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Naht das Ende der offenen Gesellschaft

Naht das Ende der offenen Gesellschaft?

 

Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Ein gewisser Überdruss und Depression verbreitet sich in unserer westlichen Gesellschaft. Die folgenden Abschnitte aus einem Gastkommentar in der NZZ vom 23. Dezember 2024 formulieren die Entwicklungen seit dem Ende des 2. Weltkrieges sehr gut. 

 

Mein Foto vom letzten Samstag zeigt den riesigen Weihnachtsbaum in der Galerie Lafayette an der berühmten Champs Elysée in Paris, die sehr bekannt ist für ihre luxuriösen Angebote für diejenigen Leute, die es sich leisten können. 

 

Die Befreiung des Diskurses, der seit 1968 propagiert wurde, hat in ein Stimmengewirr gemündet, aus dem kaum noch Gemeinschaft auszumachen ist. Statt Vielfalt und Engagement herrschen Narzissmus und Endlos-Rechthaberei. 

 

Wir nehmen das Wort «Erlösung» nur ungern in den Mund. Und doch wollen wir vom Fehlen eines sinnstiftenden Horizonts «erlöst» werden. Aber wir reden nicht gerne über den existenziellen Mangel unserer spätabendländischen Kultur. Indes, es gibt ihn. Aus dem Stimmengewirr, das uns tagtäglich, medial und von allerlei Podien, in den Ohren klingt, hören wir kaum noch die Stimme der um die Gemeinschaft ehrlich Besorgten heraus. Es waren die fünfziger Jahre, in denen noch die Väter und Altvorderen den Ton angaben.

 

Die typische Nachkriegssituation zeichnete sich für uns Jüngere dadurch aus, dass gutes Benehmen gefragt war und die Wohlstandsaufbausituation ausser Frage stand. Die Nachrichtensendungen waren nicht sonderlich tiefschürfend, man liess die Politiker aus dem «demokratischen Lager» sagen, was sie zu sagen hatten, zwar nicht viel Gutes über den Konkurrenten, aber auch nicht so viel Schlechtes. Das Ärgste war geschafft, die Armut weitgehend besiegt.

 

Eine neue Generation wollte neue Freiheiten im Familienbetrieb und ausserhalb, man wollte als Individuum gehört und gewürdigt werden. An den Universitäten, vor allem den geisteswissenschaftlichen Fakultäten, wurde skandiert: «Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren.» Es formierten sich die Emanzipationsbewegungen: Frauen, Rassen, Schulen, Sex. Durcheinandergerüttelt wurde das widerstrebende Bürgertum durch eine neue Musik, an vorderster Front durch die skandalösen Pilzköpfe namens Beatles und dann – horribile dictu – die drogenaffinen Rolling Stones.

 

Immer stärker setzte sich die Ansicht durch, dass bloss ein Gesellschaftsmodell, das vom Dogma der absoluten Wahrheit befreit sein würde, dem menschlichen Drang nach Vielfalt und Selbstverwirklichung entsprechen könnte. Dabei handelte es sich um eine Bewegung der seit vielen Jahren in den westlichen Demokratien grassierenden Tendenz zu noch mehr Liberalität, zugespitzt auf die Möglichkeiten einer maximalen Entfaltung individueller Neigungen. Die manifesten Strömungen nannten sich Wokeness, Political Correctness, Cancel-Culture, Gender-Movement – bis hin zu der Vorstellung, dass jedes Individuum, ohne Ansehen der biologischen Fakten, sein Geschlecht selbst bestimmen dürfe, auch dahingehend, dass es ein Neutrum sei.

 

Hinzu trat – gegen das überlieferte Rationalitätsmodell – eine Unzahl irrationaler Lebensstile und mystischer Kleininitiativen, die sich unter dem Schutz der kulturellen Liberalitätsoffensive herausgebildet hatten. Auf diese Weise hätten alle individuellen Geschmäcke und Gefühlslagen befriedigt und befriedet werden müssen. 

 

Heute, nach all den wirkungslosen Rezepturen der Alternativkultur und den Saturnalien der Selbstbespiegelung, herrscht wieder einmal eine Sehnsucht nach Abstossung des Stimmenwirrwarrs zugunsten von charismatischen Grosssprechern, die zu wissen vorgeben, wie man die unlösbaren Probleme löst.

 

Der Aufstieg rechtsradikaler Parteien funktioniert holprig und dennoch unaufhaltsam. Die Stimmführenden sind oft selbstgefällig und nicht imstande, sich darauf zu einigen, wer die Führerschaft innehaben und wie das patriotische Programm formuliert sein. Aber trotz all dem Hauen und Stechen bleibt eine erstaunliche Anziehungskraft, welche die neuen Doktrinäre verbuchen und bei Wahlen in Prozente umsetzen können. Dafür mögen viele Gründe massgebend sein, einer davon – und nicht der geringste – ist wohl jener, demzufolge die grosse Masse der rechtsstaatlich gesicherten Bevölkerung sich weder der Woke-Kultur noch dem Gender-Denken, ja nicht einmal den universellen Menschenrechten innerlich verpflichtet fühlte. Es ging der Mehrheit in erster Linie stets darum, den eigenen materiellen Lebensstandard abzusichern und zu erhöhen. 

 

Mittlerweile ist ein Gemisch aus Überdruss, Langeweile und Depression spürbar. Nun scheinen die Menschen dem Cäsar-Typus des Politikers nicht mehr grundsätzlich abgeneigt. Und so stehen wir nun, mit Ausblick auf das Jahr 2025, politisch an der Schwelle. Mit dem liberalen Menschenrechts- und Grundrechtsdenken des Westens könnte es bald zu Ende gehen. 

 

Peter Strasser lebt als Philosoph, Buchautor und Publizist in Graz.

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