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«Gottes Präsenz war stärker spürbar als in Freiheit»

Myroslaw Marynowytsch: «Putin hat erkannt, was das russische Volk will.»

 

«Gottes Präsenz war stärker spürbar als in Freiheit»

 

Widerstand

 

Myroslaw Marynowytsch ist ein bekannter ukrainischer Menschenrechtsaktivist. Ein Gespräch über seine Jahre im sowjetischen Arbeitslager, Feindesliebe und Waffengewalt.

 

13. November 2023, Zeitung "reformiert" von Cornelia Krause 

Foto z.v.G. Myroslaw Marynowytsch

 

Wegen Ihres Menschenrechtsengagements in der Sowjetunion verbrachten Sie zehn Jahre Ihres Lebens in Arbeitslager und Verbannung. Was hat diese Zeit mit Ihnen als Mensch gemacht?

 

In erster Linie machte mich die Zeit zu einem Gläubigen. Ich wuchs zwar in einem christlichen Elternhaus auf, aber ich habe als junger Mann nicht an Gott geglaubt. In der Haft hatte ich dann mehrere Erweckungserlebnisse, die meinen Blick auf das Leben und das Universum veränderten. Nun verstand ich, dass Gott die Essenz unseres Lebens ist, das hat mir damals sehr geholfen.

 

Auch weitere Häftlinge fanden in den Lagern zum Glauben, wie Sie in Ihrer Autobiografie schreiben. Wie erklären Sie sich das?

Das liegt nicht etwa an der Verzweiflung der Menschen. Ich glaube, es verhält sich wie mit einem Blinden, dessen andere Sinne schärfer werden. In den Lagern gab es keine Bibeln, Gottesdienste, Liturgien – all das war verboten. Aber die Präsenz Gottes war stark spürbar, stärker als später in Freiheit.

 

Mehrfach wurden Sie aufgefordert, Ihre «Vergehen» zu bereuen, vielleicht hätten Sie damit Ihre Strafe mindern können. Warum war das nie eine Option?

Das war die wichtigste Entscheidung meines Lebens. Viele Dissidenten waren ehrliche Menschen mit reinen Herzen. Ich sah, wie sie litten, und wollte ihnen zur Seite stehen. Vor meiner Verhaftung war ich einmal in Moskau. Ich stand auf dem Roten Platz, der Kreml wirkte so mächtig, so unzerstörbar. Später traf ich einen Freund, auch er war Mitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe. Wir umarmten uns, redeten lange, es war eine intensive Begegnung. Ich dachte mir: Nein, unsere Kraft ist stärker als die staatliche Macht. Vaclav Havel nannte das die «Macht der Machtlosen».

 

Zehn Jahre in Arbeitslager und Verbannung

Marynowytsch, 74, ist Mitglied der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion. Der studierte Elektrotechniker war in den 70er-Jahren Gründungsmitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe, die Menschenrechtsverletzungen dokumentierte. Für sein Engagement wurde er 1977 zu sieben Jahren Zwangsarbeit im russischen Lager Perm verurteilt und verbrachte danach drei Jahre in der Verbannung in Kasachstan. Nach dem Ende der Sowjetunion gründete er den ukrainischen Zweig von Amnesty International mit und betrieb unter anderem an Universitäten in den USA und den Niederlanden Ostforschung. 1997 übernahm er die Leitung des Instituts für Religion und Gesellschaft der Ukrainischen Katholischen Universität Lwiw, als deren Vizerektor er amtet. Im September erschienen seine Memoiren «Das Universum hinter dem Stacheldraht» im ibidem-Verlag.

 

Sie beschreiben mehrfach, wie die Sowjetunion versuchte, die ukrainische Identität der Menschen zu unterdrücken. Ist der aktuelle Krieg für Sie ein Déjà-vu?

Definitiv. Das liegt an der historischen Perspektive Russlands auf die Ukraine. Sie reicht weit zurück in die Mitte des 17. Jahrhunderts, zur Gründung des russischen Reichs. Zu diesem gehört zwingend die Ukraine. Kiew gilt auch als Wiege des Christentums in unserem Teil der Welt. Ohne die Ukraine wäre Russland eine Art Moskauer Königreich. Deshalb will Putin das russische Reich wiederaufbauen.

