Ein Dialog von Max Hartmann mit dem Künstler Gabriel Wolff
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Der terroristische Überfall der Hamas befeuert den bereits lange zunehmenden Antisemitismus. Jüdische Menschen werden angegriffen, Häuser mit Davidsternen gekennzeichnet, wagen nicht mehr, sich auf der Strasse als jüdisch zu erkennen geben.
In diesem Zusammenhang musste ich an Gabriel Wolff denken. Er ist es, dem ich das Design meines grösstes meiner Tattoos verdanke. Ich wollte damit auch ein Zeichen meiner Verbindung als Christ zu den Wurzeln meines Glaubens in der Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk zu setzen. Paulus ist es, der in aller Klarheit sagt: „Wenn du dich aber über sie erheben willst: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!“ (Römer 11,18)
Ich schrieb Gabriel und er mir zurück. Damit klarer wird, wer Gabriel ist, sein Verständnis seiner Kunst und seiner jüdischen Identität, ergänze ich den Beitrag mit seinen Gedanken.
Max Hartmann
Vielleicht erinnerst du dich noch an mich. Du hast ein wunderschönes Design für mich entworfen, das auf geniale Weise mit meiner Lebensgeschichte verknüpft ist - Traumatisierung in der Kindheit durch den Unfalltod meines Bruders und, als ich über 50 war, eine lange depressive Episode. Danach wollte ich mich mit einem Tattoo in der Botschaft verankern, die mir bereits bei der Konfirmation auf seinem Lebensweg mitgegeben wurde und wir spielt, was für mich heilsam ist: "Dein Bund des Friedens wird nicht von dir weichen." (Jesaja 54,10. Zuvor steht auch: „Denn die Berge werden weichen und die Hügel wanken.“ Mein Leben ist so, wie du es mit deiner Kalligrafie ausgedrückt hast. In der Mitte erscheinen eine Menge Brüche, darunter auch Lebenspläne, die ich nicht erreicht habe. Und eine Menge Krankheit. In den letzten vier Jahren hatte ich fünf Operationen.
Ich habe mich oft gefragt: Hört das denn nie auf? Aber dann sehe ich das Tattoo auf mir, das mir niemand wegnehmen kann: ich sehe den Kreis schützenden Kreis herum.
Ich nenne das Gott.
Ich dachte immer wieder an dich. Was ich aus deinen Posts und Interviews und Mailwechsel mit dir weiss, dass du eine schwierige Zeit in der Armee hattest, du im Gefängnis warst, wo du Tätowierungen entdeckt hast. (Später entdecke ich den Grund der Bestrafung: Er verweigerte aus Gewissensgründen, sich an einem Armeeeinsatz im Westjordanland zu beteiligen)
Dann auch, dass du ganz in der Nähe der grossen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gelebt hast und später in Argentinien und heute in Berlin. Bereits in deiner Kindheit zeigtest du deine künstlerische Begabung. Tinte und schönes Schreiben faszinierte dich. Später hast du die jüdische Tradition der Kalligrafie entdeckt und dann eine freie Interpretation gewagt, zudem als Vorlage für etwas, was eigentlich im jüdischen Glauben abgelehnt wird: für Tattoos. Du gehst dabei sehr persönlich auf die Leute ein, die sich ein Design von dir wünschen. Diese Kunst ist einmalig in der Welt der Tattoos.
Es gibt auch von dir Werke, die nicht für ein Tattoo bestimmt sind. Es sind Kaligrafien von zentralen Worten in der jüdischen geistigen Welt. Eines davon – חֶסֶד ḥesed
– Gnade – habe ich von dir gekauft und hängt im Schlafzimmer, mich inspirierend.
Du gehst gerne in die Bibliothek der Humboldt-Universität in Berlin, wo du deine geistige Bildung nährst. Besonders die Philosophie, aber auch die Forschung der tieferen Bedeutung hebräischer Worte faszinieren dich.
Menschen wie du, sind sehr talentiert und hoch sensibel. Sensibilität ist eine Gabe - und eine Gefahr.
Du bist auch ein Mensch auf der Suche nach deiner jüdischen Identität – und einer Interpretation des geistigen und spirituellen jüdischen Erbes, die frei ist von jeden Vorgaben.
Lange habe ich nichts mehr von dir und deiner Kunst gesehen. Dann bist "wieder aufgetaucht" und führst die Kalligrafie weiter.
Was mich gegenwärtig beunruhigt, auch in Bezug auf dich, ist die aktuelle Entwicklung. Es ist eine dunkle Zeit. Die Geister der Vergangenheit tauchen wieder auf. Der Antisemitismus ist alles andere als verschwunden. Er war nur teilweise verborgen.
Heute zeigt er sich wieder offen - auch wenn viele der Beteiligten es leugnen. Ich denke dabei an alles, was rund um die "Free Palestine"-Demonstrationen geschieht, und das nicht nur in der islamischen Welt. Dort hat der Antisemitismus Tradition. Der Westen bemerkt allmählich, wie die fehlende Integration in unsere aufgeklärten Werte eine Parallelgesellschaft unter islamischen Migranten geschaffen hat, die für uns eine Gefahr ist. Auf Demonstrationen werden bei uns Phrasen skandiert, die eindeutig antisemitisch sind – und das nicht nur von muslimischen Migranten.
Es gibt die sehr linke Szene, die sich gegen die Herrschaft der "weißen Männer", und den kapitalistischen Imperialismus, wendet - und für die die USA und Israel der Feind sind. Die Hamas wird nicht verurteilt, das Recht Israels auf Selbstverteidigung geleugnet, schlussendlich die Existenz von Israel. In den USA werden an den Eliteuniversitäten die gleichen Phrasen skandiert wie auf islamistischen Demonstrationen.
In der ultrarechten Szene zeigt sich die alte Ideologie der Nazis. Ich war völlig schockiert, als jemand in einem Kommentar zu einem Pro-Israel-Artikel in einer rechtsgerichteten Schweizer Zeitschrift schrieb, dass man unbedingt das "Protokoll der Weisen von Zion" lesen müsse – eine wüste Fälschung aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts aus Russland, die Hitlers Lieblingsschrift war und ihm zu seinem teuflischen Plan der „Endlösung der Judenfrage“ trieb und damit zum grössten Verbrechen, dem Holocaust.
Die Kontrollfunktion der Zeitung über die Kommentare hat überhaupt nicht funktioniert. War das dumm oder wurde es sogar absichtlich drin gelassen?
Ich ahne, dass du als liberaler jüdischer Mensch eine Menge Fragen zur aktuellen politischen Situation in Israel hast. Du unterstützt wohl die Tausenden von Menschen in Israel, die gegen den Abbau des Rechtsstaates seit Monaten demonstrieren – und damit gegen eine Regierung, die nur dank gewaltbereiten rechtsextremen Gruppierungen zustande kam. Sie vertreten auch die Szene unter Siedlern im Westjordanland, die gesetzlos zu den Waffen greifen und Anschläge auf die palästinensiche Bevölkerung verüben.
Und du bist überzeugt, dass Frieden eigentlich möglich wäre. Dazu müssten die Palästinenser/innen aber auch auf die ständigen gewaltsamen Angriffe verzichten, die Existenz Israels anerkennen und zu seiner Lösung bereit sein, die ein Leben für alle ermöglicht. Niemand kann zu seinem Wohl immer auf seine Rolle als Opfer beharren.
Ich möchte einfach meine Solidarität mit dir zum Ausdruck bringen.
Was mir ebenfalls Sorgen bereitet, ist die Rolle Russlands. Putin ist viel gefährlicher, als wir dachten. Er tut alles, was er kann, um "Russland wieder groß zu machen" - und alles, was den Westen schwächt, dient diesem Zweck. Als KGB-Mann handelt er ungeniert kriminell: Er förderte die Wahl von Trump gefördert, um die USA zu spalten, unterstützt die Verschwörungsszene und fördert die Verbreitung von Fake-Nachrichten, die verdeckt bis offen antisemitisch sind, die Ultra-Rechte und die Ultra-Linke als seine nützlichen Idioten.
Er hat wohl auch die Hamas aktiv unterstützt, damit die Welt von der Ukraine abgelenkt wird und der Westen nicht die Kraft hat, sowohl die Ukraine als auch Israel finanziell und mit Waffen zu unterstützen.
