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Maria Prymachenko aus der Sicht ihrer Nichte: "Sie malt auch im Jenseits weiter"

Yevhen Rudenko, Nazariy Mazilyuk, Yevhen Buderatskyi - Freitag, 11. August 2023, UKRAINSKA PRAVDA / Collage: Andrij Kalistratenko

 

Im Krieg gegen die Lüge sind Anführungszeichen sehr wichtig. Als die russischen "Brüder“ und „Befreier“ im Februar 2022 in die Region Kyjiw kamen, wurde die Nachbarschaft des Hauses Nummer 13 in der Schewtschenko-Straße in Iwankiw für vierzehn Gemälde von Maria Prymachenko zu einem glücklichen Ort.

 

Der Besitzer dieses Hauses, Anatolij Kharytonow, rettete zusammen mit seiner Frau und mehreren Einwohnern von Ivankiw die Meisterwerke der naiven Kunst aus dem nahe gelegenen Heimatmuseum, das abbrannte.

 

Zwei weitere Gemälde von Prymachenko, die von ihrer Nichte Hanna Marchuk im benachbarten Bolotnia, dem Heimatdorf der Künstlerin, aufbewahrt wurden, hatten auf eine andere Weise „Glück“.

 

„Ich hatte 'Glück', so viel 'Glück'!“, sagt Hanna Marchuk, “Mein Haus in Bolotnia war das einzige, das während des Beschusses niedergebrannt ist. Ich habe Fotos (Familienfotos - UP) und Zeichnungen davon.“

 

Die Menschen in ihrer kleinen Heimat sagen unterschiedliche Dinge über die Werke von Mariia Oksentiivna. „Was ist so besonders an ihnen?“. „Es kommt darauf an, was man mag.“ „Meine Großmutter hatte so einen Geschmack, sie hat etwas Bestimmtes gemalt.“ „Wenn du eine gute Werbung machst, verkauft sie sich!“

 

Viele Einheimische verstehen immer noch nicht, warum die Welt wieder über ihre Landsfrau spricht. In diesem Jahr wurden Prymachenkos Werke bereits in Trento, Italien, und jetzt in der Saatchi Gallery in London und im Ukrainian House in Kyjiw ausgestellt.

 

Eines ihrer Werke wurde bei einer Wohltätigkeitsauktion für 500 000 Dollar zugunsten der ukrainischen Streitkräfte verkauft. 

 

 

In den ersten Tagen nach dem Einmarsch beschlossen drei Einwohner von Bolotnien, zur Fischfarm zu gehen, wo sie kostenlos Fisch bekommen hatten. Auf dem Weg dorthin gelang es zwei von ihnen, den russischen Kugeln auszuweichen. Der dritte wurde ins Bein geschossen. Der verwundete Mann wurde durch ein Handtuch gerettet. Er nahm es von einem der Gräber auf dem Friedhof und verband damit seine Gliedmaße. Er kam zu den Menschen und mit ihnen ins Krankenhaus.

 

- „Sie (die Russen) fuhren mit einem Panzer und dann mit einem Stucer (Motorroller - UP) hier herum, das war so krank!“ sagt Hanna Marchuk, Prymachenkos Nichte, 77. „Wir haben eine Futtermittelfabrik in der Nähe, wo ihr Hauptquartier war. in

 

Hanna Marchuk: "Als meine Tante berühmt wurde, behandelten die Nachbarn sie anders. Es gab alle möglichen Dinge. Aber sie war natürlich talentiert. Und die Leute haben nicht verstanden, was sie gemalt hat."

 

Früher hat Hanna im Haus ihrer Tante Schutz vor der Außenwelt gefunden. Maria Prymachenko war immer beschäftigt: mit Hausarbeit, Sticken, Malen und dem Umgang mit den ständigen Schmerzen in ihren Beinen, nachdem sie als Kind an Polio erkrankt war. Aber sie hatte auch genug Energie für ihre Familie.

 

- „Ich erzähle dir, wie es war“, lächelt Hanna Marchuk zufrieden, „meine Tante hatte nur einen Ofen, der mit Holz befeuert wurde, ein Bett im Zimmer daneben. Manchmal liefen wir vier Kinder einfach ohne etwas zu sagen weg zu unserer Grossmutter. Wenn wir dann müde genug geworden waren, haben wir uns einfach in ihr Bett fallen lassen." -  'Unsere Mutter kommt angerannt', fährt die Frau fort, ‚Wo sind sie?‘ “'Ja, Natascha, gehe hin und schau sie dir an.  Rühr sie aber bitte nicht an. Sie schlafen alle schon.' - 'Meine Tante beschützte uns vor allen Strafen.'

