«Wir brauchen Gott»: Ukrainischer Menschenrechtler über den Krieg in seiner Heimat
Myroslaw Marynowytsch mit seiner Assistentin Iwanka Zacharewytsch
Der Krieg in Israel hat den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten gerichtet. Myroslaw Marynowytsch, ukrainischer Menschenrechtsaktivist und früherer Dissident in der Sowjetunion, der jahrelang in Straflagern gefangen gehalten wurde, erklärte jüngst in der Zürcher St. Anton-Pfarrei, wie ein gerechter Frieden in der Ukraine aussehen sollte. Ausserdem stellte er seine Memoiren vor.
Wolfgang Holz kath.ch
Herr Marynowytsch, in der Ukraine herrscht noch immer Krieg. Wie geht es Ihnen dabei? Was bekommen Sie davon in Lwiw mit?
Myroslaw Marynowytsch: In der Gegend von Lwiw, wo ich lebe, gibt es keine täglichen Bombardierungen wie im Osten der Ukraine, wo es viel gefährlicher ist als in der Westukraine. Und trotzdem ist jeder Tag für uns sehr schmerzhaft. Ich schaue jeden Morgen aufs Smartphone, um mich über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren.
Wir haben jeden Tag Menschen zu beklagen, die im Krieg umkommen und die wir verlieren. Und täglich wird unsere Infrastruktur durch die russische Armee zerstört. Wir lassen uns von Putin aber nicht unterkriegen und geraten nicht in Panik. Er will ja, dass wir uns jeden Tag ängstigen, dass wir uns demoralisiert fühlen. Dass wir aufgeben. Wir behalten aber die Ruhe und gehen täglich zur Arbeit, in die Schule, in die Universität.
Wie gross sind Ihrer Meinung die Chancen auf einen Frieden nach eineinhalb Jahren Krieg?
Marynowytsch: Die einfachste Antwort ist: Der Frieden ist hergestellt, sobald die russische Armee sich aus der Ukraine zurückgezogen hat und die territoriale Integrität unseres Landes in den Grenzen von 1991 wieder hergestellt ist. Aber das ist im Moment nicht realistisch.
Und die realistische Variante, wie würde die aussehen?
Marynowytsch: Es gibt derzeit keine realistische Variante, aber was wäre die Alternative? Im Westen hört man immer wieder Stimmen, die uns sagen, seid doch realistisch, gebt auf, verzichtet auf die Krim und den Donbass. Und dann wird es Frieden geben, und es wird nicht mehr zu menschlichen Kriegsopfern kommen. Aber das ist keine akzeptable Lösung für die Politik und die Kirche.
Warum?
Marynowytsch: Das würde zum einen bedeuten, dass man Aggressoren international ermuntern würde, ebenfalls fremde Territorien zu erobern – beispielsweise China in Taiwan. Was die Ukraine selbst betrifft, hat unser Staat im Budapester Memorandum 1984 als neutraler Staat auf seine Nuklearwaffen verzichtet im Gegenzug für seine territoriale Garantie. Daran hat sich Russland nicht gehalten.
Putin hat keinerlei Vision für einen Frieden. Alles, was er will, ist die Sowjetunion in den alten Grenzen wieder herzustellen und den Warschauer Pakt wieder zu etablieren. Nicht zuletzt unterdrückt Putin in den eroberten Gebieten im Donbass die Bevölkerung, in dem seine Truppen bereits eine neue Art Gulag-Straflagersystem aufgebaut hat. Das Blutvergiessen unter der lokalen Bevölkerung geht also jetzt schon weiter.
Wie lautet also Ihr Fazit für einen gerechten Frieden für die Ukraine und für die Welt?
Marynowytsch: Wie gesagt, wir wollen unser Territorium in den ursprünglichen Grenzen wiederhergestellt haben. Wir fordern, dass Kriegsverbrechen gesühnt werden – und zwar nicht nur die Verbrechen von Putin und anderer ranghoher Politiker und Militärs, sondern auch die Kriegsverbrechen einfacher Soldaten.
Der Kampfpanzer Leopard 2 wurde der Ukraine zur Verteidigung im Kampf gegen Russland geliefert.
Diese haben mitgeholfen, ein Genozid in der Ukraine zu begehen. Desweiteren fordern wir moralische und finanzielle Reparationen. Nicht zuletzt streben wieder eine «Deputinisierung» der russischen Gesellschaft an.
«Putin ist ein Krimineller, ein Terrorist.
Er unterscheidet sich von Osama Bin Laden nur dadurch,
dass er Atombomben besitzt.»
Und was ist mit dem Weltfrieden?
Marynowytsch: Dieser ist durch die jüngsten Ereignisse in Israel erschüttert worden. Dort ist die Achse des Bösen aus Russland, Iran sowie teilweise von China auf den Plan getreten, um vom Krieg in der Ukraine abzulenken. Die Ukraine ist von den Fernsehschirmen seitdem quasi verschwunden. Der Westen muss sich deshalb nun sehr solidarisch zeigen, damit wir gemeinsam den Machtspielen Putins nicht verfallen und den Frieden international wieder herstellen können.
Sie haben von einer notwendigen Deputinisierung der russischen Gesellschaft gesprochen. Wie kann Russland überhaupt wieder demokratisch werden? Sie waren ja als Dissident in den 1970-er Jahren selbst Teil des Helsinki-Prozesses. Muss Putin einfach gestürzt werden?