Er schwächt alle EU-kritischen Kreise und hofft auf ihre Auflösung. Er unterstützt alle, die Migration und die Aufnahme von Geflüchteten ablehnen – und fördert gleichzeitig aktiv, dass von einer unkontrollierbaren Migration aus islamischen Ländern und der Armut aus Afrika überrollt wird. Er schleimt sich bei Afrika, Südamerika und Asien ein als Opfer des westlichen Kolonialismus, damit diese sich vom Westen abwenden und mit China und Russland verbünden.
Russland und die Sowjetunion hatten und haben eine lange antisemitische Tradition, die wieder aufblüht, etwa in der faschistischen Philosophie von Dugin. Natürlich würde Putin alles leugnen. Schon länger hat er sich mit dem Iran als Feind der USA und Israel verbündet, lässt sich heute Waffen für seinen Krieg gegen die Ukraine liefern - und unterstützt wohl den Iran als der größte Waffenlieferant der Hamas.
Herzliche Grüße und Shalom
Gabriel
Hallo Max! Natürlich erinnere ich mich an dich! :)
Wie geht es mir? In der Not, dunkle Zeiten. Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe wie seit dem 7. Oktober. Ich fühle mich unwohl hier in Berlin, wegen des Antisemitismus. Jahrelang habe ich über die Möglichkeit gelacht, dass das passieren könnte, und jetzt ist es wieder soweit. Schon wieder. Ich versuche, auf der Straße kein Hebräisch zu sprechen. Ich wurde schon angegriffen, wenn ich es tat. Und es fühlt sich so an, als wäre dies erst der Anfang einer vollkommen anderen Ära als die, die wir in den letzten Jahrzehnten kennengelernt haben.
Doch das Einzige, was sich in meinen Augen wirklich verändert hat, ist, wie offen der Antisemitismus hier in Europa propagiert wird. Der ganze Rest? Wir wussten es. Wir kannten Putin, wir wussten, wie einige der progressiven Linken die Weltgeschichte sehen, wir wussten, wie einige der radikalen Rechten über Juden denken.
Und um ehrlich zu sein, wir wussten, dass die Situation im Nahen Osten nur vorübergehend ruhiger war und ein Ausbruch unvermeidlich war. Wir mögen in der Analyse dessen, was zu diesem Punkt geführt hat, durchaus unterschiedlicher Meinung sein. Aber ich habe das Gefühl, dass wir uns als Gesellschaft nicht darüber einig sind, dass alles, was wir bis zum 7. Oktober für unfehlbare Logik gehalten haben, radikal überdacht werden muss.
Das Einzige, was ich im Moment als relevant empfinde, ist die erwähnte Sensibilität. Zum ersten Mal seit vielen Jahren habe ich eine gemeinsame Basis mit den radikalen Linken, Postkolonialisten, progressiven Liberalen usw.: (er meint damit die Empathie für leidende Menschen; MH). Die einzige Wahrheit, die im Moment relevant ist, ist das, was wir innerlich fühlen.
Jeder, der heute klare "objektive" Antworten hat, ist zu verblendet, um zu erkennen, dass diese Antworten nicht mehr funktionieren. Vielleicht morgen, vielleicht in einem Jahr, aber nicht jetzt. Dies ist eine Zeit, in der wir uns eingestehen müssen, dass wir uns neu kalibrieren müssen.
AUSSER FÜR! ;) außer für eine Person. In diesem ganzen unglaublichen Lärm habe ich ein einziges Interview mit einer Person gehört, die mich nicht ungläubig die Hand vor den Kopf stoßen ließ. Schau dir dieses Schweizer Interview mit Omri Boehm an. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was er sagt, aber ich glaube, dass nur diese Art von Offenheit uns jetzt helfen kann.
Das, und die Schönheit.
Max
Hallo Gabriel, darf ich dir auch auf Deutsch schreiben? Mit dieser Sprache kann ich präziser umgehen. Du schreibst übrigens ein hervorragendes Englisch, dass sich in dieser Präzision nicht auf Deutsch weitergeben lässt.
Danke für deine Worte. Sie berühren mich – und bestätigen meine Befürchtung, dass wir gegenwärtig in einer Entwicklung sind, die sehr gefährlich ist. Wiederholt sich einmal mehr, was wir scheinbar überwunden hatten: dieser Dämon des Antisemitismus?
Seit es das jüdische Volk gibt, gibt es auch seine Verfolgung. Und an der Existenz Israel scheiden sich die Geister weltweit. Ich meine mit der Haltung für die Existenz von Israel nicht das, was viele meiner christlichen Freunde damit meinen: eine kritiklose Unterstützung der Politik Israels, der gegenwärtigen Regierung – bis hin zu Meinung, Israel gehöre alles bis zum Jordan.
Hinter der Tatsache, dass es jüdische Menschen bis heute gibt trotz aller unsäglichen Verfolgungen und teuflischen Plänen der Vernichtung – und dass die Diaspora die jüdische Identität nicht auflösen konnte, ist geschichtlich gesehen einmalig. Viele Völker sind dagegen verschwunden.
Für mich liegt darin ein Mysterium – für mich das Mysterium, das ich den Gott Israels nenne, JHWH.
Es ist übrigens sehr spannend, auf deiner wunderschönen Homepage dein Verständnis zum Gebet zu lesen. Für mich bist du ganz gewiss kein Atheist. Atheismus betrachte ich eine Form des Fundamentalismus, der zu meinen glaubt, der wisse es und besitze die Wahrheit.
Der Agnostiker dagegen weiss es nicht. Vielleicht ist damit der Agnostiker gläubiger als viele der Gläubigen, die meinen, Gott fassen zu können.
Gewiss, ich bin ein Christlich-Gläubiger. Sonst wäre ich nicht Pfarrer geworden. Aber ich konnte und kann meinen Glauben nicht auf die fundamentalistische Weise fassen, die meint, sein Verständnis wäre der einzig richtige Glaube. Ich habe ein Verständnis, dass wir manchmal das, was wir gerade verstehen, für richtig halten. Aber es darf sich so ins festsetzen, dass es sich nicht entwickeln kann, keine Fragen und Zweifel zulässt, neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse und manchmal auch die Trennung von alten, die nicht mehr tragen.
Wo sich ein Glaube nicht mehr bewegt, erstarrt er und verbreitet einen Todesgeruch. Es ist wie beim Wasser, das Bewegung und neuen Zufluss braucht.
Danke für deinen Tipp mit der Sternstunde Philosophie, die ich manchmal auch schaue. Sie war ein echtes Gespräch mit authentischen und teilweise genialen Formulierungen. Was könnte dies bewirken, wenn so ein Weg gegangen würde, auch in Israel und der grossen ungelösten Frage: Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass es in diesem kleinen Raum zwischen Mittelmeer und Jordan zwei Existenzen gibt: das jüdische und das palästinensische?
Was mir auf der zweiten Seite fehlt, ist die «vernünftige Stimme», die auf Gewalt verzichtet und den Dialog sucht. Es gibt wohl einige auch. Aber sie gehen im Lärm der Gewalt völlig unter. In der israelischen Gesellschaft dagegen höre ich viele dieser Stimmen. Du bist ja ein Teil von ihr, und gewiss nicht der einzige.
Danke, dass ich dir schreiben darf. Mir ist es auch ein Anliegen, nicht nur über Israel zu reden und über jüdische Menschen, sondern mit ihnen. Denn gerade als Christ kann ich, wenn ich die neutestamentliche Botschaft in ihrer Haupttendenz ernst nehme, nicht anders, als zu erkennen, dass wir untrennbar zueinander gehören – auch wenn wir unterschiedlichen Glaubens sind. Ich würde sogar sagen: Wer diese Verbindung trennt, bekommt es letztlich mit diesem JHWH zu tun - der Wirklichkeit der Wirklichkeit, das wahre Mysterium, dass etwas ist. Etwas ist, dass sich nie für uns fassen lässt, es aber Momente gibt, wo sich etwas davon unter uns ereignet.
Noch eine kleine Frage: Einen Satz von dir habe ich nicht verstanden:
«Zum ersten Mal seit vielen Jahren habe ich eine gemeinsame Basis mit den radikalen Linken, Postkolonialisten, progressiven Liberalen usw.: Die einzige Wahrheit, die im Moment relevant ist, ist das, was wir innerlich fühlen.»
Meine Interpretation wäre: Dass du in diesen Kreisen Intellektuelle siehst, die durchaus auch sensibel sind, nicht einfach gleichgültig. Und dennoch verblendet.
Danke für deine Zeit – und ich freue mich, wenn du magst, auf deine Zeilen.
