Myroslaw Marynowytsch
Revolution des Geistes.
Religiöse Aspekte der Revolution der Würde
Foto: Zu Besuch bei Ljuba und Myroslaw Marynowytsch (Fotografie Mikhailo Heina, Neffe von Ljuba)
Die Revolution der Würde verlieh nicht nur zivilen Bewegungen Schwung, sondern auch den ukrainischen Religionsgemeinschaften. Dank ihrer Präsenz auf dem Maidan und ihrer Unterstützung für die Protestierenden gewannen sie neues Ansehen in der ukrainischen Gesellschaft. Zugleich erreichte die interkonfessionelle und ökumenische Zusammenarbeit auf dem Majdan eine neue Qualität.
Zehn Jahre sind seit der Revolution der Würde vergangen. Und ohne diese ist es unmöglich, die Resilienz der Ukrainer in ihrem Widerstand gegen die russische Aggression zu verstehen. Ich möchte hier vor allem über ihre religiösen Aspekte schreiben. Zuvor muss ich jedoch erwähnen, dass die Revolution der Würde die dritte ukrainische Revolution seit 1990 war. Sie absorbierte die spirituelle Erfahrung der beiden vorangegangenen, und ohne diese Erfahrung wären ihre Errungenschaften nicht so eindrücklich gewesen.
Die ersten beiden ukrainischen Revolutionen
Die erste dieser Revolutionen war die Revolution auf Granit (2.–17. Oktober 1990), deren Speerspitze ein Hungerstreik von Studierenden auf dem Platz[1] der Unabhängigkeit in Kyjiw war. Zu der Zeit war die Ukraine noch Teil der Sowjetunion. Die Studierende forderten insbesondere die Ablehnung eines neuen Unionsvertrags mit den Sowjetrepubliken, den Michail Gorbatschow plante. Dieser Hungerstreik nahm fast sofort die Merkmale eines Kampfs zwischen Gut und Böse an, da er unter starkem Druck der Behörden stand. Die ersten Hungerstreikenden waren bereit, verhaftet zu werden, und die neue revolutionäre Ukraine begann mit einem Opfer, das große Auswirkungen auf die Gemütsverfassung in der Ukraine hatte. Ein neuer Unionsvertrag mit Russland wurde nicht unterzeichnet, und ohne die Revolution auf Granit wäre das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine am 1. Dezember 1991 nicht so eindeutig – mit 90,32 Prozent dafür – ausgefallen.
Die zweite Revolution war die Orange Revolution (21. November – 8. Dezember 2004), die schon in einer unabhängigen, aber noch immer mehrheitlich postsowjetischen Ukraine stattfand. Sie wurde vom Versuch der damaligen Regierung, die Resultate der Präsidentschaftswahl von 2004 zugunsten von Viktor Janukowytsch zu fälschen, ausgelöst. Wieder war es eine phänomenale Manifestation gewaltfreien Widerstands. Während 17 angespannter, verschneiter Tage und Nächte setzten sich die Menschen für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden ein, ohne auf Gewaltakte zurückzugreifen, was klar den evangelischen Geist des Maidan zum Ausdruck brachte.
Auf diesem kleinen Stück Kyjiwer Land erlebten die Menschen eine echte Transformation: zuvor passive Menschen vollbrachten Wunder der Solidarität, des Vertrauens und Wohlwollens. Auf den Maidan zu kommen war ein echter spiritueller Pilgerweg zur Quelle eines unerschöpflichen Optimismus und der Liebe. Im Epizentrum des Orangenen Maidan gab es kaum Unterschiede zwischen Sprachen, Nationalitäten, Alter oder Religionen. Der Maidan war interkonfessionell, ökumenisch und offen. Hier wurden Gebetszelte aufgestellt, Liturgien unter offenem Himmel gefeiert und Gebetsprozessionen abgehalten. Es wurde klar, dass wenn sich die Kirchen im öffentlichen Dienst am Menschen vereinen, sie wirklich vereinigt sind. Dank der Orangenen Revolution kam es auch zu gemeinsamen Statements aller drei christlichen Konfessionen.
