimmen in unserem heutigen Kontext.Sehr originell, sehr tiefgründig. Und sehr menschlich.Deshalb wird er so gut verstanden.Es ist mir wichtig, hier das Wort "menschlich" hinzuzufügen.
Unser theologisches Projekt in der Ukraine
Du hast einen sehr interessanten Punkt angesprochen, als du sagtest, dass die Poesie im dritten Jahr des Krieges schon einen gewissen Stillstand erreicht hat, weil sich das, was uns widerfährt, einfach wiederholt.Was ist also die besondere Zeit? All diese Dinge schildert er uns auf eine sehr eindrückliche, existenzielle und theologische Weise. Deshalb ist er mein Vorbild in diesem Projekt.
Und es ist sehr gut, wenn jemand schon jetzt in diesem Sinne arbeitet, ein Tagebuch führt, sich Notizen macht. Auch die Reflexionen von Taras sind im Grunde eine Art Tagebuch eines Menschen, der durch das Leben reist, jeden Tag mit Herausforderungen, Erfahrungen und dem Leiden anderer Menschen konfrontiert wird und darüber in einem existenziell-biblischen Format nachdenkt.
Diese Notizen helfen uns, die Meilensteine auf unserem Weg festzuhalten. Es ist sehr wichtig, das jetzt festzuhalten. Wir arbeiten gerade in meinem Institut an einem Buch, es ist buchstäblich schon in der Endphase, wir arbeiten schon am Umschlag, in dem wir 12 Geschichten von Menschen, alles Christen, über ihre Erfahrungen im Krieg gesammelt haben. Das Buch heißt „Licht im Tal des Todesschattens“. Dmitri (einer der Gesprächsteilnehmer) ist übrigens auch einer der Autoren dieses Buches.
Warum war es dir so wichtig, dass ich auch dabei bin?
Ich arbeite schon lange mit dem britischen Verlag Langham Publishing zusammen, nehme manchmal an den großen internationalen Buchmessen teil und habe Kontakte zu anderen theologischen Instituten in den USA. Als ich im Herbst 2023 eine dieser Buchmessen besuchte, war es für mich sehr schwer zu verstehen, dass es nichts Theologisches über unseren Krieg gab, obwohl Dutzende der größten christlichen Verlage, akademische und nicht nur theologische, anwesend waren.
Dass es 2022 so war, konnte ich noch verstehen. Aber 2023 war es schon schwieriger zu verstehen, als jede auch nur minimale theologische Reflexion über das Thema des Krieges in der Ukraine einfach fehlte.Es gab überhaupt nichts.Es ist mir wichtig, hier das Wort "menschlich" hinzuzufügen.
Schon 2023, als der neue Krieg in Gaza ausbrach, gab es einerseits ein großes Seminar eines israelischen Theologen, das sehr gut besucht war. Auf der anderen Seite hatten christliche palästinensische Theologen ihr eigenes Seminar, das ebenfalls von Dutzenden von Menschen besucht wurde. Die ukrainische Frage war dort sehr präsent, obwohl dieser Krieg, den wir heute erleben, um ehrlich zu sein, ein Krieg in großem Maßstab ist und unglaublich viel schrecklicher als das, was in Israel passiert, was die Zahl der betroffenen Menschen und das Ausmaß der Zerstörung angeht. Und das hat mich ein bisschen beunruhigt, würde ich sagen.
Theologische Reflexion der Kriegserfahrungen in der Ukraine
Deshalb habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, einige Bücher vorzubereiten, die der Welt Zeugnis von unseren Erfahrungen geben. Das ist noch nicht viel theologische Reflexion. Die theologische Reflexion wird eines unserer anderen Projekte sein, das ich später vorstellen werde.
Das Ziel des ersten Buches ist es, zu zeigen, wie ukrainische Christen, die im Militärdienst stehen, ihre Familienangehörigen, Freiwillige, Seelsorger und andere Betroffene durch den Krieg gehen, wie sie den Krieg erleben und wie er ihre Beziehung zu Gott, ihr Gebetsleben und ihr Verständnis der Rolle der Kirche beeinflusst.