Shalom
Max
Gabriel
Hallo Max, klar, deutsch geht auch :)
Ich würde die Klarheit, die Du in meiner Mail gefunden hast, gerne etwas relativieren. Ich weiss nicht, was gerade passiert. Ich habe das Gefühl, dass jede Klarheit gerade entweder eine Illusion ist, die unser unbedingtes Bedürfnis nach Antworten zu befriedigen versucht, oder (was ich um mich herum sehr viel mehr wahrnehme), das Resultat von Faulheit. Intellektuelle Faulheit, die die Antworten, die wir uns die letzten Jahre und Jahrzehnte zurechtgelegt haben, wiederkäut und uns von Neuem präsentiert, ohne sie hinterfragt zu haben.
Hatten wir schon vorgestern latent Angst vor Antisemitismus und sehen diese Furcht jetzt bestätigt? Passt sie perfekt in ein Weltbild, das wir uns bisher nicht leisten durften, das aber jetzt unbedingt wollen? Haben wir von einem Lager schlicht in das andere gewechselt und verurteilen das, was wir gestern noch verteidigt haben mit den Argumenten, die uns gestern noch selbst vorgeworfen wurden? Dann haben wir wahrscheinlich nicht den Mut oder die intellektuelle Ehrlichkeit aufgebracht, die einer so radikal neuen Realität wie der heutigen gebührt. Niemandem, der heute klare Antworten hat, vertraue ich. Ein paar Wochen sind nicht genug, um Klarheit zu gewinnen. Heutige Klarheit muss entweder aus der prä-07.10.-Welt kopiert worden sein, oder in der post-07.10-Welt im Schnellverfahren produziert worden sein. Beides bringt mich zum Zweifeln.
Und so ist (fast) das einzige, was ich heute gelten lassen will, ein "weiss nicht", vielleicht gespickt mit dem einen oder anderen vagen Bauchgefühl.
Wie gesagt: Es gibt einige wenige Ausnahmen, aber sie sind sehr, sehr selten. Das meiste, was ich lese und höre, ist das politische Äquivalent von Vanilla Ice: heute klingt es geil, in ein paar Wochen wird es vor allem peinlich sein ;)
Nein, Atheist bin ich nicht. Wenn ich das Wort in der Vergangenheit benutzt habe, war es unvorsichtig. Ich würde mich nicht mal als Agnostiker bezeichnen. Vielleicht am ehesten als Mystiker. Fast nichts, was mir die etablierten Religionen vermitteln wollen, berührt mich. Und trotzdem lebe ich mein Leben mit einem starken Gefühl der Gottesbezogenheit. Meine Kunst ist (auch) ein Versuch, das auszudrücken.
Es gibt verschiedene Rituale, die ich mich weiter halte, aber vor allem aus einem Unwohlsein heraus, dass mich überfällt, wenn ich sie fallen lasse. Ich glaube nicht, dass sich da oben irgendjemand darüber freut, wenn ich morgens Gebetsriemen anlege. Ich glaube nicht, dass irgendjemand da oben zufrieden ist, wenn ich freundlich "nein danke" zu einer Pizza mit Schinken sage. Aber ein Tag ohne Morgengebet fühlt sich irgendwie falsch an. Und Schweinefleisch passt irgendwie nicht. Vielleicht hat das nicht mal etwas mit Religiosität oder Spiritualität zu tun. Vielleicht ist es einfach ein Ausdruck einer kollektiven Identität, die sich über die letzten 100 Generationen in unseren Genen festgesetzt hat. keine Ahnung. Ich habe aufgegeben, mich dagegen zu wehren. Bestimmte Dinge sind einfach so, wie sie sind.
Der Punkt mit den Linken, Postkolonialisten und progressiven Liberalen hinkt vielleicht etwas. Was ich in meiner Kommunikation mit solchen Leuten über die letzten Jahre vor allem erlebt habe, ist eine unglaubliche Selbstbezogenheit. Ohne alles postmoderne kategorisch abzulehnen, habe ich doch das Gefühl, dass in den Augen Vieler postmoderne Ideen zu einem Autismus verkommen sind: es gibt keine absoluten Wahrheiten mehr, also kann jede Suche nach Wahrheit nur eine Suche in einem Selbst sein. Und daraus ziehen so einige den Schluss, dass "meine Gefühle die absolute Wahrheit" sind und daher keinerlei weiteren Auseinandersetzung bedürfen. Selbst/-kritik wird als reaktionär oder hinterwäldlerisch angesehen. Kognitive Anstrengungen zu fordern scheint an sich schon eine Mikroaggression zu sein.
Und doch finde ich mich mit diesen Leuten gerade in einer gewissen Weise im selben Boot: ich habe kein Bedürfnis an irgendeiner Kritik, da es mir gerade nicht darum geht, ein kohärentes Weltbild zu finden. Vielmehr geht es mir darum, die neue Realität so zu fühlen, wie sie mir begegnet, ohne Ideologie auf das Gefühl Einfluss nehmen zu lassen. Weltbilder kommen vielleicht später. Erklärungen werden sich wahrscheinlich herauskristallisieren. Aber im Augenblick ist für mich nicht der Zeitpunkt dafür.
Ich habe dein anderes Mails gesehen und werde versuchen, sie zeitnah zu lesen und zu beantworten. Seit Montag vor zwei Wochen haben wir aber eine neue Mitbewohnerin, die uns gerade allen den Schlaf raubt ;) Bild hierunter. Dinge sind also etwas langsamer, dieser Tage.
Max
Hallo Gabriel, nur kurz meine erste Reaktion.
So lange es geschieht, dass Menschen gezeugt und geboren werden, sind diese Welt und wir als Individuum nicht verloren und lebt die Hoffnung. Es braucht diese Verrücktheit, trotz allem, was in dieser Welt geschieht, Kinder zu zeugen und zu gebären, sie zu begleiten und Schritt für Schritt später für ihre eigenen Wege loszulassen.
Wirklich verrückt sind die, die sagen, das sei heute unverantwortlich. Nun ja, unsere eigenen Kinder sind die höchste Art der Verantwortung, die wir übernehmen. Wir wachsen aber auch mit ihnen, wenn wir uns dieser Verantwortung bewusst sind und erfahren, dass beide, wir Eltern, und unsere Kinder nicht perfekt sind und es auch nicht müssen.
Sonst hätte JHWH niemals Abraham gerufen, in ein unbekanntes Land zu ziehen. Später glaubte er nicht mehr an Gottes Verheissung und besorgte sich auf den Rat seiner Frau dann ein Kind mit deren Magd, Hagar.
Liegt darin der Ursprung des Konfliktes zwischen Israel und Palästina? JHWH begegnete dann Hagar und ermutigte sie zum Leben mit ihrem Kind.
JHWH steckt hinter beiden und ihrer Geschichte. Eigentlich gehören sie zusammen. Nicht Hass und Vernichtung ist der Weg, sondern das Leben, das gelebt sein will. Wir sind Leben mitten in Leben, das gelebt werden will, so hat es Albert Schweitzer.
JHWH liess Abraham und Sarah machen, was sie ungeduldig wurden. Abraham war einer, der verrückt war, JHWH zu glauben, aber auch einer der gezweifelt hat und die Dinge in seine Hände nahm.
So wurde er zum «Vater des Glaubens» - der Stammvater beider, die heute in demselben Raum dicht und dicht wohnen.
Dieser Gedanke bewegt mich. Viele begreifen es nicht. Sie halten sich mit ihrer Zugehörigkeit als die wahren Träger der Verheissung. Und das Problem vieler im Islam ist, dass sie in ihrer Überzeugung des einzig richtigen Glaubens mit Gewalt dies anderen überstülpen wollen – die anderen als «Hunde» und «Schweine» bezeichnen und damit selber dazu werden.
Religion verbunden mit Macht ist immer wieder eine grosse Versuchung – und ein Verrat eines wahren Glaubens, der nur im Geist der Freiheit entstehen und leben kann.
Deshalb bin ich nicht unglücklich, dass bei uns gerade die letzten Pfeiler der Verbindung von Staat und Kirche zerfallen.
Shalom euch allen – und besonders dem grossen Wunder, das ihr empfangen habt. Sie zu begleiten ist die vornehmste Aufgabe in unserem Leben.
Wir haben zwei Töchter – Lea und Tabitha. Die eine ist Journalistin im Bereich Politik Inland, die andere Lehrerin in der Oberstufe der obligatorischen Schulzeit. Bei den Medien, wo Lea arbeitet, haben sie rechtzeitig beschlossen, die Kommentarspalten nicht weiterzuführen, damit sie keine Gelegenheit gibt, Antisemitismen zu verbreiten, was weise war.