Beteiligung der Religionsgemeinschaften am Majdan
Die spirituelle Erhebung, die am 21. November 2013 begann, wurde anfangs „Euromaidan“ genannt, weil sie von der Weigerung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, ausgelöst worden war. An den Protesten in Kyjiw, Lwiw und einigen anderen ukrainischen Städten beteiligten sich vorwiegend junge Studierende, die das Gefühl hatten, ihnen werde ihre europäische Zukunft gestohlen. Der Protest der jungen Menschen war erneut ausschließlich gewaltfrei und wurde manchmal scherzhaft als „Disko“ bezeichnet.
Die Situation im Land änderte sich dramatisch, als die Behörden in der Nacht des 1. Dezember den fröhlichen Jugendprotest in Kyjiw in ein blutiges Massaker verwandelten. Polizisten der Spezialeinheit Berkut verprügelten und vertrieben rund 400 Studierende, von denen viele im Kloster des Hl. Michael (das heute zur Orthodoxen Kirche der Ukraine gehört) Zuflucht fanden. Dieses Kloster sowie die römisch-katholische Kirche des Hl. Alexander und die lutherische Kirche der Hl. Katharina öffneten den verwundeten und verfolgten Demonstranten ihre Türen und versorgten sie mit dem Notwendigsten.
In dieser Nacht nahm die Kirche in den Köpfen der Ukrainer ihre antike Funktion wieder auf und wurde wieder als Zuflucht, eine erlösende Zuflucht, als Sanktuarium wahrgenommen. Seither haben die Protestierenden des Majdan ihre Herzen den Vertretern verschiedener Kirchen und Religionsgemeinschaften geöffnet. Der Majdan wurde zu einem Ort des ökumenischen Gottesdienstes und der interreligiösen Kooperation. Die Griechisch-Katholischen errichteten ein großes Gebetszelt, in dem Geistliche aller drei Konfessionen Gottesdienste abhielten. In dem Zelt feierten die Priester zusammen Weihnachten. Viele Priester und Pastoren wurden Kapläne des Majdan, insbesondere in bangen Nächten, wenn die Demonstrierenden auf das Vorrücken der Spezialpolizei warteten. Zu der Zeit gab es massenhaft Fälle echter religiöser Bekehrung. Auch die Tradition gemeinsamer orthodox-katholisch-protestantischer Aufrufe wurde wieder aufgenommen. Dieses Mal wurden die Aufrufe in der Regel im Namen des Allukrainischen Rats der Kirchen und religiösen Organisationen veröffentlicht.
Die Aktivität der Religionsgemeinschaften auf dem Majdan verursachte bei den Behörden große Irritationen. Am 13. Januar 2014 drohte das Kulturministerium der Ukraine dem Großerzbischof der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK), Svjatoslav (Schevtschuk), damit, den Gemeinden der UGKK ihren Rechtstatus gerichtlich abzuerkennen. Als Reaktion berief der Großerzbischof eine Pressekonferenz ein und sagte mutig, dass „der Priester dort ungehindert beten kann, wo seine Gläubigen sind. Dieses Recht auszuüben, benötigt keine separate Erlaubnis des Staats.“
Auf dem Majdan wurden vor allem christliche Gebete gesprochen. Aber auch jüdische Rabbis und muslimische Mullahs besuchten häufig den Majdan; jüdische und muslimische Gebete wurden ebenfalls zu einem Teil der religiösen Kultur der Revolution der Würde. Phänomenal war der Erfolg einiger jüdischer Mitbürger, denen es mit täglichen Briefen an ihre Glaubensgeschwister gelang, die Verleumdung durch die russische Propaganda über den angeblichen Antisemitismus des Majdan zu neutralisieren. Die muslimische Gemeinschaft war vor allem durch die krimtatarische Gemeinschaft vertreten.
Religiöse Symbole waren auf dem Majdan überall zu sehen. Diese Symbole waren oftmals auch die ersten, die angegriffen wurden. So wurde bei einem Angriff auf den Majdan durch Sondereinheiten ein Gebetszelt abgebrannt. Zwischen dem 18. und dem 25. Februar erfüllten die Geistlichen noch eine andere Funktion auf dem Majdan: traurige Begräbnisgottesdienste für über Hundert Demonstrierende, die von Scharfschützen der Regierung umgebracht worden waren. Diese Opfer wurden als „Himmlische Hundertschaft“ bezeichnet.