Welche Form der Theodizee sie dabei entwickeln, wie sie ihre vielleicht früher eher pazifistische christliche und theologische Haltung mit der Notwendigkeit, zu den Waffen zu greifen und ihre Feinde zu bekämpfen, in Einklang bringen.Es ist mir sehr wichtig, all dies nicht nur unserer ukrainischen Gesellschaft zu zeigen, in der es viele Stereotypen über freikirchliche Christen gibt. Aber 2023 war es schon schwieriger zu verstehen, als jede auch nur minimale theologische Reflexion über das Thema des Krieges in der Ukraine einfach fehlte.
Es ist mir sehr wichtig, all dies nicht nur unserer ukrainischen Gesellschaft zu zeigen, in der es viele Stereotypen über freikirchliche Christen gibt. Viel wichtiger ist es mir, dass ein breiteres Publikum, vor allem im Westen, eine Vorstellung davon bekommt, was es heißt, wirklich im Krieg zu sein, um etwas von der Tiefe unserer schrecklichen Erfahrungen, unserem Schmerz und unserer Verzweiflung und allem, was damit verbunden ist, zu erfahren.
Manchmal scheint mir die Last, die wir alle tragen müssen, wenn wir unter diesem Krieg leiden, zu schwer zu sein. Auf die eine oder andere Weise leiden wir alle.Es wäre irgendwie falsch, nicht darüber zu sprechen.Und gleichzeitig muss man immer wieder erklären, was bei uns passiert. Das heißt, ich trage eine doppelte Last. Das gilt auch innerhalb der Ukraine. Denn auch in der Ukraine erleben wir diesen Krieg nicht überall gleich intensiv und erfahren ihn deshalb unterschiedlich.Aber jede Erfahrung ist wichtig für uns. Oder wenn ich in den Westen fahre, zu meinen Freunden und Unterstützern, dann muss ich wieder versuchen, ihnen das alles irgendwie zu erklären. Dann sind sie erstaunt und fragen, ob wir überhaupt noch arbeiten können. Und dass man nicht nur die Medien hören soll, sondern auch unsere Stimme.
Deshalb interessiert es mich, was die Leute dort über uns lesen. Wenn ich mir anschaue, was die Ukrainer an Büchern kaufen, dann sehe ich viel Eskapismus, was sehr verständlich und nicht untypisch ist in Zeiten des Krieges, vielleicht noch verständlicher in Zeiten des Krieges. Manchmal ist das sogar bis zu einem gewissen Grad nützlich. Gleichzeitig kaufen die Ukrainer viele Bücher über vergangene Kriege. Was in der Geschichte passiert ist, ist für sie sehr interessant und hilft ihnen, über den Krieg nachzudenken. Aber man kann noch so viel lesen und nachdenken, den Sinn eines Krieges versteht man nie.
Warum muss man sich im Westen immer noch besonders mit diesem Krieg auseinandersetzen?
Wir haben schon einmal darüber gesprochen, als es um das Vermächtnis von Dietrich Bonhoeffer ging. Als Hitler 1933 an die Macht kam, hat Bonhoeffer im Ausland versucht, christliche und sozialistische Organisationen davon zu überzeugen, nicht mehr mit der deutschen Kirche zusammenzuarbeiten, indem er seine Mitgliedschaft in der Sozialistischen Internationale ausnutzte.Nach der Machtergreifung Hitlers schufen die Nazis die so genannte «Deutsche Reichskirche», die es vorher nicht gegeben hatte, als faktisch einzige Kirche in Deutschland.Vorher gab es verschiedene Landeskirchen, jetzt gab es nur noch eine deutsche Kirche mit einem Bischof an der Spitze, der die Reichsideologie vertrat.
Bonhoeffer forderte damals die Menschen im Westen auf, nicht mehr mit den Kirchen in Deutschland zusammenzuarbeiten.Die meisten Bischöfe gehörten zu den «Deutschen Christen» und stellten sich offen auf die Seite Hitlers.Sie verließen ihren alten Kirchenbund und schlossen sich dem neuen Reichskirchenbund an.Ein Rest blieb, schwieg aber, wie die große Masse, die nicht einverstanden war.Was blieb, war nichts als eine Schoßkirche.
Oder wenn ich in den Westen fahre, zu meinen Freunden und Unterstützern, dann muss ich wieder versuchen, ihnen das alles irgendwie zu erklären. Dann sind sie erstaunt und fragen, ob wir überhaupt noch arbeiten können. Dann muss ich erklären, dass wir hier weiter arbeiten müssen, damit wir leben können.Und dass man nicht nur die Medien hören soll, sondern auch unsere Stimme.