In meinem Schlafzimmer Kalligrafie "Gnade" von Gabriel und Figuren KlezmerMusiker aus Polen
bonus
gabriel Wolff über jüdische identität
tattoo für Max Hartmann
Gabriel Wolff zum Thema Antisemitismus
Antisemitismus ist überall. Da ich mich online und offline mit jüdischen Themen beschäftige, bin ich ein leichtes Ziel für alle Arten von antisemitischen Angriffen. Und ich erhalte sie täglich. Buchstäblich täglich.
Einige sind unverhohlen rassistisch und offen. Manche kommen in einem intellektuellen oder politischen Gewand daher. Viele sind einfach nur Trolle, die versuchen, uns zu provozieren. Und einige bitten ehrlich und ausdrücklich um unser Mitgefühl.
Die letzte Art war mir immer ein Rätsel. So ärgerlich es auch ist, ein einziger antisemitischer Kommentar zu einem jüdischen Kunstwerk macht Sinn. Aber warum bleibst du dann dabei und versuchst, genau den Juden, der das Kunstwerk geschaffen hat, von deiner rassistischen Bemerkung über ihn zu überzeugen?!
Aber das passiert so oft, vor allem online, dass ich anfing, die Profile auszuspionieren, die versuchten, mit mir eine Diskussion über diese undiskutierbaren Themen zu führen. Ich fand heraus, dass viele dieser Profile gefälscht waren. Aber die, die es nicht waren, offenbarten oft Menschen mit Ideen, die meinen eigenen nicht unähnlich waren. Das war verwirrend.
Und dann sah ich einen Beitrag von einem Freund von mir. Wir kommen aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen und hatten uns an einer Universität in den Niederlanden kennengelernt. Ich liebe diesen Mann. So sehr, dass er auf meiner Hochzeit getanzt hat. Er ist ein guter Mensch. Ich kenne ihn gut genug, um das ohne den geringsten Zweifel zu sagen. Und doch hatte er etwas eindeutig Antisemitisches über die israelische Besatzung gepostet. Das war keine Kritik an einer politischen Situation. Antisemitisch.
Als ich ihn darauf ansprach, war er sehr defensiv. Dennoch wurde mir in unserem Gespräch klar, dass er wirklich und ehrlich nicht verstand, warum das, was er gepostet hatte, rassistisch war. Im Gegenteil: Er hielt sich für einen Verfechter der Menschenrechte. Nicht Hass hatte ihn dazu gebracht, eine antisemitische Idee zu teilen, sondern die Sorge um menschliches Leid.
Diese Geschichte hat keinen Sinn. Ich habe kein Rezept, um mit dieser Situation umzugehen. Es schmerzt mich, aber dieser Schmerz führt mich zu keiner Katharsis. Und doch finde ich es wichtig, die Komplexität der Situation zu sehen und zu akzeptieren.
Sartre und die israelische Besatzung
Ich bin von Sartre fasziniert. Er ist einer der wichtigsten Denker in meinem Leben. Sein Konzept der Freiheit leitet mich schon seit Jahren. Und eines der Dinge, die mich an ihm am meisten beeindrucken, ist das Gefühl völliger intellektueller Ehrlichkeit.
Dennoch gibt es einen bestimmten Aspekt in seinem Leben, der mich sehr stört: seine Besessenheit, die UdSSR zu verteidigen. Im Gegensatz zu anderen Intellektuellen seiner Zeit hat er die schrecklichen Taten, die unter Stalin begangen wurden, nicht geleugnet. Er rechtfertigte sie. Er sah sie als einen Preis an, den die Menschheit auf ihrem Weg zur Befreiung zahlen musste.
Das beunruhigt mich. Und zwar sehr.
Natürlich ist es einfach, sich rückwirkend zu ärgern. Sartre war sich nicht über alles im Klaren, was wir sind. Aber ich fühle, dass es mich aus einem anderen Grund aufregt: Ich erkenne es in einer Situation, die mir viel näher ist, in meiner eigenen Erfahrung, in meiner eigenen Zeit und in meinem eigenen Kontext. Was mich tatsächlich aufregt, ist der jüdische Relativismus, wenn es um die israelische Besatzung geht. Genauer gesagt, ist es die US-amerikanische jüdische Apologetik in Bezug auf die israelische Besatzung.
Warum habe ich also das Bedürfnis, Sartre hier hineinzuziehen? Erstens: Weil jede Gelegenheit, ihn zu erwähnen, eine willkommene Gelegenheit ist. Aber auch, weil ich glaube, dass seine Versuche, Stalins Gräueltaten zu rechtfertigen, ehrlich waren. Ein tragischer Irrtum, aber ehrlich. Er war nicht vor Ort, um sie mitzuerleben. Er hatte nie einen Fuß in einen Gulag gesetzt. Der KGB hatte ihn nie verhört. Er wusste nicht, dass es Gulags und den KGB gab, aber sein Wissen war sehr theoretisch. So war es leicht, dieses Bewusstsein von einem ideologischen Enthusiasmus aufzehren zu lassen, der im Frankreich der 60er und 70er Jahre durchaus seine Berechtigung hatte. Sartres Meinung war also eine innerfranzösische Meinung, die nur in einem Kontext möglich war, in dem Sowjetrussland eine Idee, ein Traum, eine Projektion war, die man sicher aus der Ferne bewundern konnte. Im Nachhinein erscheint es jedoch als ein unentschuldbares Versäumnis, das Offensichtliche zu begreifen.
Ich glaube, dass die Rechtfertigung der Besatzung durch US-amerikanische und europäische Juden auf eine ähnlich ehrliche, wenn auch leicht vermittelte Art und Weise funktioniert. Ich weiß, dass viele US-amerikanische Juden auf Birthright-Reisen nach Israel kommen und mit dem Gefühl in die USA zurückkehren, Israel jetzt zu kennen. Aber diese Reisen konfrontieren die Teilnehmer/innen kaum mit den wirklich schwierigen Fragen der israelischen Existenz. Birthright-Reisen sind sorgfältig darauf ausgelegt, die schwierigen arabischen Viertel in Jerusalem zu meiden [abgesehen von den gelegentlichen, handverlesenen, lächelnden Humus-Besitzern], Checkpoints auf dem Weg zum Toten Meer und offene, ehrliche Diskussionen darüber, ob Gaza immer noch besetzt ist oder nicht.
Wenn man die Situation durch die Brille der europäischen Linken in den 70er Jahren betrachtet, kann man die Birthright-Absolventen mit jenen Compañeros vergleichen, die nach Kuba flogen, ein paar Selfies mit einer Machete auf einer Bananenplantage machten und dann in ihre Häuser in Paris und Berlin zurückkehrten: Ja, sie waren in Havanna gewesen. Aber ihr Bild vom kommunistischen Paradies war immer noch fast ausschließlich von ihren Büchern und universitären Diskussionsrunden geprägt und nicht von der Realität vor Ort. Sie hatten das Proletariat, von dem sie in ihren bürgerlichen Betten in Europa träumten, nicht kennengelernt.
In ähnlicher Weise sind der Zionismus in den USA und der Zionismus in Israel zwei völlig verschiedene Themen. Nicht nur in dem Sinne, dass die "Auflösung" der zionistischen Realität in Israel höher sein mag. Vielmehr sind die Grundbedürfnisse, die Grundfragen eines Juden oder einer Jüdin, wenn er oder sie mit dem Thema Zionismus konfrontiert wird, völlig unterschiedlich, je nachdem, wo er oder sie lebt. Für jemanden in New York, Rio oder Berlin mag die Besatzung, wenn er oder sie sie nicht direkt erlebt, wie eine bedauerliche Nebensache erscheinen. Doch genau wie Gulags und KGB-Verhöre ist die Besatzung ein zentrales, vielleicht das zentralste Thema, mit dem sich der Zionismus seit 1967 beschäftigt. Sie ist insofern von zentraler Bedeutung, als sie das Wesen der zionistischen Bewegung von heute bestimmt und definiert und widerspiegelt.
Yeshayahu Leibowitz sah dies bereits 1967, buchstäblich ein paar Wochen nach dem 6-Tage-Krieg, kommen, als er uns warnte, dass eine andauernde Besatzung uns als Gesellschaft bis ins Mark korrumpieren würde. Leibowitz war nicht weniger an den Rechten der Palästinenser oder gar an den Menschenrechten interessiert. Ihm ging es um die Juden und das jüdische Volk. Deshalb glaube ich, dass wir keine blutenden Herzen oder Linken oder gar Humanisten sein müssen, um die Besatzung als ein zentrales Thema nicht nur für die zionistische Bewegung, sondern für die jüdische Identität in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Wenn wir nicht wollen, dass eine grausame militärische Besatzung uns als Volk korrumpiert, uns als Nation formt und die Herzen eines jeden von uns gegenüber dem Leid anderer verhärtet, sollten wir die Besatzung zum wichtigsten Thema in unseren eigenen Gemeinden, an unseren eigenen Tischen, in unseren eigenen innerjüdischen Diskussionen machen.