 

Zu Ehren des 100. Geburtstages von Mariia Prymachenko hat die UNESCO 2009 das Jahr der Künstlerin ausgerufen.

 

„Schön, intelligent, weise und stark. Sie mochte keine Lügen. Sie sagte die Wahrheit, was sie bei ihren Nachbarn und Mitbewohnern des Dorfes unbeliebt machte.

Wäre sie noch am Leben, hätte sie das Haus ihrer Nichte kaum vor dem Beschuss gerettet. Aber sie hätte bestimmt nicht geschwiegen. Sie war einfach eine tolle Frau. Ich wünschte, sie könnte jetzt arbeiten! Sie hätte alles Mögliche gemalt und Stickereien angefertigt. Aber sie ist weg“, seufzt die Nichte und zeigt das zerstörte Haus.

 

 

 

Als wir ankamen, war Hanna im Keller. Seit sie ihr Haus verloren hat, lebt sie in einem kleinen Raum mit einem unebenen Boden. 

 

- „Seht, es war genau hier“, die Rentnerin zeigt auf die mit Gras überwucherten Ruinen, „es ist abgebrannt. Ich musste überall reparieren lassen. Da drüben sind zwei Schlafzimmer, hier zwei Zimmer. So war es. Ich wohnte damals bereits in einer Scheune weiter weg. Jetzt bauen mein Schwiegersohn und meine Tochter mir ein neues Nest. Das rettet mich. Keiner gab mir eine Entschädigung - alles mussten wir selbst finanzieren. Die Leute haben mit mir geredet und versprochen, mir beim Wiederaufbau meines Hauses  zu helfen. Aber bis heute gibt es niemanden, der es getan hätte."

 

Die Zeichnungen von Maria Prymachenko und die Familienfotos von Hanna Marchuk verbrannten in diesem Haus

 

Botaurus stellaris

 

Können diese Tiere auch fliegen? Das Kind von Polissia bejaht diese Frage mit einem Lächeln. Vor langer Zeit hat die kleine Hanna Marchuk in der Nähe ihres Heimatdorfes Torf gesammelt. Sie erhielt einen Rubel dafür, dass sie einen Lastwagen mit anderen Arbeitern füllte.

 

- „In den Sümpfen lebten alle möglichen Vögel“, erinnert sie sich. „Es gab einen, dessen Namen ich dir nicht verraten werde. Meine Mutter kannte ihn.... Und er brüllte wie ein Stier (botaurus stellaris, Wasserbulle - UP). Und ich bin zurückgerannt: „Mutti, Mutti, da fliegt ein Stier!“ (lacht). Sie sagte: 'Mein liebes Mädchen, das ist ein Vogel."

 

 

Titel Bild: "Atomkrieg - verdammt!"

 Viele Bezeichnungen von Prymachenkos Bildern ähneln Sprichwörtern. „Der Pferdebuckel saß in den Blumen, brachte allen Glück“

 

Wälder, Sümpfe, Fantasie und Träume - Maria Prymachenko brauchte wenig, um sich inspirieren zu lassen. Der Star der naiven Kunst hatte immer Brot und Speck auf dem Tisch. Sie lebte bescheiden und mochte keinen Ruhm.

 

- „Sie hat sich nicht damit nicht selbst aufgegeilt, wie man heute sagt“, sagt ihre Nichte. "Sie brauchte keine Bekannten. Sie malte für sich selbst, und das war's. Sie lebte wie jeder andere auch."

  

Eines Tages klopfte es an Marias Haus – sie wollten die ersten bei ihr sein, die Gas installierten.

 

"Sie sagte: 'Nein! Bringt es dem ganzen Dorf und dann mir. Auf Wiedersehen." Sie hat sich nie beschwert. Sie brauchte keinen Reichtum", sagt Marchuk.

 

Erinnerungen an Kindheit und Tante spiegeln sich auf dem Gesicht des Rentners, müde von der Hitze, mit einem sanften Lächeln. Ihr Polissia-Dialekt, der voller erstaunlicher Laute ist, hilft dabei, sich klarer vorzustellen, was Maria Prymachenko selbst war und wie sie sprach.