Bonhoeffer, der, wie wir heute wissen, an der Widerstandsbewegung gegen die Nazis beteiligt war, sagte dies auch zu Karl Barth, als es ihm gelang, während des Zweiten Weltkrieges in die Schweiz zu fliehen, wo er in Basel in relativer Sicherheit seine kirchliche Dogmatik weiterschrieb. Barth war sehr überrascht, dass sich ein Theologe wie Bonhoeffer für eine so weltliche Sache wie den Widerstand engagierte. Bonhoeffer erzählte ihm von den politischen und militärischen Aktionen, an denen er selbst teilgenommen hatte.
Das heißt, sein Mentor und Lehrer, das große Vorbild in seinem theologischen Leben, wusste von seinem Engagement. Das können wir in der heutigen Situation in der Ukraine sehr gut nachvollziehen.
Wenn ich ins Ausland reise, spüre ich immer wieder die gleiche Verwandtschaft, wenn ich dort Ukrainer treffe.Buchstäblich in wenigen Minuten finden wir eine gemeinsame Sprache, weil wir die gleichen Erfahrungen haben, die gleichen Traumata und Stigmata, die wir mit uns herumtragen und die uns verbinden.Sie sind wie die typischen Zeichen einiger Indianerstämme, die sie auf ihren Körpern tragen und die es ihnen ermöglichen, einander sofort zu erkennen.
Genauso können wir Ukrainer uns gegenseitig schnell erkennen und die Erfahrungen der anderen verstehen.Menschen, die die gleichen Erfahrungen gemacht haben, haben es sehr schwer, andere zu verstehen, die nicht die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Warum kam es damals nicht zum Bruch zwischen Kirche und Kommunismus? Das hätte nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen müssen.Aber es kam nie zu einem vollständigen Bruch zwischen der Sozialistischen Internationale und den deutschen evangelischen Kirchen. Wir hätten uns das damals gewünscht. Wir verstehen uns in dieser Frage mit dem Westen bis heute nicht.
Und zwar nicht nur, wenn wir über unser protestantisches Umfeld sprechen. Wenn wir von unseren griechisch-katholischen und orthodoxen theologischen Partnern sprechen, können wir noch nicht sagen, dass es uns Christen in der Ukraine gelungen ist, ein einzigartiges theologisches Projekt zu schaffen, das nicht nur auf unsere lokalen kontextuellen Bedürfnisse und Erfahrungen antwortet, sondern auch das ganze Leiden und Seufzen dieser Welt einschließt.
In diesem Sinne erlaube ich mir, ein kleines Beispiel zu geben. Wir arbeiten gerade an einem weiteren Buch, das noch in diesem Jahr erscheinen soll. Es handelt sich um theologische Reflexionen.Es ist ein kontextueller Kommentar zu den Seligpreisungen des Johannes Chrysostomus. Acht ukrainische Bibelwissenschaftler schreiben jeweils einen Kommentar zu einer der Seligpreisungen, dazu kommt eine umfangreiche Einleitung.
In diesem Buch versuchen wir zu verstehen, was es für uns Christen heute bedeutet, gesegnete Friedensstifter zu sein, in einer Zeit, in der unsere gemeinsame Heimat Opfer von Aggression und Krieg ist, die unsere Existenz bedrohen. Was heißt in diesem Kontext: «Selig sind, die Frieden stiften.» Oder: «Betet für die, die euch verfluchen.» Wie kann man ein reines Herz haben, wenn man jeden Tag von all diesen Verbrechen hört, von Hinrichtungen von Kriegsgefangenen und all diesen Dingen, und was mich am meisten erschreckt, wenn ich höre, dass die Ukrainer in den besetzten Gebieten tatsächlich russifiziert werden und dass junge Leute sogar Appelle an Putin schreiben und ihm danken und Verständnis zeigen, wenn er weitermacht und so weiter.