Befreien wir uns um unserer selbst willen von den schrecklichen Fesseln, in die Israelis und Palästinenser, Juden und Araber gefesselt sind.
wie eine persönliche kalligrafie entsteht
geschaffen als ebenbild Gottes
Warum Buchstaben – ein Statement eines kalligrafischen Künstlers
Wir sind jüdisch. Buchstaben sind wichtig für uns. In den letzten 2000 Jahren hat jeder Jude mit drei Jahren lesen gelernt. Hebräische Buchstaben sind vom ersten Tag an allgegenwärtig, egal wo wir aufwachsen. In der jüdischen Mystik werden die Buchstaben als eine Art Atome der Schöpfung betrachtet. Es heißt, dass die Welt zusammenbrechen würde, wenn ein Buchstabe aus dem Alphabet verschwinden würde. Wir sind עם הספר, "das Volk des Buches". Und obwohl die meisten Juden kein Hebräisch sprechen, lesen fast alle von ihnen das Buch. Sie und ihre Eltern und die Eltern ihrer Eltern. Und so weiter bis zur Zeit des ersten Tempels.
Was wäre also sinnvoller, als die jüdische Identität mit Buchstaben auszudrücken?
In gewisser Weise ist Hebrew Tattoos ein riesiges, fortlaufendes Kunstprojekt mit Tausenden von Teilnehmern, Leinwänden und Orten.
Da eine Tradition kreativer hebräischer Kalligrafie schmerzlich vermisst wird, musste ich mir natürlich von überall her etwas abschauen. Ein großer Einfluss war die islamische Kalligrafie. Diese glorreiche und reiche Geschichte, ein kreativer Ausbruch, der durch unser gemeinsames biblisches Verbot, Bilder zu erschaffen, begrenzt und damit ausgelöst wurde, hat mich inspiriert, seit ich zum ersten Mal eine Feder in der Hand hielt. Ältere Meister wie Mohammad Hosni oder Hamid Aytaç, aber auch zeitgenössische Kalligraphen wie Hassan Massoudy, El Seed und Eduard Dimasov beeinflussen meine Arbeit kontinuierlich.
Ein weiterer wichtiger Einfluss ist die europäische Tradition der Kalligrafie mit lateinischen Buchstaben. Da ich in einer spanisch- und deutschsprachigen Umgebung lebe, profitiere ich vom zeitgenössischen Genie von Künstlern wie Brody Neuenschwander und Cláudio Gil.
Vor allem aber hatte ich, als ich in Jerusalem aufwuchs, das Privileg, fast unbegrenzten Zugang zu den riesigen Mengen an hebräischen Dokumenten zu haben, die in den verschiedenen Archiven der Stadt aufbewahrt werden. Ich verbrachte Jahre damit, wie besessen hebräische Buchstaben aus Kethuboth, Schriftrollen, Briefen und anderen Dokumenten zu kopieren, die in den letzten 2000 Jahren geschrieben wurden. Diese Praxis vermittelte mir ein solides Verständnis des sich ständig verändernden Charakters der hebräischen Buchstaben. Dieses Verständnis ist die Grundlage für alles, was du hier siehst.
Wenn ich also Buchstaben zu meinem Vehikel mache, verbinde ich mich mit beiden Quellen: der jüdischen, mit ihrer Ehrfurcht vor der überwältigenden, oft gefährlichen Macht der Buchstaben auf der einen Seite. Und andererseits mit einer globalen Geschichte, die den Buchstaben einen Platz einräumt, der für die meisten kontraintuitiv ist: die Hauptrolle auf einer Bühne zu spielen, die normalerweise von einer anderen Figur beherrscht wird, nämlich den Wörtern oder genauer gesagt dem, was Wörter symbolisieren. Richtlinien
Dies ist eine Seite mit einigen Gedanken, die ich häufig habe, wenn ich über Tattoos, Kalligrafie, Kunst und alles andere nachdenke, was ich mit meinen Kunden bespreche. Im Gegensatz zu den FAQ, die du auf jeden Fall lesen solltest, ist das meiste auf dieser Seite möglicherweise irrelevant für dich. Einiges davon könnte tatsächlich hilfreich und/oder aufschlussreich sein.
Einzigartigkeit vs. Authentizität
Ein Punkt, an dem viele meiner Kunden nicht weiterkommen, ist die Suche nach absoluter Einzigartigkeit. Die Frage "Aber hat jemand anderes das jemals getan oder gedacht oder gewollt oder gefühlt und was sagt das über mich als Person aus?" scheint einige von uns bis zu einem Punkt zu jagen, an dem es manchmal schwer wird, eine produktive Betrachtung eines Projekts aufrechtzuerhalten.
Kann ich das nachempfinden? Ich schon. Ja, natürlich. Als Künstler versuche ich nicht nur zu vermeiden, andere zu kopieren, sondern auch, mich selbst zu kopieren. Mit anderen Worten: Ich versuche, immer einzigartig und innovativ zu sein.
Allerdings glaube ich, dass wir in unserer Kultur zwei Konzepte miteinander verwechseln: Einzigartigkeit und Authentizität. Einzigartigkeit ist die Idee, anders zu sein als alle anderen. Authentizität bedeutet, sich selbst radikal treu zu sein. Da es in Mode gekommen ist, davon auszugehen, dass wir als Individuen anders sind als alle anderen, wurden Authentizität und Einzigartigkeit zu vermeintlich austauschbaren Begriffen. In einer Welt, die von 7,5 Milliarden Menschen bevölkert ist, ist es jedoch schwer vorstellbar, dass 7,5 Milliarden Individuen nichts mit den anderen 7,5 Milliarden Individuen teilen, weder Geschmack noch Vorlieben, weder Ängste noch Traumata. Schon der Begriff der Kultur widerspricht dieser Möglichkeit.
Mehr noch: Die Erwartung, in jeder Hinsicht einzigartig zu sein, hält uns in einer unmöglichen Schwebe. Genau wie die Konsumkultur insgesamt hält sie uns in einem Zustand der Unzufriedenheit, in dem wir ständig nach dem Unmöglichen streben, ständig an uns selbst zweifeln und leicht manipulierbar sind, wenn uns jemand diese unerreichbare Einzigartigkeit für den richtigen Preis verspricht.
Konzentrieren wir uns also stattdessen auf die Authentizität. Wenn du dich dabei ertappst, dass du eine Idee verwirfst, weil sie "schon gemacht wurde", sei nett zu dir selbst, nimm die Idee wieder auf, sieh sie dir an und frage dich: "Drückt sie aus, was ich fühle? Klingt sie in meiner Seele nach?". Wenn das der Fall ist, mach dir keine Gedanken über die anonymen Millionen von Menschen, die dasselbe schon einmal tätowiert haben oder auch nicht. Wenn es zu deinen Gefühlen passt, wenn es das widerspiegelt, was wir ausdrücken wollen, ist es gut.
Lesbarkeit
Wenn man über Kalligrafie nachdenkt, ist die Lesbarkeit oft ein Thema, das berücksichtigt werden muss. Schließlich sind Buchstaben in erster Linie etwas Funktionales. Unleserliche Buchstaben versagen bei dem, was sie tun sollen: eine Botschaft zu übermitteln. Dieser Gedanke macht durchaus Sinn, und wenn wir uns die traditionelle Kalligrafie ansehen, finden wir oft sehr gut lesbare Werke.
Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Werken großer Künstler, bei denen die Lesbarkeit - wenn überhaupt - eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Wenn du dir die Werke von Hassan Massoudy ansiehst, wirst du feststellen, dass du zwar einige seiner Werke lesen kannst [wenn du Arabisch liest], aber die Lesbarkeit scheint beim Zeichnen nicht an erster Stelle zu stehen. Im Fall von El Seed scheint es noch schwieriger zu sein, bestimmte Wörter in seinen Werken zu finden. Ich frage mich manchmal, ob er überhaupt bestimmte Wörter verwendet hat. Wenn man sich die Kalligrafie mit lateinischen Buchstaben ansieht, wäre Nils "Shoe" Meulman ein perfektes Beispiel für einen Kalligraphen, der oft auf Lesbarkeit verzichtet.
