«Der
Antisemitismus verschwindet nie»
Der Antisemitismus-Experte Erik Petry ist besorgt über die Positionen der radikalen Linke, weist aber auch auf die Gefahr von rechts hin. Ausschnitte aus einem Interview
von Simon Hehli mit Erik Petry, 27.11.2024
Foto: Klagemauer in Jerusalem (Bild mit freier Lizenz von Pixabay
Nur ein kleines Schild zeigt an, dass hier ein Ableger der Universität Basel zu finden ist. Kein grosses Logo wie bei anderen Instituten. Beinahe so, als gehörte das
Zentrum für Jüdische Studien nicht richtig zum universitären Betrieb. Oder geht es um Sicherheitsbedenken angesichts all der Emotionen, die der Nahostkonflikt hervorruft?
Erik Petry, der aus Kassel stammt, forscht seit 26 Jahren in Basel und hat sich in dieser Zeit einen Namen als Experte für Antisemitismus und jüdische Geschichte gemacht.
Der Professor ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Judaistische Forschung und sitzt im Vorstand der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA).
Herr Petry, die Juso Schweiz haben kürzlich beschlossen, die Kampagne «Boycott, Divestment and Sanctions» (BDS) zu unterstützen. Hat Sie das
überrascht?
Nicht wirklich. Ich halte diesen Schritt für sehr unbedacht. Offenbar fehlte bei den Juso das politische Bewusstsein dafür, was damit ausgelöst wird.
Die Juso argumentieren, Boykott sei ein gängiges Mittel, um Druck auf Politik und Wirtschaft auszuüben.
Darüber kann man diskutieren. Gerade die Linke weist allerdings immer wieder darauf hin, dass Boykott die Schwächeren treffe und deshalb kein geeignetes Instrument sei.
Bei Israel scheint das kein Argument zu sein. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: In der jüdischen Geschichte hat der Boykott eine ganz andere Bedeutung, man denke nur an die
NS-Zeit.
Nicht in dieser Schärfe, aber es schwingt mit. Zum Beispiel, wenn ein Boykott israelischer Kultureinrichtungen gefordert wird. Das ist hochproblematisch. Sind da wirklich
israelische Institutionen gemeint, oder geht es im Kern doch um Jüdinnen und Juden?
Und das macht BDS aus Ihrer Sicht zur antisemitischen Bewegung?
BDS greift auch den jüdischen Staat Israel an, indem sie dessen Auflösung verlangt oder Forderungen stellt, die darauf hinauslaufen. Ein Rückkehrrecht für alle
palästinensischen Flüchtlinge hätte beispielsweise diese Folge, weil der Flüchtlingsstatus aufgrund einer rechtlichen Sonderstellung vererbt wird und es um fast sechs Millionen Menschen
geht.
Die Juso wiesen in einem Communiqué kürzlich den Vorwurf, sie seien antisemitisch, weit von sich. Wie kann man die legitime Kritik an der Politik Israels von
Antisemitismus abgrenzen?
Es gibt die drei D, die einen Anhaltspunkt liefern: Wer Israel dämonisiert, delegitimiert oder auf das Land einen «double standard» anwendet, muss sich den Vorwurf
des Antisemitismus gefallen lassen. Auch in den israelischen Medien gibt es massive Kritik an der Politik Netanyahus, er wird immer wieder zum Rücktritt
aufgefordert. Allein schon der Begriff «Israel-Kritik» ist antisemitisch, wenn man ihn genau
anschaut.
Warum?
In ihm enthalten ist, dass man Israel die Legitimität abspricht: Eigentlich sollte dieser Staat nicht existieren.
Offen fordert ja im Westen kaum jemand, dass Israel von der Landkarte verschwinden soll.
Es wird die Idee von Israel als «safe haven» für die Juden infrage gestellt. Wenn jemand an einer Demonstration «From the river to the sea» schreit, dann schwebt ihm wohl
eher kein Land vor, in dem alle gemeinsam friedlich und demokratisch leben.