Wir sehen das zum Beispiel bei Menschen, die an Militäroperationen teilgenommen haben, vielleicht sogar an der Front gekämpft haben. Die verstehen sich besser als alle anderen. Zum ersten Mal in unserem Leben erleben wir alle hier einen modernen Krieg, der nicht nur ein Video ist. Wir leben heute sogar in einer Zeit, in der wir den Krieg live miterleben, dass wir heute in einer Zeit leben, in der wir alle den Krieg live miterleben können. Darüber habe ich schon viel geschrieben. Der Irak-Krieg, die amerikanische Invasion im Irak, hatte schon einige Elemente davon, aber damals gab es noch keine sozialen Medien, es gab kein YouTube, wir konnten es nur im Fernsehen sehen. Heute leben wir in einer Zeit, in der der Krieg 24 Stunden am Tag live übertragen wird.Wenn Susan Sonntag in ihrem Buch „Regarding the Pain of others“ über den Krieg schreibt, konnte sie ihn nur durch Kriegsfotografie kennen lernen. Aber das endet im Irak. Virginia Woolf konnte uns in ihren Büchern den Schrecken des Krieges eigentlich nur durch die Berichte anderer beschreiben.
Hat Susan Sonntag nach dem Irak-Krieg wirklich nichts mehr über den Krieg geschrieben?Sie könnte uns heute die Realität des Krieges viel eindringlicher vor Augen führen. Ich für meinen Teil wünsche mir ein weiteres Buch von ihr, diesmal im Zusammenhang mit der Ukraine.
Das meine ich: Wenn wir bei uns ein nationales theologisches Projekt entwickeln, dann muss es auch mit universellen menschlichen Erfahrungen verwoben sein. Wenn wir also über unser Projekt zu den Seligpreisungen sprechen, die von Theologen kommentiert werden, sagen wir immer, dass es uns wichtig ist, dass wir die Antwort auf die Frage, wie sie zu verstehen sind, nur auf der Grundlage dessen geben können, was wir in der Ukraine erfahren.
Da wir Leserinnen und Leser in der ganzen Welt erreichen wollen, müssen sie auch das finden, was sie selbst beschäftigt. Zum Beispiel die Tragödien im Sudan, in Ruanda, der Krieg auf dem Balkan, der Krieg im Nahen Osten, die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren in China und was sonst noch in der Welt passiert. Das bedeutet, dass unser Projekt auch eine Ressource für andere sein sollte, die nicht nur unseren eigenen Bedürfnissen und Erfahrungen entspricht, sondern auch anderen in ähnlichen Situationen hilft. In diesem Sinne versuchen wir in unserem Projekt unterwegs zu sein.
Interessanterweise scheint mir, dass dies nicht nur für unser theologisches Projekt gilt, sondern auch für andere Bereiche, wie z.B. unsere Poesie oder unsere Filmarbeit. Wir haben im Moment eine besondere Chance für sehr viele Projekte, die wir über die Ukraine machen können, wenn wir nur wollen.Das westliche Publikum kommt nicht einfach zu uns, sondern wir kommen zu ihm.Im Allgemeinen ist es sehr launisch, wie alle, die sich für Filme interessieren. Es sei denn, sie sehen etwas, das ihnen sehr nahe geht.Für uns ist das eine gute Herausforderung, aber auch eine gewisse Last.Ich für meinen Teil wünsche mir ein weiteres Buch von ihr, diesmal im Zusammenhang mit der Ukraine.
Das ist eine der Fragen, die ich mir auch stelle. Aber warum sollte ich gerade heute nicht nur an mich denken, an uns und an den Krieg?
Weil wir sehen müssen, dass dieser Krieg nicht nur uns betrifft. Wir müssen eine Sprache finden, die zeigen kann, dass es Zusammenhänge gibt, die alle Menschen betreffen. Auf diesem Gebiet ist schon viel getan worden. Wir haben bereits über die Erfahrungen auf dem Balkan gesprochen. Auf dem Balkan gibt es einige sehr gute Autoren, zum Beispiel die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic. Sie hat das Buch "They wouldn't hurt a Fly" geschrieben, das sehr gut aufgenommen wurde. Es gibt auch andere Texte, die uns beschreiben, was wir während des Krieges im Donbas erlebt haben. Menschen, die vorher völlig friedlich miteinander gelebt haben, haben in der Extremsituation des Krieges plötzlich eine ganz andere Seite gegenüber ihren eigenen Nachbarn gezeigt, haben sich wie Kannibalen verhalten, schreckliche Verbrechen begangen und sind dann wieder scheinbar friedlich aufgetreten, als ob nichts gewesen wäre.
Hannah Arendt, «Die Banalität des Bösen», die klassische Studie zu diesem Thema.