Es ist unnötig zu erwähnen, dass alle drei zu den einflussreichsten Kalligraphen unserer Zeit gehören.
Was bringt also Kalligrafiekünstler, die ihr ganzes Leben und ihre Kreativität den Buchstaben widmen, dazu, die grundlegendste Funktion dieser Buchstaben aufzugeben?
Ich glaube, dass es oft das Streben nach Ausdruck ist, das kalligrafische Werke weniger lesbar macht als ein gedrucktes Buch.
Schließlich ist Kalligrafie mehr als nur Buchstaben. Sie ist Kunst, die Buchstaben als "Pixel" verwendet. Und Kunst will ausdrucksstark sein. Wenn wir die "populäre" Kalligrafie beiseite lassen und uns auf die Werke von Menschen konzentrieren, deren Bestreben es nicht ist, einfach nur schön zu schreiben, sondern aus Buchstaben Kunst zu schaffen, werden wir mit einer Spannung konfrontiert: der Spannung zwischen Lesbarkeit auf der einen und Ausdruck und Kreativität auf der anderen Seite. Jedes Stück Kalligrafie befindet sich irgendwo auf dieser Linie.
Wenn ich ein Tattoo für eine Person zeichne, die gerade eine harte Zeit durchgemacht hat und nach einem Prüfstein sucht, etwas, das sie an ihre Stärke erinnert, diese Zeit zu überwinden, stärker zu werden und Frieden zu finden, und wenn diese Person das Gefühl hat, dass ihre Vorfahren, ihre jüdische Geschichte und ihre Wurzeln ein Grund sind, auf dem sie stehen kann, kann es sein, dass ich ein Projekt mit den Worten "Wäre ich nicht gefallen, wäre ich nicht auferstanden" zeichne. Wäre ich nicht der Finsternis unterworfen gewesen, hätte ich das Licht nicht sehen können (aus Micha). Vielleicht möchte ich diese Worte in die Form eines Phönix "gießen", um die Kraft der Erneuerung in dieser Person zu symbolisieren.
Dabei gerate ich unweigerlich in die oben erwähnte Spannung zwischen Lesbarkeit und Ausdruck. Einerseits ist die lesbarste Form, die diese Worte annehmen können, genau die, wie sie in der hebräischen Bibel geschrieben sind. Schwarz auf weißem Papier, in einer geraden Linie. Andererseits enthält der detaillierteste und ausdrucksstärkste Phönix keine der hebräischen Buchstaben. Es könnte ein Ölgemälde mit groben Strichen und einem feurigen Hintergrund sein.
Es ist die Verbindung zwischen den beiden, die kreative Kalligrafie möglich macht. Und wie jede Ehe erfordert sie Zugeständnisse von beiden Parteien.
Die Buchstaben müssen vielleicht einige ihrer geraden Linien aufgeben. Einige Wörter müssen vielleicht gestreckt werden. Verbindungen zwischen Wörtern müssen vielleicht getrennt werden. Auf der anderen Seite muss der imaginäre Phönix auf Öl, den ich erwähnt habe, vielleicht einige der Flammen aufgeben, aus denen er geboren wurde. Einige der Federn müssen vielleicht den scharfen Linien eines Lamed oder eines Aleph Platz machen. Und das weit geöffnete Auge wird vielleicht durch ein einzelnes Yud dargestellt, was viel Raum für die Fantasie des Betrachters lässt.
Das Ergebnis ist immer eine Abstraktion sowohl vom Text als auch vom Bild. Ein Kalligramm, ein abbildendes Kalligrafiewerk, wird immer abstrakter sein als das Bild, das ich im Kopf hatte, als ich meinen Bleistift zum ersten Mal spitzte. Und es wird immer eine Abstraktion der geraden Linie von Buchstaben sein, die wir im Buch Micha gefunden haben.
Was wir im Austausch für das, was wir aufgegeben haben, gewonnen haben, ist die Tiefe eines Werks, das reich an Schichten und neuen Verbindungen und Bezügen ist. In gewisser Weise können wir es als eine Synthese sehen, die aus der These des gedruckten Satzes und der Antithese des ursprünglich vorgestellten Phönix entsteht.
Abschließend möchte ich erwähnen, dass es keinen universellen Sweet Spot auf der Linie zwischen Lesbarkeit und Ausdruck/Kreativität gibt. Jedes Werk erfordert eine neue Bewertung dessen, was bewahrt werden sollte und was aufgegeben werden kann. Das Einzige, was es nie geben kann, ist ein perfekt lesbares Werk, das gleichzeitig alles andere als der reine, nackte Text ist.
Timshel
Es gibt kaum eine Anfrage, die wir häufiger erhalten als die, ein "Timshel" zu entwerfen. Oft lehnen wir höflich ab und erklären, dass Timshel kein hebräisches Wort ist.
Du denkst vielleicht: Aber Steinbeck! Aber Ostern von Eden! Das hat er sich bestimmt nicht ausgedacht! Warum sollte er auch? Ehrlich gesagt - wir fragen uns das auch! So viele schöne hebräische Wörter, so viele Juden in den USA, die nach diesen Wörtern fragen, und trotzdem hat er sich entschieden, ein Wort zu erfinden.
Oder sagen wir: nicht wirklich "erfinden". Sondern "frei interpretieren". Sehr frei, wie du sehen wirst.
Das Wort Timshel, wenn es denn existieren würde, würde תמשל geschrieben werden. Da Vokale im Hebräischen aber nur selten ausgeschrieben werden, lautet das hebräische Wort eigentlich TMSHL. Die Vokale werden, wenn sie nicht zu den Buchstaben hinzugefügt werden, beim lauten Lesen durch einen Hebräischsprecher je nach Bedeutung und Kontext hinzugefügt. Für einen Nicht-Hebräisch-Sprecher gibt es keine Möglichkeit zu wissen, wie ein Wort ausgesprochen wird.
Es gibt zwei hebräische Wörter, die diese Buchstaben enthalten: timshol und timashel.
Timashel bedeutet eines von zwei Dingen: Du sollst beherrscht werden oder du sollst verglichen werden [im Sinne eines Vergleichs in einem Gleichnis]. Also definitiv nicht du darfst.
Timshol bedeutet: Du sollst herrschen. Das ist zwar definitiv auch nicht thou mayest, aber wir nehmen an, dass Steinbeck dieses Wort gelesen hat, nicht wusste, wie man es ausspricht oder was es genau bedeutet, und sich seine eigene Bedeutung durch die Interpretation des Textes, Genesis Kapitel 4, ausgedacht hat.
Da es in Genesis 4 um die Überwindung des Verlangens zu sündigen geht, bedeutet das Wort Timshol in diesem Zusammenhang: "Du wirst den Drang zu sündigen spüren. Überwinde ihn! Nimm dich in den Griff! Tu nicht, was du in diesem Moment willst, sondern denke darüber nach, wie moralisch es ist oder was das Ergebnis wäre!".
Das ist unserer Meinung nach so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was Rabbi Steinbeck meint: "[...] das hebräische Wort, das Wort timshel - 'Du darfst' - das eine Wahlmöglichkeit gibt [...]".
Nö. Das tut es nicht. Wirklich nicht. Ganz im Gegenteil. Timschol ist ein klarer Befehl: Sündige nicht. Sei stärker als deine Begierden. Genauso wie es bei dem Gebot "Du sollst nicht töten" nicht um die Freiheit geht, jemandem das Leben zu nehmen oder es nicht zu tun. Es ist ein Verbot von Mord.
Und seien wir ehrlich: Im Allgemeinen spielt die freie Wahl im Alten Testament sowieso keine große Rolle. In der ganzen Geschichte geht es um klare Befehle, blinden Gehorsam und darum, dass diejenigen, die sich nicht daran halten, mit Exil, großen Überschwemmungen und einer beeindruckenden Anzahl anderer, überraschend kreativer Todesarten bestraft werden.
Also, wie dem auch sei: Male dir das Wort "Timshel" auf die Haut. Es ist eine schöne Erinnerung an deinen freien Willen. In manchen Fällen werde ich es sogar für dich zeichnen. Nimm nur nicht an, dass es hebräisch oder ein Bibelzitat ist.