Marynowytsch: Ich wäre froh, wenn man Putin von der Macht entfernen könnte. Denn Putin ist ein Krimineller, ein Terrorist. Er unterscheidet sich vom früheren Al-Kaida-Führer Osama Bin Laden nur dadurch, dass er Atombomben besitzt. Aber nein, eine russische Gesellschaft ohne Putin allein reicht nicht aus, um die russische Mentalität des imperialen Staatsdenkens zu reformieren.
Demokratie bedeutet für die meisten Russen nur Chaos. Man muss aufrechte Menschen in Russland finden, die nach der Niederlage Russlands bereit sind, das gesellschaftliche und politische Denken Russlands zu verändern. Und mit diesen Menschen muss der Westen dann zusammenarbeiten. Für uns in der Ukraine ist in dieser Beziehung Deutschland ein grosses Vorbild, das es gerade durch seine Niederlage im Zweiten Weltkrieg schaffte, sich als demokratischer Staat und als reflektierte Gesellschaft zu entwickeln.
Apropos politischer Widerstand. Sie selbst haben sieben Jahre Ihres Lebens in sibirischen Straflagern zugebracht. Wie haben Sie das überlebt?
Marynowytsch: Ich habe mich nie davon abbringen lassen, an den finalen Sieg der Wahrheit zu glauben. Mir war immer klar, dass die Sowjetunion eines Tages kollabieren wird.
Auch das Regime Putin wird eines Tages zusammenbrechen. Ich war damals noch jung, 28 Jahre alt, als ich ins Gefängnis kam. Ich hatte stets den Frieden in meiner Seele und in meinem Herzen. Jemand, der Übles tut, wird nie inneren Frieden erleben.
Sie sind Vize-Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lwiw. Wie viele Studenten haben Sie dort?
Marynowytsch: Wir lehren etwa 2000 Studenten an unserer Universität. Was ich feststelle, seitdem der Krieg ausgebrochen ist: Die Studenten hören mir und den anderen Dozenten viel aufmerksamer zu. Sie sind ganz Ohr. Sie haben erkannt, dass spirituelle Werte in solchen Krisenzeiten grundlegend wichtig sind, um zu überleben.
Auch das Regime Putin wird eines Tages zusammenbrechen. Ich war damals noch jung, 28 Jahre alt, als ich ins Gefängnis kam. Ich hatte stets den Frieden in meiner Seele und in meinem Herzen. Jemand, der Übles tut, wird nie inneren Frieden erleben.
Sie sind Vize-Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lwiw. Wie viele Studenten haben Sie dort?
Marynowytsch: Wir lehren etwa 2000 Studenten an unserer Universität. Was ich feststelle, seitdem der Krieg ausgebrochen ist: Die Studenten hören mir und den anderen Dozenten viel aufmerksamer zu. Sie sind ganz Ohr. Sie haben erkannt, dass spirituelle Werte in solchen Krisenzeiten grundlegend wichtig sind, um zu überleben.
Grundsätzlich hat sich die interreligiöse Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Religionen in der Ukraine seit dem Ausbruch des Kriegs verstärkt. In Zeiten von Krieg, von Gut und Böse, von Licht und Dunkelheit, brauchen wir Gott.
Zur Person
Myroslaw Marynowytsch wurde 1949 in dem Dorf Komarowytschi im Gebiet Drohobytsch (heute: Gebiet Lwiw) geboren. Der heute 74-Jährige entstammt einer religiösen Familie, sein Grossvater war Geistlicher.
Von 1967 bis 1972 studierte Marynowytsch an der Technischen Hochschule Lwiw. Er trat hier mit kritischen Äusserungen über die sowjetische Politik hervor. Von der militärischen Ausbildung der Hochschule wurde er ausgeschlossen, sodass ihm der für Studenten übliche Offiziersrang verwehrt blieb. Ein Jahr arbeitete er als Übersetzer für Englisch in einem Industriebetrieb in Iwano-Frankiwsk. In dieser Zeit kam er mit Dissidenten in Lwiw und Kiew in Kontakt. Als er am 22. Mai 1973 Blumen am Taras-Schewtschenko-Denkmal niederlegte, wurde er erstmals festgenommen und durchsucht.
Marynowytsch zählte 1976 zu den Mitbegründern der ukrainischen Helsinki-Gruppe in der Sowjetunion. Am 23. April 1977 wurde er festgenommen und ein Jahr später zu sieben Jahren Haft im Lager Perm-36 in Sibirien und zu fünf Jahren Verbannung in Kasachstan verurteilt. 1987 kehrte er in die Ukraine zurück, wo er 1991 den ukrainischen Zweig von Amnesty International mitbegründete.
Seit 1997 leitet er das Institut für Religion und Gesellschaft der Ukrainischen Katholischen Universität Lwiw, deren Vizerektor er seit 2007 ist. Von 2010 bis 2014 war er Vorsitzender und ist seitdem Ehren-Vorsitzender des ukrainischen PEN-Clubs. Unter dem Titel «Das Universum hinter dem Stacheldraht» hat Myroslaw Marynowytsch seine Memoiren veröffentlicht. (woz)
Das Buch kann beim Verfasser dieses Blog und Herausgeber der deutschen Übersetzung zu einem Sonderpreis erworben werden
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Mehr zu Myroslaw Marynowytsch
https://www.max-hartmann.ch/blog/myroslaw-marynowytsch/
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