Es ist wirklich ein Klassiker.Und ich sage auch, dass die palästinensischen christlichen Theologen zu unserem Thema uns etwas zeigen können, auch wenn sie in der Ukraine nicht akzeptiert werden. Es gibt einige wunderbare palästinensische Theologen, die Christen sind, die auch mit einer sehr schwierigen Situation leben müssen.Sie sind gezwungen, ihre Stimme im Dreieck eines sehr komplexen Konflikts zwischen Juden, Muslimen und Christen in derselben Region zu erheben, wie es zum Beispiel die bereits erwähnte Joyce Mansour und andere versuchen. Sie hat einige sehr interessante Werke über die Situation der palästinensischen Christen geschrieben, die sich in einem sehr schrecklichen, ständigen Erdbeben befinden.
In anderen Werken finden wir die gleiche Situation in den vielen Konflikten in Afrika. Die Langham-Stiftung, mit der ich zusammenarbeite, hat dazu eine ganze Reihe von Büchern herausgegeben, zum Beispiel über den Konflikt in Ruanda, diesen schrecklichen Völkermord, den ein afrikanischer Theologe theologisch sehr gut beschrieben hat. Oder zum Beispiel die Ereignisse in Südafrika. Aus einem Seminar bei uns in der Ukraine ist dazu ein nichttheologisches Buch entstanden, das dann von einem Verlag herausgegeben wurde, in dem es auch um den Völkermord in Ruanda geht. Wer sich dafür interessiert, kann es sich bei mir anschauen. Es enthält Zeugenaussagen über den Völkermord in Ruanda. Es ist sehr tiefgründig.
Aber es ist interessant, wenn ich versuche, einen großen Teil davon in unsere Situation zu übersetzen und dann zu veröffentlichen, wird es für euch immer noch ein großer Unterschied zu unserer Situation sein. Aber was das Buch über die Seligpreisungen betrifft, das wir mit unseren eigenen Theologen vorbereiten, so bin ich sicher, dass es von den Ukrainern so aufgenommen wird, als wäre es eines von ihnen.
Das heißt, der Kontext spielt immer eine große Rolle. Natürlich beeinflusst uns auch unsere theologische Ausbildung.
Und auch unsere eigene ukrainische Emotionalität ... Auch die Afrikaner dort sind emotional. Ja, sie lieben auch die offene Konfrontation ... Ich glaube, wir sind alle noch auf der Suche nach dieser Stimme, die von allen gehört wird. Dieses Buch wird einer der ersten Versuche sein, unsere Kriegserfahrungen auch theologisch zu verstehen.
Aber als Christen haben wir einen großen Vorteil gegenüber allen anderen: Wir haben die Bibel. Das heißt, wir können unsere eigenen Erfahrungen im Licht der Bibel reflektieren. Die Bibel enthält viele Geschichten, die im Zusammenhang mit schrecklichen Kriegen geschrieben wurden. Tatsächlich sind die meisten biblischen Texte in Kriegszeiten entstanden.
Das ist eine sehr gute Bemerkung. Auch wenn wir weiter darüber nachdenken... Ich habe diese Situationen in meinem Dienst, wenn ich an Weihnachten, diesem großen Tag, etwas zu den Soldaten oder zu den Familien der Kriegsopfer sagen soll. Das Einzige, woran ich mich dann festhalte und was mir hilft, etwas zu sagen, sind die Geschichten anderer Menschen, die den Krieg selbst erlebt haben. So suche ich Brücken zu unseren Leuten. Da ich selbst den Krieg nicht als Opfer erlebt habe, kann ich nicht wirklich von mir erzählen.
Es gab mal eine Dokumentation auf ARTE über den Krieg in Ruanda. Aber das war mehr Propaganda für die heutige Regierung in Ruanda, aber sehr kreativ.
Es gab eine einzige sehr wichtige Botschaft, und das war sehr gut gemacht, großes Kino. Ich habe den Film bei einigen Treffen gezeigt, wegen dieser einen Botschaft: Vergebung. Es wurde gezeigt, wie diese Menschen, die jetzt ohne Gliedmaßen und so weiter leben müssen, denen sogar Arme und Beine abgehackt wurden, ihren Tätern vergeben. Mit einigen von ihnen bin ich jetzt befreundet, wir kommunizieren über das Internet, und sie alle sagen mir, dass sie vergeben haben. Das ist die Hauptbotschaft des Films, dieser Blick auf die Vergebung. Halleluja.
