Nawalnys Strategie des Überlebens
Bild Wikipedia: Von Евгений Фельдман / Новая газета - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27406006
Das Buch "Alexej Nawalny: Patriot, meine Geschichte" (S. Fischer, 2024) ist sehempfehlenswert. Was er uns über sein Leben schreibt, ist nicht nur wichtig im Blick auf unsere globale Lage, sondern auch als Hilfe zur Resilienz, wenn wir selbst bedroht sind.
Nawalny wurde häufig gefragt, warum er unbedingt nach Russland zurückzukehren wollte. Mit viel Glück hatte er vor den Versuch seiner Tötung mit Nervengift überlebt. Er war sich des Risikos sehr wohl be wusst, dass man ihn wohl bald erneut verhaftet mit falschen Begründen anklagen würde. Doch er wollte seine Überzeugung, dass ein besseres Russland möglich wäre, nicht aufgeben und wie viele Russen nur resignieren. Und er war bereit, notfalls auch dafür sein eigenes Leben zu opfern.
Was er kurz vor seinem Tod schrieb, ist ein überaus wichtiges Testament, das sie ganze Welt hören sollte. Deshalb einige Zitate aus dem Epilog des Buches.
Wie schon gesagt: Mich dem Wunschdenken hinzugeben (darüber, wann das Regime zusammenbrechen wird und ich freikommen werde), ist das Schlimmste, was ich tun kann. Das Vertrauen darauf, dass man bald entlassen wird, das Warten darauf, ist nur eine Art Selbstquälerei.
Hier sind die Techniken, die ich ausgetüftelt habe. Vielleicht mögen andere sie in Zukunft nützlich finden (aber lasst uns hoffen, dass es nicht gebraucht wir).
Das erste findet sich oft in Selbthilfebüchern: Stell dir das Schlimmste vor, was passieren kann, und akzeptiere es. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass es für Menschen, die unser klinischer Depression leiden, nicht verträglich ist. Sie könnten sie so erfolgreich anwenden, dass sie sich schliesslich aufhängen. Leg dich in dein Stockbett (Nawalny lebte zuletzt im Gefängnis für äusserst Gefährliche) und warte, bis du 'Licht aus' hörst. Die Lichter werden ausgeschaltet. Dann versuchst du dir so realistisch als möglich vorzustellen, was als Schlimmstes passieren kann. Und dann akzeptierst du es (überspring dabei die Phasen der Verleugnung, der Wut und des Feilschens).
Ich werde für den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und dort sterben. Es wird niemand da sein, von dem ich mich verabschieden kann.
Wenn du ernsthaft darüber nachdenkst, wird deine Vorstellungskraft dich so schnell durch deine Ängste jagen, dass du Nullkommanichts bei deinem 'Augen voller Tränen'-Ziel angekommen bist. Das Wichtigste dabei ist, dass du dich nicht mit Wut, Hass und Rachefantasien herumquälst, sondern sofort zur Akzeptanz übergehst. Das kann hart sein.
Ich hatte Schwierigkeiten, dem Drang, alles um mich herum vor Wut kurz und klein zu schlagen, zu widerstehen. Ich wollte brüllen: Ihr Bastarde! Ihr habt kein Recht, mich in einem anonymen Grab zu verbuddeln. Das ist gegen das Gesetz! Es ist nicht fair!
Der Prozess, der dabei in deinem Kopf abläuft, ist nicht ganz unkompliziert, aber falls du dich selbst einmal in einer schlimmen Situation befindest, solltest du es versuchen. Es funktioniert, solange du alles ernsthaft durchdenkst.
Die zweite Technik ist so alt, dass du vermutlich mit den Augen rollst, wenn du davon hörst. Es ist die Religion. Diese Technik ist nur für Gläubige anwendbar, erfordert aber keine glühenden Gebete am Fenster der Gefängnisbaracke dreimal am Tag (ein sehr häufiges Phänomen in Gefängnissen).
Der Glaube macht das Leben einfacher.
Die Ausgangsposition für diese Übung ist die gleiche wie für die vorhergehende. Du liegst in deinem Stockbett, schaust auf das Bett über dir und fragst dich, ob du im tiefsten Herzen Christ bist. Es ist nicht entscheidend, ob du glaubst, dass ein paar alte Männer in der Wüste einst achthundert Jahre alt wurden oder dass sich das Rote Meer vor jemandem teilte. Aber du bist ein Anhänger jener Religion, dessen Gründer sich für andere opferte und den Preis ihre Sünden zahlte? Glaubst du ehrlich an die Unsterblichkeit der Seele und das andere coole Zeug? Wenn du aufrichtig mit 'Ja' antworten kannst, worüber musst du dir dann noch Sorgen machen? Warum solltest du hundertmal etwas leise vor dich hin murmeln, das zu in einem dicken Buch auf deinem Nachttisch gelesen hast? Sorgt Euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen.
Meine Aufgabe ist es, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen und es dem guten alten Jesus und seiner Familie zu überlassen, sich um 'alles andere' zu kümmern. Sie werden dich nicht im Stich lassen und alle Probleme lösen, die mir Kopfschmerzen bereiten. Wie es hier im Gefängnis heißt: Sie werden für mich die Schläge einstecken.
Mit diesen Zeilen endet das ganze Buch.
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