Die Universitäten waren von antiisraelischen Protesten stark betroffen. Wie haben Sie das in Basel selbst erlebt?
Meine Lehrveranstaltungen wurden zweimal massiv gestört. In einem Fall schimpfte eine Person, meine Vorlesung sei völlig einseitig. Ein Gespräch war unmöglich, die Person
schrie herum. Auch draussen vor dem Vorlesungssaal gab es eine Protestveranstaltung. Es war unheimlich.
Wie hat sich das ausgewirkt?
Ein Teil meiner Studierenden traute sich aus Angst vor Gewalt im Anschluss nicht, den Vorlesungssaal zu verlassen. Ich habe das alles als äusserst bedrohlich empfunden,
auch wenn ich nicht körperlich angegangen wurde. Wir bekamen danach einen Sicherheitsdienst, der die Vorlesung schützte. Trotzdem blieb im Saal eine Atmosphäre des Misstrauens und der Anspannung
bestehen.
Die BDS-Unterstützer und die Uni-Demonstranten stehen politisch links. Seit den Terrorattacken vom 7. Oktober 2023 und dem israelischen Angriff auf Gaza ist der linke
Antisemitismus oder das, was dafür gehalten wird, besonders im Fokus. Zu Recht?
Es wäre gut, wenn man ihn schon vorher beachtet hätte, dann wäre man vielleicht nicht so überrascht gewesen. Die Idee, dass es auf linker Seite keinen Antisemitismus gibt,
ist ein Mythos, von dem man in der Wissenschaft schon lange weiss, dass er nicht stimmt. Nun ist das alles viel sichtbarer geworden.
Woher kommt der linke Antisemitismus?
Er speist sich aus zwei Quellen: Einerseits werden Jüdinnen und Juden sehr stark mit Formen des Kapitalismus identifiziert, das ist ein altes Motiv. Da geht es um das
«Finanzjudentum», um heimliche Machtzirkel von der amerikanischen Ostküste, die angeblich die Weltherrschaft anstreben. Und zweitens gibt es eben antisemitische Muster im Umgang mit dem Staat
Israel.
Die Linke galt früher als Unterstützerin Israels.
Ja, sie stand dem Land dank der Kibbuzbewegung und während der Zeit linker Regierungen wie jener von Ben-Gurion deutlich näher.
Kann man den Zeitpunkt bestimmen, zu dem das gekippt ist?
Nach dem Sechstagekrieg von 1967 begann sich der linke Blick auf Israel zu ändern. Das hatte auch damit zu tun, dass Israel ab diesem Zeitpunkt die Kontrolle über die
besetzten Gebiete hatte. Und dort in den siebziger Jahren mit dem Bau der ersten Siedlungen begann. Israel war damit nicht mehr in der Rolle des Schwächeren, es wurde vom David zum Goliath. Das
führte zu einer grossen Enttäuschung, gerade bei jenen, die einst bei den «guten» Israeli im Kibbuz gewesen waren. Heute ist ein differenzierter Diskurs zu Israel in Teilen des linken Mainstreams
kaum mehr möglich.
Über den rechten Rassismus spricht man derzeit weniger. Stellt er für Juden heute die kleinere Bedrohung dar?
Die jüdische Gemeinschaft weiss, dass diese Gefahr nicht einfach verschwunden ist, auch wenn diese Form des Antisemitismus derzeit vielleicht weniger sichtbar ist.
Rechtsextreme Gruppen sieht man kaum an Demonstrationen mit Israel-Bezug – natürlich auch, weil sie keine Lust haben, zusammen mit Linksradikalen und Muslimen auf die Strasse zu gehen . .
.
Ist für neue Bewegungen von ganz rechts, etwa die Identitären, der Antisemitismus weniger zentral als für die «klassischen» Neonazis mit Glatze und
Springerstiefeln?
Vielleicht wurde dieses Element durch die Abneigung gegenüber Muslimen oder die Wokeness etwas in den Hintergrund gedrängt. Für mich ist aber die Frage entscheidend, ob
solche Gruppen die jüdische Bevölkerung als genuinen Teil der Schweiz anschauen. Da habe ich grosse Zweifel. Sie denken völkisch – und in dieser Ideologie haben Juden schlicht keinen
Platz.