Geschlecht und die hebräische Sprache
Wenn ich Tattoos erstelle, sind viele meiner Kunden progressiv eingestellt. Da ich selbst progressiv bin, stimme ich mit vielen liberalen, reformorientierten Ideen überein. Eine dieser Ideen ist, dass das Geschlecht ein Konzept ist, das nicht vollständig von der Natur vorgegeben ist. Mit anderen Worten: Ein großer Teil dessen, was oft als "natürliches Geschlecht" angesehen wird, ist in Wirklichkeit performativ. Es ist wichtig, sie zu hinterfragen, und wir werden freier sein, wenn wir die traditionellen Geschlechterrollen nicht als feststehend, dauerhaft und unvermeidlich akzeptieren. Und wenn mir etwas am Herzen liegt, dann ist es die Freiheit.
Und doch ist der hebräische Wortlaut für ein Tattoo auf einem weiblichen Körper nicht revolutionär. Es ist ein Irrtum und ein Irrweg. Ich gehöre meinem Geliebten und mein Geliebter gehört mir. Die ursprünglich männliche Bezeichnung für Geliebter ist kein Tattoo, das für eine heterosexuelle männliche Person geeignet ist. Und kein noch so großes "aber das Geschlecht ist unterdrückend!" wird das ändern.
Um diesen vermeintlichen Widerspruch zwischen meiner progressiven Haltung zu Gender und meiner scheinbar konservativen Meinung zu Gender im hebräischen Kontext zu erklären, müssen wir uns daran erinnern, dass eines der schönen und erschreckenden Dinge an Sprachen ist, dass sie uns Werkzeuge zum Denken geben - aber nur bestimmte Dinge und nur auf bestimmte Weise. Sie lenkt unsere Denkprozesse im Stillen. Und genau wie ein Fisch im Wasser, für den es kein Wasser gibt, ist diese stille Führung fast nie spürbar.
Frag eine mehrsprachige Person, die du vielleicht kennst. Nicht deinen Freund, der in der Schule einen Französischkurs belegt hat. Sondern den Freund aus Kindertagen, der zu Hause Spanisch und auf der Straße Englisch gesprochen hat. Der Kollege, der von einer Kultur in die andere eingewandert ist, sich perfekt angepasst hat und jetzt zwei Sprachen und Kulturen fließend spricht. Oder noch besser: eine Person, die drei, vier, fünf Sprachen spricht, weil sie in verschiedenen Kulturen gelebt hat. Wenn sie wirklich in mehr als einer Sprache zu Hause sind, werden sie dir erzählen, dass sie in jeder Sprache etwas anders sind.
Oder denke an große Menschen und ihre Kultur. Denke an Bach und Wittgenstein. Bachs Musik und Wittgensteins Gedanken wären ohne die komplexe Struktur der deutschen Sprache, in der sie lebten, niemals möglich gewesen. Aber auch Cortázar oder García Márquez hätten niemals Deutsche sein können. Die deutsche Sprache hätte die Feinheit ihres Ausdrucks erstickt.
Wenn wir also die dem Hebräischen innewohnende "Anleitung" mit dem Englischen vergleichen, ist einer der auffälligsten Unterschiede zwischen den beiden Sprachen die Bedeutung, die das Geschlecht in beiden Sprachen hat. Im Hebräischen ist alles geschlechtsspezifisch. Menschen. Natürlich. Und Tiere. OKAY. Aber auch Tabellen und Ideen und Beziehungen und Wolkenformationen. Und Zahlen! Im Hebräischen gibt es keine geschlechtsneutralen Zahlen. Das Geschlecht ist überall. Ist das cool? Das ist es vielleicht nicht. Aber es ist eine Tatsache. Das Englische hingegen ist super flexibel, was das Geschlecht angeht. Sogar Menschen können manchmal geschlechtsneutral sein!
Eine gute Parallele in der englischen Sprache sind die Zeitformen. Die Zeitformen sind im Englischen erstaunlich spezifisch. Im Hebräischen hast du Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Das war's. Im Englischen gibt es all diese seltsamen Konstellationen wie Future Perfect Progressive. Für einen Hebräisch-Sprecher kaum zu begreifen! Wir denken nicht in diesen Begriffen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Ein hebräischer Sprecher hat oft eine weniger genaue Vorstellung von der Zeit als ein englischer oder deutscher Sprecher.
Dasselbe gilt für Spanischsprachige, aber aus etwas anderen Gründen: vamos a la playa ist wesentlich flexibler als jeder Satz, den du dir auf Englisch ausdenken kannst. Ist das eine Aufforderung? Eine Aussage über eine allgemeine Gegenwart? Die Zukunft? Er ist mehrdeutig.
Stell dir nun eine Person vor, die gerade erst anfängt, Englisch zu lernen und diese sehr spezifischen Zeitformen als bedrückend empfindet. Es ist nicht unmöglich, sich jemanden vorzustellen, der sich von der Forderung, genau zu sein, unterdrückt fühlt und die Flexibilität loslässt. Also beschließen sie, die englischen Zeitformen sehr locker zu verwenden. Sie werden sagen: "Gestern sind wir zum Strand gegangen". Oder: "Später am Tag habe ich ein Bad genommen". Nach einer Woche täglichen Unterrichts können sie sogar noch einen Schritt weiter gehen und die unterdrückenden Strukturen ganz auflösen, indem sie z. B. sagen: "I would been like have wanted of be eaten an ice cream".
Ist das ein revolutionärer Akt? Ich glaube kaum. Es ist ein Versagen im richtigen Gebrauch der englischen Sprache.
Es hätte ein revolutionärer Akt sein können, wenn er von innen heraus geschehen wäre. Von jemandem, der mit den feinen Strukturen der englischen Sprache vertraut genug ist, um die Auswirkungen einer Änderung wie der oben beschriebenen abzuschätzen. Aber einfach die Erwartungen an ein einfaches, flexibles und unspezifisches Konzept der Zeitform aus der eigenen Sprache ins Englische zu kopieren, ohne sich vorher ein tiefes Verständnis der englischen Sprache anzueignen, kann kaum zu etwas anderem führen als zu unschönen Fehlern.
Und nun zu meinem Punkt: Das Gleiche gilt für das Geschlecht im Hebräischen. Ich bin nicht dagegen, die zutiefst traditionalistischen Geschlechterstrukturen der hebräischen Sprache zu reformieren. Ganz im Gegenteil. Aber diese Veränderung wird von innen kommen. Die Annahme, dass die relative Gender-Flexibilität, die die englische Sprache ihren Nutzern bietet, einfach in eine komplexe, vielschichtige Struktur wie die einer 4000 Jahre alten Sprache eingefügt werden kann, ohne dass dabei etwas anderes als chaotische Fehler entstehen, ist ignorant und anglozentrisch. Einfach die Tatsache zu ignorieren, dass die biblische Geliebte ein klares Geschlecht hat, ist nicht fortschrittlich. Es ist naiv.
Und nein, nicht die süße Art von Naivität.
Abstraktes Gebet
WIE DIE ENTFREMDUNG DAS EINTAUCHEN IN HEILIGE TEXTE ERMÖGLICHT
Ich habe meine ersten 12 Jahre in München verbracht. Wie jedes jüdische Kind in München ging ich einmal in der Woche zum Judaistikunterricht, lernte auf Hebräisch zu lesen, zu beten und zu zählen. Eine Sache, die ich nicht gelernt habe, bis wir nach Jerusalem eingewandert sind, ist Hebräisch zu sprechen.
Meine erste Erinnerung an das Gebet, an das Lesen der Tora und das Auswendiglernen von Versen, an die hebräischen Laute, die aus meinem Mund kamen, ist also eine fast absurde: Es war die Aussprache einer toten Sprache, die für mich absolut keine Bedeutung hatte. Die Bedeutung lag in der Form, in der Melodie, in der Gelegenheit, in der Erfahrung. Aber die Worte, die ich sang, waren ihrer grundlegenden Funktion beraubt: einen Sinn zu vermitteln.
Ich erinnere mich an einen konkreten Fall, als ich meine Lehrerin, Frau Figdor, um eine Übersetzung des Schma bat. Ich muss damals etwa 7 oder 8 Jahre alt gewesen sein. Sie tat ihr Bestes, um mir zu erklären, was ich da sang. Gleichzeitig schien sie sich über meine Forderung zu wundern, dass der Text eine wörtliche Bedeutung haben sollte. Für sie war das Beten das Ziel. Nicht darum, die Worte des Gebets zu verstehen.
Am Ende gewann sie mich für sich, und ich lernte, mit Kavana zu beten, indem ich mich ganz in den Akt des Aussprechens unverständlicher Silben vertiefte und die göttliche Gegenwart ehrlich durch Worte spürte, die für mich Klingonisch hätten sein können.