Ich möchte meine Liste religiöser Zeichen der Revolution der Würde jedoch nicht zu apologetisch klingen lassen. Fairerweise muss festgehalten werden, dass die Kirchen den Majdan nicht sofort akzeptierten und lange brauchten, um aufzuholen. Archimandrit Cyril Hovorun hat dies einmal so treffend zusammengefasst: „Der Majdan hat mit Blick auf seine Werte […] die ukrainischen Kirchen – alle Kirchen ohne Ausnahme – deutlich übertroffen.“
Revolutionen des Geistes
Die ukrainischen Revolutionen waren die ersten Massenereignisse in der modernen Geschichte der Ukraine, die nicht zugleich Teil der Geschichte Russlands waren. Sie markierten die weitere spirituelle Emanzipation der Ukrainer und die Aufnahme der Werte von Freiheit und Demokratie. Zugleich beleuchteten die Revolutionen die Schwächen der jungen ukrainischen Demokratie.
Alle drei ukrainischen Revolutionen waren Revolutionen des Geistes, alle gekennzeichnet von einer enormen Hebung des menschlichen Verstands und der Herzen, die bis dahin von der Trägheit der Angst gefesselt waren. Ihre religiösen Zeichen waren kein zufälliges Phänomen. Sie belegten, dass die Ukraine einen tiefgreifenden Aufschwung der Werte erlebte. Beobachter außerhalb der Ukraine waren jedoch enttäuscht von den politischen Konsequenzen der ukrainischen Revolutionen und stellten sogar die Verwendung des Begriffs „Revolution“ infrage. Tatsächlich führten die Majdane nicht so sehr zu einer Veränderung der politischen Eliten als zu ihrer Umgruppierung. Sie konnten auch das quasi sowjetische Staatssystem nicht radikal ersetzen. Doch jede weitere Revolution schaffte es, zu verhindern, dass die Ukraine in die vom Kreml gestellte politische Falle geriet.
Das Wichtigste ist, dass die Energie jeder Revolution des Geistes einen Teil der Menschen transformierte, ihnen neue spirituelle Kraft einflößte und sie auf eine höhere Ebene der Freiheit hob. Natürlich schwand der revolutionäre Enthusiasmus nach jeder Erhebung, aber wichtig ist, dass er nie wieder auf sein früheres Niveau der Mutlosigkeit zurückkehrte. Letztlich ist es unmöglich, in einer einzigen Anstrengung die Freiheit zu erlangen.
Die ukrainischen Majdane wurden zu einer Schule des Geistes, die die Nation auf die Prüfungen von Russlands großem Krieg gegen die Ukraine, der im Februar 2014 als hybrider Krieg begann und im Februar 2022 zu einem umfassenden konventionellen Krieg wurde, vorbereitete. Es war die Revolution der Würde, die zu einer kraftvollen Freiwilligenbewegung führte, die wahrhaftig die ukrainische Armee in den ersten Monaten des großen Kriegs rettete und somit den ukrainischen Staat. Viele Aktivisten der Revolution der Würde meldeten sich direkt auf dem Majdan freiwillig bei den ukrainischen Streitkräften und tränkten sie mit dem Majdan-Geist der Selbstaufopferung. Die russischen Truppen wurden von ukrainischen Soldaten und zahlreichen Freiwilligen in Empfang genommen, die verstanden hatten, dass sie ihre Freiheit, die ukrainische Staatlichkeit und das Existenzrecht der Ukrainer verteidigen.
Die Revolution der Würde war ein besonders mächtiges Signal an die Welt, dass die Ukrainer ein legitimer Teil Europas sind. Wie Adam Michnik, der Chefredakteur der polnischen Gazeta Wyborcza, schrieb: „Was in Kyjiw geschah, war der majestätischste Ausdruck der Bedeutung der europäischen Werte.“
Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.
Myroslav Marynovytsch, Menschenrechtler, Publizist, sowjetischer Dissident und Vizedirektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw.
[1]) Das ukrainische Wort für „Platz“ ist „Majdan“. Dieses Wort ist zu einem allgemeinen Begriff für alle drei ukrainischen Revolutionen geworden.
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