Früher gab es antisemitische Aussagen auch von SVP-Politikern, jetzt solidarisiert sich die Partei mit Israel und wirft den Linken Antisemitismus vor. Ist die SVP
geläutert?
Ich würde nicht darauf wetten, dass die gesamte SVP immer für die jüdische Gemeinschaft einsteht. Ich muss aber auch sagen: Es gibt in der SVP
viele, die sich als gegen den Antisemitismus und f Israel kämpfend verstehen, das darf man durchaus ernst nehmen.
Unterscheidet sich die SVP da von der AfD?
Ja, obwohl manche der SVP-Kampagnen auf einem ähnlichen Gedankengut basieren. Alle erinnern sich an Gaulands Aussage zum Nationalsozialismus als «Vogelschiss der
Geschichte». Die AfD ist sicher kein verlässlicher Partner für die jüdische Gemeinschaft – auch wenn es sogar die Gruppe «Juden in der AfD» gibt. Interessanterweise passen Gaulands Aussagen
bestens zum Ruf von Linksextremen, die fordern: «Free Germany from Jewish guilt.» Deutschland soll sich also von der eigenen Geschichte lösen und sich nicht mehr von der Erinnerung an die Shoah
leiten lassen.
Sind der linke und der rechte Antisemitismus im Kern das gleiche Phänomen?
Für mich ist Antisemitismus die Übernahme von alten Vorurteilen und Stereotypen als Fakt in die Gegenwart, und dies immer in herabwürdigender Absicht. Vordergründig
unterscheiden sich zwar die Argumentationslinien je nach politischer Strömung. Aber letztlich geht es bei allen Spielarten des Antisemitismus um das Absprechen der Menschlichkeit, der
Zugehörigkeit. Und es schwingt eine Vernichtungs- und Erlösungsphantasie mit.
Was meinen Sie damit?
Antisemiten glauben, dass, wenn erst einmal die Juden weg sind, alles gut wird. Bei den Nazis war das völlig offensichtlich, aber die Idee besteht bis heute und in Teilen
der Linken, wenn auch oft in subtilerer Form. Wir stellen fest, dass in der Gesellschaft viele Vorstellungen über Juden – und ich sage jetzt
bewusst Juden und nicht Jüdinnen – existieren, die sich aus gewissen Quellen speisen und die zu gewissen Handlungen führen. Bezeichnend ist, welche Zahlen kommen, wenn ich Schulklassen schätzen
lasse, wie viele Jüdinnen und Juden in der Schweiz leben.
Es sind nicht einmal 20 000 . . .
.
. . aber ich habe schon gehört, es soll eine Million sein! Man überschätzt also die Zahl der Jüdinnen und Juden massiv.
Besteht nicht die Gefahr, dass der Antisemitismusvorwurf sich abnutzt, wenn man ihn zu viel benutzt? Wenn man ihn nicht reserviert für wirklich gravierende antijüdische
Vorfälle oder Aussagen und ihn stattdessen für Dinge braucht, die eher in einem Graubereich liegen?
Ich würde nicht in gravierende und weniger gravierende Vorfälle unterteilen. Der Idee «weniger gravierend» liegt die Vorstellung zugrunde, antisemitisch sei ein Vorfall
nur, wenn er höchst gewalttätige Formen annehme, im Grunde sei nur Auschwitz Antisemitismus. Das ist falsch. Ein antisemitischer Vorfall ist ein antisemitischer Vorfall, es gibt kein «ein
bisschen antisemitisch». Richtig ist, dass alle Fälle einzeln angeschaut werden müssen, also eine qualitative Prüfung stattfinden muss. Damit wird garantiert, dass es im Diskurs nicht zu
pauschalen Anschuldigungen kommt.
Wenn jemand sagt, Juden seien so intelligent, so witzig, so kreativ: Sind das immer vergiftete Komplimente?