Ich habe den Film vor dem Krieg gesehen. Aber wenn du ihn mir heute zeigen würdest, würde er mir sicher nicht helfen.
Wie funktioniert der Prozess der Vergebung der Opfer gegenüber ihren eigenen Tätern?
Vor zwei Tagen habe ich an einer Sitzung des Exekutivausschusses europäischer freikirchlicher Theologen teilgenommen, dem ich angehöre. Wir haben über das Thema der nächsten Konferenz gesprochen. Jedes Jahr findet eine allgemeine europäische theologische Konferenz statt. Ich spreche natürlich darüber, weil ich als Abolitionist eingeladen wurde, über das Thema Krieg und Frieden zu sprechen, um die Einzigartigkeit meiner Erfahrung zu zeigen.
Meine niederländischen, belgischen und französischen Gesprächspartner betonten, dass unsere Kriegserfahrung für sie nicht einzigartig sei. Das haben sie mir als ehemalige Kolonialherren gesagt. Sie erzählten zum Beispiel, wie die Deutschen die Niederlande besetzten und dann behaupteten, es gäbe gar keine Niederländer. Sie haben auch versucht, unsere nationale Identität zu zerstören, und unsere niederländische Fußballnationalmannschaft wollte bis in die 80er Jahre nicht mit der deutschen Fußballnationalmannschaft zusammen spielen. Wir hatten damals so schreckliche Ressentiments gegen alles Deutsche. Mit den Belgiern ist es noch schwieriger, über diese Geschichte zu sprechen, denn sie mussten sie gleich zweimal durchleben. Im Ersten Weltkrieg war Holland nicht von den Deutschen besetzt, im Zweiten Weltkrieg schon, aber Belgien musste zweimal überleben.
Das war eine sehr schreckliche deutsche Invasion. Das berühmteste Beispiel, über das ich jetzt sprechen werde, ist die Bibliothek der Universität Löwen, eine klassische mittelalterliche Bibliothek in der größten katholischen Universität Europas. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und die Deutschen in Belgien einmarschierten, schossen Partisanen von den Feldern aus auf die deutschen Soldaten und töteten einige von ihnen, und als Vergeltung zerstörten die Deutschen diese wertvolle Bibliothek, erschossen Hunderte von Einwohnern von Löwen und brannten zahlreiche Gebäude nieder, darunter auch die Bibliothek mit ihren einzigartigen Manuskripten. In der Zwischenkriegszeit wurde die Bibliothek mit Hilfe von Spenden aus aller Welt wieder aufgebaut. Auch für die Anschaffung neuer Bücher und die Restaurierung wertvoller Manuskripte wurden Spenden gesammelt. Kaum war all dies geschehen, brach der Zweite Weltkrieg aus und die Bibliothek wurde erneut zerstört.
Diese Erfahrung, sagten sie, sei die gleiche wie bei uns in der Ukraine. Sie waren es also, die dachten, ihre Erfahrung sei einzigartig, aber so einzigartig ist sie nicht.
Aber wovon reden wir, wenn wir deine Frage beantworten? Das wird alles später sein, vielleicht erst in dreißig Jahren. Aber irgendwann werden wir darüber sprechen können.
Nehmen wir zum Beispiel die deutsch-polnische Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wissen, dass Deutschland, die damalige BRD, die Grenzen Polens erst Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre offiziell anerkannt hat. Die Deutschen konnten sehr lange nicht akzeptieren, dass Teile des ehemaligen deutschen Territoriums für immer verloren waren. Das war ein sehr schwerer Schritt für sie. Aber dieser Prozess hat stattgefunden, auch wenn er sehr schwierig war. Aber bis heute gibt es diese Wunden zwischen Polen und Deutschen. Der Nordirlandkonflikt war sehr schwierig und sehr kompliziert. Es hat sehr lange gedauert, sehr lange.
Wenn ich noch einmal auf das Werk von Volf «Ausgrenzung und Umarmung» zurückkommen darf, so hat er uns dieses Problem sehr gut beschrieben. Er sagt, dass Vergebung eigentlich erst dann möglich wird, wenn Opfer und Täter sich einig sind, dass es diese gemeinsame Geschichte gegeben hat.