 

„Unsere Armee ist unsere Wächter“

 

- "Ich hatte auch solche Zöpfe. Sie waren gesund. Und sie riss das Fett eines Ebers ab... Es gibt viel Fett und dann gibt es das Fett am Bauch. Hast du das Wildschwein nicht gefüttert, hast du es nicht gemästet? Also kommt erst der Unterbauch, dann die Katzen."

 

- Also“, fährt sie fort, “riss sie ein Stück Fett ab. Sie rieb es so auf ihren Händen und salbte mich schnell ein. Sie flechtete es und kämmte es.  Im Winter ist es gut, aber im Sommer schmilzt es und läuft. Aber es ist gut: Die Zöpfe wachsen, es gibt keine Läuse. Heutzutage gibt es alle möglichen Shampoos, aber damals gab es noch keine.

 

 

"Die Kraniche kamen zum Blüte des Schneeballs"

 

 

Bohdana-Khmelnytskoho-Straße 59. Das mit Vorhängeschlössern versperrte Haus von Mariia Prymachenko in Bolotnia, in dem sie ein Museum bauen wollen, wird von Obstbäumen verdeckt.  Die Russen haben Prymachenkos Haus während der Besatzung nicht angerührt.

 

- „Ich weiß nicht, warum das passiert ist“, fragt sich ihre Nichte. „Hat uns denn niemand verraten? Es gab schrecklichen Verrat. Ein Typ in Iwankiw - Gott, er war so gutaussehend - hatte eine Tätowierung. Er hatte einen Trysak (Symbol der Ukraine) von seiner Mutter geschenkt! Irgendein Bastard hat ihn verraten. Sie kamen und töteten ihn.

 

Serhij Parajanov besuchte Mariia Prymachenko und küsste ihre Hände als Zeichen des Respekts

 

„Hinter dem niedrigen Maschendrahtzaun errötet heute der Viburnum und die Äpfel fallen auf den Boden. Dort, im Hof, befindet sich eine kleine irdische Welt, die für Prymachenkos Fantasie zu eng war. Es  sieht aus", erinnert sich Hanna, "dass Mariia immer gemalt hat."

 

- Sie malt sogar im Jenseits“, lächelt die Frau.

 

Wenn diese Aussage wahr ist, dann helfen uns Hanna Marchuks Geschichten dabei, uns vorzustellen, wie es damals gewesen bei Maria war. 

 

- "Plötzlich war etwas in ihrem Kopf. Irgendwelche Tiere oder Blumen, unglaubliche Fantasien! Sie zeichnete es dann sofort mit einem Bleistift ihre Ideen nach und malte es dann mit Farben aus."

 

 

Maria Prymachenkos Metamorphosen sind eine Mischung aus Tier und Mensch

 

Wenn es wenig Zeit und viel zu tun gibt, sind Zweifel unangebracht, Bewegungen erfordern Entschlossenheit.

 

Marchuk erinnert sich, wie ihre Tante die Menschen mit der Unfehlbarkeit des Schöpfers „überschüttet“ hat.

 

- „Nicht so, wie sie heute nähen: Sie messen, messen“, sagt sie. 'Ich stehe bei ihr, sie heftet (ein Stück Stoff - UP) da und dort an mich (zeigt auf ihre Schultern und Brust - UP). Sie zerriss es dann schnell in die nötigen Stücke, setzte sich in und nähte das Kleid für mich. Dann probierte es an mir aus, falte es schliesslich sorgfältig und setzte sich darauf. Auf diesem Fote näht sie wieder für andere, und hier sitzt sie - und 'bügelt' dabei das neue Kleid. Das ist wahr! Und du sagst, wann hatte sie denn für alles Zeit?"

 

Mit Hilfe von Farben, leicht abgewandelten Formen und ungewöhnlichen Elementen konnte Prymachenko aus bekannten Bildern etwas Neues machen

 

- „Sie kleidete alle Frauen hier ein", fährt Marchuk fort, „Sie machte Blusen, Röcke, Kleider, Tücher, Hemden. Und Mützen mit Mustern für die Kinder. Katia (Schwiegertochter von Maria Prymachenko, der Frau von Fedirs Sohn - UP) war sehr für mich zuständig. Wie ich mich herausputzen würde, wie ich in diesem Kleid in den Club gehen würde! Wie ich wie eine Zigeunerin herumtanzen würde! Du bist ein so schönes Persönlchen."

 

„Ave, Maria!“. „Das Leben gewinnt“. „Dem blauen Vogel zur schwierigen Maria folgen“. „Prymachenko's Stern am Horizont der Welt“. „Prymachenko ist wirklich ein Stil“.