 

Was heisst das in der Konsequenz?

Als Nächstes kämen die baltischen Staaten und Moldau dran. Putin hat seine Ambitionen klargemacht. Diese imperialistische Weltsicht ist auch nicht nur die des Präsidenten. Sie ist im Volk verankert, wird über die Medien kolportiert und in den sozialen Medien oft geäussert.

 

In Russland sind Medien und Meinungsfreiheit eingeschränkt. Viele sagen, das Volk stehe nur hinter Putin, weil es manipuliert werde.

Das ist falsch. Nicht Putin hat die russische Gesellschaft geschaffen. Er ist Produkt dieser Gesellschaft. Er erkannte, was das Volk will. Die Gesellschaft litt stark unter dem Verlust von Territorien nach dem Zerfall der Sowjetunion. Mit der Rückeroberung der Krim machte Putin den Russen ein Geschenk und erhielt viel Applaus dafür.

 

Schon im Arbeitslager setzten Sie sich mit Feindesliebe auseinander. Wie steht es darum jetzt?

Mir ist wichtig, zwischen Vergebung und Versöhnung zu differenzieren. Vergebung ist kein Geschenk für den Unterdrücker, es ist ein egoistischer Akt, um sich aus dem Teufelskreis von Schuld und Rache zu befreien. Ich bin bereit, den Russen zu vergeben, wie ich meinen Peinigern im Lager vergab.

 

Und Versöhnung?

Dafür braucht es eine gerichtliche Aufarbeitung und Bestrafung für die Kriegstreiber. Genauso ist nötig, dass das Volk die Wahrheit akzeptiert. Ich kann mich nicht mit jemandem versöhnen, der behauptet, ich sei ein Nazi. Die Russen zu lieben, bedeutet für mich, dass ihnen die Augen geöffnet werden müssen, damit sie ihre Verantwortung tragen, eine Katharsis durchlaufen.

 

Was sagen Sie Pazifisten, die sich gegen Waffengewalt aussprechen?

Das Evangelium ist für mich nicht pazifistisch. Jesus brachte Werte in diese Welt, um die gestritten wird. Letzten Sommer hatte ich eine Audienz bei Papst Franziskus. Er war damals zurückhaltend, was das Thema Waffen angeht. Also fragte ich ihn, ob wir uns etwa nicht verteidigen dürften. Der Papst sagte, wir dürften nicht nur, wir müssten uns sogar selbst verteidigen, sonst würden wir Selbstmord begehen.

 

 Auch die westlichen Länder müssen verstehen, dass sie nun für diesen Kampf etwas opfern müssen. 

 

Kritiker von Waffenlieferungen befürchten, dass andere Länder in einen Krieg hineingezogen werden könnten, der nicht ihr eigener ist.

 

So etwas höre ich immer wieder. So argumentierten auch die Franzosen, als sich Deutschland 1939 Danzig einverleibte. Wird Russland jedoch nicht gestoppt, so wird dieser Krieg in andere Länder kommen. In Israel sehen wir eine ähnliche Situation. Russland profitiert vom Krieg dort, er ist eine zweite Front.

 

Sehen Sie Russland sogar als Strippenzieher?

Sicher nicht allein. Aber mit Iran hat Russland eine Achse des Bösen gebildet. Es geht darum, die internationale Ordnung zu zerstören.

 

Befürchten Sie, dass die Unterstützung für die Ukraine schwindet?

 

Als die Hamas Israel angriff, war mir sofort klar, dass die Ukraine an Sichtbarkeit verliert. Aber die USA haben weitere Hilfen zugesagt. Und ich hoffe, dass die westlichen Demokratien verstehen, dass sie nun eine Achse des Guten bilden, sich solidarisieren müssen. Jetzt ist ein entscheidender Moment im 21. Jahrhundert. Auch die westlichen Länder und ihre Bevölkerungen müssen verstehen, dass sie nun für diesen Kampf etwas opfern müssen.

 

 

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