Natürlich sind wir heute unter den Bedingungen des russischen Angriffs, dass das einmal möglich sein wird, und wir wissen auch nicht, ob es jemals geschehen wird. Wir sind die Opfer dieser Geschichte des kannibalischen Angriffs des russischen Imperiums, aber die russische Erzählung ist eine ganz andere.
Es war ein sehr komplizierter und schmerzhafter Prozess, damals in Südafrika, als die Verantwortlichen der Apartheid und ihre Opfer endlich zusammenkamen, um die gleiche Geschichte zu erzählen. Diejenigen, die für die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung Südafrikas verantwortlich waren, lebten wie in einem anderen Staat, innerhalb des Staates. Diese Unterdrücker erkannten, dass sie im Unrecht waren, dass es wirklich schrecklich war, was wir der schwarzen Bevölkerung angetan hatten. Erst dann kam es zu einer Art nationaler Versöhnung. Also ich glaube, es wird ein sehr, sehr langer Prozess sein, bis wir überhaupt darüber sprechen können. Und Miroslav Wolf spricht immer wieder von seinen schrecklichen Erfahrungen.
Aber letztlich geht es ihm darum, dass wir uns irgendwann einmal über das, was wir gemeinsam erlebt haben, einigen können, aber das heißt nicht, dass wir einfach so weitermachen müssen wie bisher, sondern dass wir uns erst einmal trennen und lange Zeit in verschiedene Richtungen gehen. Das heißt nicht, dass wir schon Freunde werden oder zusammen Kaffee trinken müssen.
Den Krieg „live“ erleben
Es ist auch interessant, über die Rolle der digitalen Technologien auf dieser sehr langen Reise nachzudenken. Wir haben schon darüber gesprochen, dass die Ereignisse dieses Krieges heute schon dokumentiert sind und wir heute alles buchstäblich live miterleben können.
Das betrifft auch, sagen wir heute, das Festhalten von Erinnerungen und deren spätere Erforschung. Nehmen wir zum Beispiel den Zweiten Weltkrieg. Natürlich verlief die Frontlinie auch durch das Gebiet, in dem wir uns damals befanden, mit all den Schrecken, die damit verbunden waren, und es gab die deutsche Besatzung. Aber letztlich lebten die Menschen auf beiden Seiten der Front ihr Leben...
Damals schrieben die Zeitungen nur gefilterte Nachrichten, oft völlig losgelöst von der Realität des Krieges, und diese illustrierten ihn mit eindringlichem Charakter. Heute erleben wir diesen Krieg buchstäblich jede Minute, jede Sekunde. Das erste, was du morgens machst, ist im Internet nachzuschauen, was in der Nacht passiert ist, wo die Treffer waren und wer alles, den du kennst, getötet wurde. Deine Freunde schicken dir Videos von Bomben, die in deiner Nähe oder bei Leuten aus deiner Kirche explodiert sind. Und dann sehen wir das die ganze Zeit.
Diese Totalität des Krieges.
Ja, die absolute Totalität des Krieges beherrscht uns alle. Das gibt jeder Erfahrung eine ganz andere existenzielle Dimension. Er fesselt unser Sehen, unser Hören. Wir hören die Sirenen, die ständig heulen, wir hören die Explosionen, wir hören, wie unsere Luftabwehr funktioniert und so weiter. Vor allem in Kyjiw hört man das viel öfter als ich in Lemberg. Und natürlich werden uns diese traumatischen Erlebnisse noch sehr, sehr lange begleiten. Vielleicht kommt irgendwann der Punkt, an dem wir alle darüber reden und es mit dem Thema unseres Gottesdienstprojektes verbinden können. Hoffentlich müssen wir nie wieder so eine einmalige Erfahrung machen, dass der Krieg uns völlig beherrscht.
Wo auch immer du bist, wenn du uns zuhörst, ich habe letzte Woche mit meiner Freundin gesprochen, die nicht mehr in der Ukraine lebt. Sie kam zu uns, um ihre Eltern zu besuchen, und erzählte uns wie ein Schatten, dass sie sich im selben Informationsraum wie wir befindet und alles mitverfolgt. Es spielt keine Rolle mehr, wo du bist. Sie erlebt diesen Krieg live, hunderte Kilometer von der Ukraine entfernt.