 

In der Bibliothek im zweiten Stock des Iwankiwer Gemeindezentrums liegt ein Album mit Ausschnitten aus alten Zeitungen. Das vergilbte Druckpapier verleiht den überheblichen Schlagzeilen über Mariia Oksentiivnas Arbeit mehr Gewicht.

 

Während der Besetzung im Jahr 2022 fielen Kugeln durch das Fenster der Bibliothek. Spuren blieben an der Eingangstür und an der Wand zurück. Eine blieb in der Enzyklopädie der modernen Ukraine stecken und fügte ihrem Inhalt ein weiteres Kapitel hinzu.

 

 

Eine zerschossene Enzyklopädie der Geschichte der modernen Ukraine ist eine der besten Metaphern für diesen Krieg

 

Zeitungsausschnitte werden von Studenten und Kunsthistorikern studiert, die sich für Prymachenkos Werk interessieren

 

- „Es gibt eine Legende, dass die Soldaten von Kadyrow mit einer Überwachungskamera hir gekämpft haben“, sagt Bibliothekarin Svitlana, „aber du wirst nie erraten, was wirklich in ihren Köpfen vorging. Sie haben unser Fernsehgerät 'entnazifiziert'. Er ist ramponiert und hat zwei senkrechte Streifen, aber man sieht es ihm an.

Einst waren die Wände des Kulturhauses mit Zeichnungen von Maria Prymachenko geschmückt. Früher wurden dort Discos veranstaltet."

 

 

Iwankiw-Museum für Lokalkunde, aus dem Prymachenkos Gemälde gerettet wurden. Es wurde einige Jahre vor der Invasion rekonstruiert.

Der Blick von den Hügeln von Iwankiw mit dem Fluss Teteriw, wie ihn Prymachenko gesehen hat

 

- „Es gab keinen Boom dafür wie jetzt“, erinnert sich Iryna Prokopenko, die früher in einen Tanzverein ging. „Die Leute waren immer überrascht: „Was ist denn so besonders daran? Das hätten wir doch auch selbst zeichnen können!“

 

Irynas Mutter arbeitete im Kindergarten, als einige der Prymachenko-Familienmitglieder dorthin gebracht wurden. Als Iryna acht Jahre alt war, schenkte Maria Prymachenko ihr ein Bild.

 

- „Da ist ein Kalb, mein Name hat drei Buchstaben und einen Druckfehler“, lacht Prokopenko, „Sie hat sehr interessant gemalt. Ich habe das Bild immer noch.

Ich habe sie als eine ruhige, immer freundliche, lächelnde Großmutter in Erinnerung."

 

Nachdem sie die Besatzung überlebt hat, webt Iryna Prokopenko seit eineinhalb Jahren mit einheimischen Frauen Netze für die Streitkräfte der Ukraine.

 

Flicken für Flicken, Zentimeter für Zentimeter - dieser Stil hat keine Ähnlichkeit mit der Art und Weise, wie Primachenko früher gezeichnet und für die Frauen genäht hat. Aber in der märchenhaften Polissia, wo sogar Pferde fliegen, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie Maria Oksentievna heute in der Freiwilligenwerkstatt arbeitet.

 

 

 

 

 

In eineinhalb Jahren haben die Freiwilligen von Ivankov 800 Tarnnetze für die Streitkräfte der Ukraine hergestellt

 

Im Schatten der Eichen und Kirschbäume, die ihre reifen Beeren auf die leeren Tische neben den Gräbern mit Handtüchern werfen, sticht ein quadratischer Grabstein mit einem Feuervogel hervor.

 

Es gibt kein Porträt, nur eine Inschrift: „Maria Oksentiivna Prymachenko. 13.01.1908 - 18.08.1997“. Als ob die Bilder wichtiger wären als die Person.

 

Es gibt kein Denkmal oder eine Büste von Prymachenko in Bolotnia oder Ivankiw.

 

- „Woher soll ich wissen, warum?“, kann ihre Nichte Hanna keine Erklärung dafür finden. „Hast du das Grab gesehen? Nun, den Vogel verstehe ich. Aber warum nicht ein Porträt? Sie war doch so ein schöner Mensch!"

 

Die meisten Menschen erinnern sich an Prymachenko als eine Künstler-Großmutter. Aber sie begann schon in ihrer Jugend zu malen

 

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