Das Gefühl eines Wunders
Im folgenden Text handelt es sich um einen Abschnitt aus dem Beitrag "Weihnachten in Charkiw" von Sergej Gerasimov in der NZZ vom 21. Dezember 2024. Weihnachten ist eine Zeit für besondere Gedanken. Was berührt uns in dieser Zeit? Wie haben wir Weihnachten im Laufe unseres Lebens erfahren?
Bild: Ikone "Weihnachtsspiel" von Oksana Andrushenko, Weihnachtsausstellung 2024, Iconart Lwiw (Bild verkauft)
Der Autor zeigt uns auch, wie anders Weihnachten war, als es in der Ukraine verboten war und das Fest umgedeutet wurde. Auch bei uns erleben wir eine Umdeutung. Der eigentliche Inhalt geht verloren, das Fest wird zur grossen Familienfeier. Bei uns war das Christliche nie verboten, aber es wird zu etwas, was in seiner Bedeutung nicht mehr bekannt ist oder obsolet. Wir im Westen entsakralisieren und selbst und schaffe unsere eigenen Rituale.
Weihnachten ist das einzige Fest, an dem man sich gleichzeitig als Erwachsener und als Kind fühlt, und vielleicht verkörpert man damit sogar jene weisere Version seiner selbst, die man eines Tages sein wird – und deshalb spürt man an Weihnachten ein Körnchen ewiger Weisheit im Herzen und möchte über grosse Dinge nachdenken.
Dieser Weihnachtsbaum ist in gewissem Sinne genau derselbe Baum, den deine Eltern einst für dich geschmückt haben, auch wenn er ein wenig anders aussieht. Weihnachten heute und Weihnachten gestern fühlen sich wie alle Weihnachten nicht wie verschiedene Feiertage an, sondern wie ein und dasselbe Fest, zu dem man immer wieder zurückkehrt. Und ja, in gewisser Weise ist diese Weihnacht dieselbe Weihnacht, die vor über zweitausend Jahren im Heiligen Land stattfand. Solches kann man von Geburtstagen oder von Neujahr nicht behaupten, die einen wie ein Minutenzeiger einen Schritt in der Zeit vorwärtsbringen, ob man will oder nicht.
Ich erinnere mich an Weihnachten von 1970 oder sogar 1969. Mein Vater wiederum erinnerte sich an Weihnachten Mitte der dreissiger Jahre, an den ersten Weihnachtsbaum in Charkiw. Es war immer die gleiche Weihnacht, auch wenn ich mittlerweile weiss, dass wir sie am falschen Datum feierten, nämlich am 7. Januar statt am 25. Dezember, wobei wir nach wie vor am 7. Januar die «falsche» Weihnacht feiern. Denn wenn wir diese Weihnacht verlegen, wird es ein anderes Fest, das einen Anfang in der Zeit hat und nicht aus dem magisch leuchtenden Nebel der Kindheit auftaucht.
In der Sowjetunion, und natürlich auch in der Ukraine, wurde Weihnachten in den 1920er Jahren abgeschafft – zusammen mit Gott. So wurde Weihnachten 1929 zum «Tag der Industrialisierung» erklärt. In jenen Jahren gab es die «Komsomol-Weihnacht», bei der junge Leute Prozess gegen in Bildform anwesende Geistliche spielten und den Weihnachtsbaum und «den Leib Christi im Sarg» verbrannten. «Wir werfen die Ikonen aus dem Fenster und stecken Gott hinter den Weihnachtsbaum», schrieben die Zeitungen damals. Kindergartenkinder liefen durch die Strassen, mit mürrischen Gesichtern von fanatischen Kommunisten und agitatorischen Spruchbändern mit Sätzen wie: «Erzieht die Kinder mithilfe eines Lehrers, nicht mit Gott.»
Im November 1935 beliebte Stalin jedoch zu erklären, dass «das Leben besser, das Leben fröhlicher geworden» sei, und bald wurde der Beschluss gefasst, Tannenbäumchen wieder aufzustellen. Aber natürlich keinen Weihnachtsbaum. Es war dies ein Ersatz, der alle zufriedenstellte. So hat sich der Neujahrsbaum bis heute erhalten. Ich erinnere mich, dass meine Eltern, als ich sie fragte, was Weihnachten bedeute, es vorzogen, darüber zu schweigen. So feierten wir denn Weihnachten ohne jeden religiösen Beigeschmack. Wir feierten die Geburt eines Unbekannten aus einer unbekannten Zeit. Es war einfach ein helles, verschneites, silbernes Fest mitten im Winter, an dem die Seele aus einem unerfindlichen Grund vom Gefühl eines Wunders erfüllt war.
Die Not, zu glauben
Laut Daten des Pew Research Center von Ende 2018 ist die Ukraine eines der religiösesten Länder Europas. Die Ukraine hat 31 Prozent hochreligiöse Menschen und rangiert unter den 34 europäischen Ländern, die an der Studie teilgenommen haben, an elfter Stelle. Die Menschen in der Westukraine sind religiöser, was wahrscheinlich auf die Nähe zu Polen zurückzuführen ist, wo es viele aufrichtig religiöse Menschen gibt. Ukrainische Frauen sind religiöser als Männer, und diejenigen, die in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen sind, bekennen sich eher zum Atheismus, aber in Wirklichkeit glauben viele von ihnen immer noch an höhere Mächte, an Karma, Omen und so weiter, weil sie schon immer religiös waren.
Tatsache ist, dass der sowjetische Atheismus nie wirklich atheistisch war. Er stellte eine pervertierte Version von Religion dar, bei der jeder bedingungslos an den dreifaltigen Gott zu glauben hatte: an den Vater (Marx-Engels-Lenin), den Sohn (den amtierenden KP-Generalsekretär, der starb und in neuer Gestalt wiedergeboren wurde) und den Heiligen Geist (die allgegenwärtige und unfehlbare Kommunistische Partei). Die kommunistische Ideologie gab Antworten auf recht religiöse Fragen: wofür man leben, wozu man sterben, an wem man sich ein Beispiel nehmen und wie man moralische Entscheidungen treffen solle.
In Bezug auf Religiosität liegt Russland weit hinter der Ukraine zurück. Dort sind nur 17 Prozent der Menschen hochreligiös. Ich denke, das liegt daran, dass für viele Russen der Glaube an Putin die traditionelle Religion ersetzt hat. Es ist Putin, der jetzt sagt, wofür man lebt, wofür man stirbt, wer ein Vorbild sein soll und was moralisch ist. Putin ist wie ein Gott, allgegenwärtig und unfehlbar.
Seit 2014, dem Jahr der Besetzung der Krim, hat sich viel verändert. Mehr als ein Viertel der Ukrainer geben an, dass sie seit dem Beginn des grossen Krieges religiöser geworden seien. Ich denke, dafür gibt es mehrere Gründe. Einige haben wie durch ein Wunder überlebt und begannen darauf, an Wunder zu glauben. Andere wandten sich Gott zu, denn so wie der Krieg ganze Stadtteile verbrennt und zerstört, so verwüstet er auch ganze Bereiche der Seele – und die Menschen wenden sich Gott zu, um etwas dagegen in der Hand zu haben.
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