Ich denke, es wird eine Zeit kommen, in der es viele auch theologische Werke geben wird, die sich mit der Analyse dieser Erfahrungen beschäftigen. So etwas wie das, was Miroslav Wolf für das ehemalige Jugoslawien geschrieben hat. Das war für ihn ein sehr wichtiges Werk und vielleicht das wichtigste theologische Ergebnis der Balkankriege, das geschrieben wurde.
Was lesen Theologinnen und Theologen?
Wir haben heute viel von Theologie gesprochen. Für viele, die uns zum ersten Mal hören, wahrscheinlich zu viel. Deshalb möchte ich mit einer Frage schließen. Was liest du, Roman Soliviy, während des Krieges?
Meistens das Gleiche wie vor dem Krieg. Das sind vor allem große Romane, meistens von nichtwestlichen Autoren. Meine Nummer eins auf der Liste meiner Lieblingsautoren ist der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk. Er schreibt fantastische Romane. Sein Roman über die Geschichte Istanbuls ist unglaublich interessant.
Warum gerade dieser Autor?
Weil er an einem Ort lebt, der mich am meisten interessiert, an der Schnittstelle der Kulturen. Der heute sehr berühmte Schriftsteller Orhan Pamuk, der in der Tradition des westlichen Romans aufgewachsen ist, bringt diese auf seinen türkischen Boden. Das Ergebnis sind wunderbare Texte, die die Zerrissenheit der türkischen Kultur aufzeigen, die an der Schnittstelle zwischen osmanischer und byzantinischer Kultur entstanden ist. Istanbul selbst ist dafür ein perfektes Beispiel. Sein Istanbul gewidmeter Roman «Eine Geschichte der Stadt der Erinnerungen» ist ein Beispiel für sein Werk, für das er auch den Nobelpreis erhielt.
Der zweite ist der katalanische Schriftsteller Jaume Cabé, ein Land, das in gewisser Weise immer ein Teil Spaniens war und ist, das aber Angst hat, seine eigene kulturelle Identität zu verlieren. Das war schon während der Franco-Ära besonders schwierig. Darüber schreibt er sehr gut. Er schreibt auch über seine eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg.
Und der dritte ist der japanische christliche Schriftsteller Endō Shūsakuhusaku, der über die Geschichte und den Alltag der japanischen Christen in Japan nachdenkt, dieser sehr kleinen Minderheit angesichts der großen traditionellen shintoistischen und buddhistischen Kultur, die dieses Land seit vielen, vielen Jahrhunderten beherrscht.
Sein Buch "Stille" wird demnächst verfilmt. Es gibt noch einen anderen sehr interessanten japanischen Schriftsteller, Haruki Murakami, der auch sehr berühmt ist und vielleicht besser als viele andere die Tiefe und Komplexität der japanischen Kultur zum Ausdruck bringt. Aber Endō Shūsaku ist für mich besonders interessant in dem Sinne, dass er einer der wenigen christlichen Schriftsteller in Japan ist. Ich glaube, solche großen Werke sind wirklich selten.
Orhan Pamuk zeigt uns in einer Sammlung seiner Essays über die Kunst des Schreibens, warum wir uns so sehr zu großen Werken der Fiktion, zu großen Romanen hingezogen fühlen. Er sagt, dass dies auch eine Form der Flucht vor der eigenen Realität ist, weil wir dort die Möglichkeit finden, ein anderes Leben zu führen. Wenn ein Roman für mich gut ist, dann ist er immer in einen historischen Kontext eingebettet, aus dem sich eine spannende Handlung ergibt, in der ich interessante Charaktere finde und bei der Lektüre für zwei bis drei Stunden ein anderes Leben führe.
Es ist interessant, dass dieser Eskapismus in gute Literatur, in eine bestimmte Fiktion, uns dann vielleicht als Person mit einer etwas anderen Identität, sagen wir, ins wirkliche Leben zurückbringen kann, was uns zu einer tieferen Erfahrung und einem besseren Verständnis der Vielfalt der Welt, in der wir leben, führt, und durch die Komplexität der Geschichten finden wir uns selbst darin wieder. Ich glaube, wenn wir anfangen, unsere Erfahrungen während des Krieges zu analysieren, wäre wahrscheinlich kein Schriftsteller in der Lage, so komplexe Geschichten zu schreiben, wie wir sie gerade erleben.
Kommentar schreiben