Heute bin ich anfangs 40. Da ich meine Teenagerjahre und den größten Teil meiner 20er Jahre in Jerusalem verbracht habe, ist Hebräisch für mich zu einer Muttersprache geworden. Ich spreche Hebräisch mit meinen Kindern und Freunden, lese hebräische Bücher und Zeitungen, schreibe mir Einkaufslisten und Erinnerungen auf Hebräisch.
Und ich bete immer noch auf Hebräisch.
Nach drei weiteren Einwanderungen, bei denen ich jeweils nur einen Rucksack dabei hatte, gibt es nur zwei Dinge, die ich nie zurückgelassen oder weggegeben habe: meinen Siddur aus meiner Kindheit und meinen Tallith. Ich bedecke immer noch pavlovisch meine Augen zu Beginn jedes Shema, ich fühle, wie mein Körper mit jedem Kaddisch, das ich sage, verschmilzt, und jede Amida verbindet mich spirituell mit einem Himmel, der leer von allem Göttlichen ist. Ich stehe an Jom Kippur im Tempel, schockiere mit Gänsehaut und Tränen in den Augen und bitte ehrlich um Vergebung von einem Gott, von dem ich mir ziemlich sicher bin, dass er nicht existiert, und der sich, wenn er existiert, ganz sicher nicht um mein Schockgefühl kümmert.
Ich bin ein Agnostiker. Aus der Reihe tanzen ist eine Untertreibung. Ich arbeite an Schobbes, liebe Krabben, kaufe koscheres Fleisch zu überhöhten Preisen, um es dann in Butter zu braten. Auf der Suche nach Orientierung lese ich eher Sartre als den Rambam. Große Teile fast aller Gebete stoßen mich ab, wahrscheinlich einfach deshalb, weil ich nicht im Mittelalter geboren und von Humanisten erzogen wurde.
Mein Beten ist also ein ständiger Balanceakt. Wenn ich meinen Siddur in die Hand nehme, muss ich die letzten 25 Jahre meines Lebens und eine ganze Sprache auslöschen, immer und immer wieder, um mich mit dem Kind zu verbinden, das die hebräischen Worte konsumiert, als wären sie Musik.
Es ist also wiederum der Akt, die Worte ihrer grundlegendsten Funktion zu berauben, dem Tragen einer spezifischen und unmittelbaren Bedeutung, der sie für mich in ihrer Meta-Funktionalität zugänglich macht, dem Tragen von Erbe, Geschichte und Wurzeln. Indem ich mich für die meisten Ideen, die die Gebete vermitteln, undurchsichtig mache, kann ich in den Akt des Betens eintauchen und mich auf unzynische Weise mit etwas verbinden, das ich rational nicht akzeptieren kann.
Es ist ein Akt der Entfremdung, ein Versuch, eine Kluft zu überbrücken.
Als solcher ist es ein Akt der Abstraktion. Die Worte des Gebets, die keine
spezifische Bedeutung mehr haben, werden zu allgemeinen "heiligen Worten meiner Vorfahren", ähnlich wie die Noten in einem Musikstück, die zwar keine spezifische, konkrete Botschaft enthalten,
aber sehr wohl tiefe, komplexe und authentische (und oft spezifische und konkrete) Gefühle hervorrufen können.
Und während die spezifische Notwendigkeit, mich selbst für die Worte, die ich in meiner Muttersprache sage, zu blenden, um mich ihnen hinzugeben, das Ergebnis eines Zusammenstoßes von Ideen sein mag, die unserer modernen Zeit eigen sind, ist die Idee der Abstraktion im jüdischen Denken definitiv keine.
Ich möchte sogar behaupten, dass der Akt der Abstraktion ein sehr grundlegendes/ursprüngliches Konzept im Judentum ist. Er ist im jüdischen Denken fast allgegenwärtig, tritt auf verschiedene Weise auf und liegt nicht nur den jüdischen Denkprozessen, sondern der jüdischen Philosophie insgesamt zugrunde.
In der Tat gibt es zwei im Judentum verbreitete "Bewegungen", die als Versuch der Abstraktion angesehen werden können.
Die erste, leicht erkennbare, ist die Abstraktion, die dem Monotheismus selbst zugrunde liegt: der abstrakte Gott. Die Weisen, die die biblische Gottheit konzipierten, haben sich sehr viel Mühe gegeben und eine Gottheit geschaffen, über die nichts Positives gesagt werden sollte. Sie hatte keine Form, keinen bestimmten Ort, keine Eigenschaften. Selbst die Aussprache ihres Namens, die ihr eine gewisse Greifbarkeit verliehen hätte, war verboten. Maimonides beschreibt in seinem Leitfaden für die Verwirrten ausführlich, dass jeder Versuch, Gott auf irgendeine Weise zu beschreiben, Ketzerei ist, und führt die via negativa als die gängige Methode ein, Gott (nicht) zu beschreiben:
Wisse, dass, wenn du eine Behauptung aufstellst, die Ihm etwas anderes zuschreibt, du dich in zweierlei Hinsicht von Ihm entfernst: Die eine ist, dass alles, was du behauptest, nur in Bezug auf uns eine Vollkommenheit ist, und die andere ist, dass Er nichts anderes besitzt als Sein Wesen ...
Gottes Existenz ist absolut und beinhaltet keine Zusammensetzung, und wir begreifen nur die Tatsache, dass er existiert, nicht sein Wesen. Folglich ist es eine falsche Annahme zu behaupten, dass Er irgendein positives Attribut hat [...] noch weniger hat Er Unfälle (מקרה), die durch ein Attribut beschrieben werden könnten. Daher ist es klar, dass Er kein positives Attribut hat, aber die negativen Attribute sind notwendig, um den Verstand auf die Wahrheiten zu lenken, die wir glauben müssen [...] Wenn wir von diesem Wesen sagen, dass es existiert, meinen wir, dass seine Nicht-Existenz unmöglich ist; es ist lebendig - es ist nicht tot; [... Es ist das Erste - seine Existenz ist auf keine Ursache zurückzuführen; es hat Macht, Weisheit und Willen - es ist nicht schwach oder unwissend; es ist Eins - es gibt nicht mehr Götter als einen [...] Jedes Attribut, das Gott zugeschrieben wird, bezeichnet entweder die Qualität einer Handlung oder, wenn das Attribut eine Vorstellung vom göttlichen Wesen selbst - und nicht von seinen Handlungen - vermitteln soll, die Negation des Gegenteils.
Ein etwas weniger greifbarer Aspekt der Abstraktion, die im jüdischen Denken allgegenwärtig ist, ist die Art und Weise, wie der Text in der talmudischen Tradition behandelt wird. Am deutlichsten zeigt sich dies vielleicht im Konzept des Pardes. Nach dem Konzept der Pardes besteht jeder biblische Text aus vier verschiedenen Ebenen. Zu diesen Schichten gehören
Peshat (פְּשָׁט) - "Oberfläche" ("gerade") oder die wörtliche (direkte) Bedeutung.
Remez (רֶמֶז) - "Andeutungen" oder die tiefe (allegorische: verborgene oder symbolische) Bedeutung jenseits des Wortsinns.
Derasch (דְּרַשׁ) - "erkundigen" ("suchen") - die vergleichende Bedeutung, wie sie durch ähnliche vorkommen gegeben ist.
Sod (סוֹד) - "Geheimnis" ("mystery") oder die esoterische/mystische Bedeutung, die durch Inspiration oder Offenbarung gegeben ist.
Und täusche dich nicht: die vierte und sogar die dritte Ebene sind oft ziemlich weit hergeholt. Mit anderen Worten: Die Vorstellung, dass ein Text eine Bedeutung vermittelt, die nicht in der einfachen Bedeutung der Worte zu finden ist, sondern sich dahinter verbirgt und nur zugänglich ist, wenn man die unmittelbare Bedeutung aus dem Weg räumt, ist etwas, das die Juden schon lange vor der Beschäftigung mit weltlichen Ideen entwickelt haben.
Damit will ich nicht sagen, dass ich die Tradition der jüdischen Mystiker fortführe. Aber immer wieder, wenn ich mich dabei ertappe, wie ich Dinge tue, die wenig oder gar keinen Sinn zu machen scheinen, schaue ich auf die Geschichte meiner Familie oder meines Volkes zurück und finde dort eine Erklärung für mein Verhalten. Manchmal sind die Erklärungen in Traumata zu finden. Wir sind ja schließlich Juden. Aber in anderen Fällen finde ich Parallelen in scheinbar unverbundenen Bereichen. Dies könnte einer davon sein.
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