Besonders die Aussage, Juden seien so intelligent, ist zumeist keine wertneutrale Feststellung. Sondern insofern ein Pseudokompliment, als wir dieses Motiv bereits aus dem
Mittelalter kennen. Es wurde und wird damit impliziert, dass «die Juden» den anderen überlegen seien, weil sie intelligenter seien, eigentlich «naturgegeben». Und dass sie dies nutzen würden –
jetzt kommt das Gift –, um die anderen zu hintergehen oder sie zu beherrschen.
Der Antisemitismus ist ein jahrtausendealtes Phänomen, er muss also, soziologisch gesprochen, irgendeine Funktion haben. Geht es nur darum, jederzeit einen praktischen
Sündenbock für alles zu haben?
Der Antisemitismus ist hoch variabel und flexibel einsetzbar. Dies als Instrument, um die Welt zu erklären und damit auch jemanden verantwortlich machen zu
können. Sei es nun der böse Kapitalist oder der böse Kommunist. Es gibt keinen neuen Antisemitismus, es ist immer das alte Phänomen in neuen Formen.
Wieso bekamen gerade die Juden diese Rolle zugewiesen?
Weil die jüdische Gruppe innerhalb der Gesellschaft existiert – sie steht nicht ausserhalb! –, aber als isoliert wahrgenommen wird, als abgekapselt. Das zeigt sich, wenn
man von «Juden in der Schweiz» spricht. Da klingt an, dass diese Menschen keine Schweizer sind, auch wenn sie den Schweizer Pass haben und ihre Familien schon seit Jahrhunderten hier leben. Ein
alter Zürcher Jude hat mir einmal gesagt, wie er die Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Juden und Jüdinnen wahrnimmt: «Wir sind Schweizer, aber bleiben immer Fremde.» Als Sündenböcke
eignet sich eine solche Gruppe besser als Leute, die ausserhalb der Gesellschaft stehen und die man vermeintlich jederzeit loswerden kann.
Teile der jüdischen Gemeinschaft isolieren sich aktiv vom Rest der Gesellschaft.
Auch andere religiöse Gruppen isolieren sich vom Rest der Gesellschaft.
Über den islamischen Antisemitismus haben wir noch nicht gesprochen. Ist er nicht der gefährlichste für die Juden in der Schweiz oder
Deutschland?
In Verbindung mit stark antiisraelischen Haltungen ist er in gewissen islamischen Kreisen tatsächlich verbreitet. Es gibt aber auch islamische Organisationen, die
versuchen, den Antisemitismus zu bekämpfen und Muslime und Juden zusammenzubringen. Denn letztlich haben diese beiden Gruppen als Minderheiten vergleichbare Herausforderungen in der heutigen
Schweizer Gesellschaft. Beide müssen zum Beispiel ständig erklären, warum sie auch dazugehören.
Sie beschönigen die Situation.
Nein, ich will nichts beschönigen. Es gibt Gewalttaten, etwa der Messer-Mordanschlag in Zürich vom letzten Frühling. Seit dem 7. Oktober 2023 steigt in den jüdischen
Gemeinschaften die Angst vor Anschlägen. Aber man kann nicht sicher sein, ob die physische Bedrohung nicht irgendwann auch von linken oder rechten Antisemiten kommt. Das wäre dann eine völlig
neue Situation. Der Historiker Jacques Picard hat einmal gesagt, es gebe hierzulande keinen Radau-Antisemitismus. Tatsächlich zeigt sich der Antisemitismus in der Schweiz bis jetzt
subtiler.
Ist die Hoffnung, dass sich der Antisemitismus irgendwann ausmerzen lässt, naiv?
Der Antisemitismus? Der verschwindet nie. Das ist im Grund eine total pessimistische Aussage über meine Arbeit. Ich muss mich dann fragen: Wofür mache ich das hier
eigentlich?
Und was antworten Sie sich selbst?
Es bleibt uns doch gar nichts anderes übrig, als weiterhin gegen den Antisemitismus zu kämpfen.
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