„Israel muss nur das besetzte Land zurückgeben“
Mythen über Israel im Faktencheck
Veröffentlicht am 18.05.202
Von Philip Volkmann-Schluck, Clemens Wergin
Quelle: WELT
In der gegenwärtigen Empörung und Demonstrationen mancher, die Israel betreffen, ist sachliche Argumente wichtig. Tatsache ist auch, dass kein Land in dieser Welt so oft an den Pranger gestellt wird, während zu oft von massiven Verletzungen von Menschen- und Kriegsrechten geschwiegen oder kaum demonstriert wird. Gegenwärtig besonders auffällig ist es im Blick auf Russland. Weltweite Demonstrationen gegen den Überfall Russlands sind kaum zu sehen, und auch bei uns werden rüde Bestreitungen der eindeutigen Vergehen Russland in den Menschenrechten, dem Völker- und Kriegsrecht und der hegemonialen Ansprüche Russlands verbreitet.
Scheinbar ohnmächtig blickt die Welt auf das Leid der Menschen in Israel und im Gazastreifen. Hinter den Kulissen wird verhandelt. Auf den Einfluss der USA setzen auch viele Menschen in Gaza ihre Hoffnung.
Es ist ein eingespieltes Muster: Die Hamas feuert Raketen auf Israel, Israel schlägt zurück, die Opferzahlen steigen, die Welt ruft nach Waffenstillstand. Und jedes Mal kursieren Annahmen zur schnellen Lösung des Konflikts. Doch viele halten einer Überprüfung nicht stand.
Seitdem Israel 2005 die Besatzung Gazas beendete und die Hamas ein Jahr später die Macht übernahm, laufen die Kriege stets nach demselben Muster ab: Die Hamas sucht einen Vorwand, um Raketen auf Israel abzufeuern. Die Israelis schlagen zurück, zunächst mit Luftangriffen, später zuweilen auch mit Bodentruppen wie 2014.
Je höher die Zahl der Opfer auf palästinensischer Seite, desto größer der internationale Druck auf Israel, die Auseinandersetzung zu beenden. Doch viele der Annahmen und Forderungen, die man auch in diesen Tagen wieder hört, halten einer kritischen Überprüfung nicht stand. Eine Auswahl:
„Wenn Israel aufhört zu schießen, beruhigt sich die Lage“
Angesichts des Leids ist es verständlich, dass weltweit nach einer Waffenruhe gerufen wird. Frühere Kriege haben aber gezeigt, dass die Hamas einer Niederlage erst nahe kommen muss, um dazu bereit zu sein. Das ist offenbar auch notwendig, um Israels Abschreckungsmacht aufrechtzuerhalten. Wenn die Raketenangriffe auf Israel verheerende Folgen für die Hamas haben, wird sie in Zukunft größere Hemmungen haben, erneut einen Konflikt vom Zaun zu brechen.
„Die Hamas ist an ihre Grenzen gekommen“
Die radikal-islamische Hamas setzt die Luftangriffe auf Israel fort. „Am meisten leiden die Zivilisten“, sagt Israels Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar. Dennoch werde die Hamas nicht als Sieger hervorgehen. Sie sei an ihre Grenzen gekommen.
Um das zu verstehen, muss man frühere Konflikte nachvollziehen. Seit der Machtübernahme der Hamas 2006 kam es ständig zu militärischen Konflikten, zu Beginn jedes Jahr oder alle zwei Jahre. Dann folgte der für die Hamas verheerende Krieg von 2014, abermals ausgelöst durch Raketenangriffe aus Gaza. Die Israelis reagierten nicht nur mit Luftschlägen, sondern angesichts des anhaltenden Beschusses auch mit einer Bodenoffensive. Zum ersten Mal seit 2006 musste die Hamas der Möglichkeit ins Auge sehen, besiegt zu werden.
Dieser Schrecken führte zur längsten Phase relativer Ruhe seit der Machtübernahme, die abgesehen von kleineren Scharmützeln bis 2021 andauerte. Das bedeutet: Wer nicht alle ein oder zwei Jahre das Szenario erleben möchte, das sich derzeit abspielt, muss darauf setzen, dass Israel der Hamas eine Lektion erteilt. Für Israel ein Dilemma angesichts der Praxis der Terrororganisation, das eigene Volk als Schutzschild in Geiselhaft zu nehmen und Opfer als Märtyrer zu verklären.
„Die Hamas kämpft für die Freiheit der Palästinenser“
Nicht einmal die Hamas ist so verblendet, dass sie ernsthaft glaubt, das Ende der Besatzung von Teilen des Westjordanlandes mit Gewalt erreichen zu können. Sie hat vielmehr die angespannte Lage in Jerusalem und die Auseinandersetzungen auf dem Tempelberg als Vorwand genutzt, um sich als Verteidigerin der palästinensischen Sache aufzuspielen und im inneren Machtkampf mit der Fatah zu punkten. Die Terrorisierung der israelischen Zivilbevölkerung und die vielen Toten in Gaza sind, wenn man so will, die zynisch in Kauf genommenen Nebenwirkungen des innerpalästinensischen Machtkampfes.
Es geht nicht darum, den Palästinensern zu helfen, sondern darum, der Hamas mehr Einfluss zu sichern. Die Hamas will auch keinen Kompromiss mit Israel erreichen, an dessen Ende etwa eine Zweistaatenlösung stehen könnte. Sie wirbt in ihrer Charta immer noch mit der „Befreiung“ des israelischen Staatsgebietes, will „alle Zionisten töten“, Israel vollständig von der Landkarte tilgen und wohl auch säkulare Einrichtungen der Palästinenser. Mit den Islamisten ist kein Frieden zu machen, weil ihnen ideologische Reinheit wichtiger ist als ein Ende des Nahost-Konflikts.
„Israel muss nur das besetzte Land zurückgeben“
„Land gegen Frieden“ lautet die Grundformel für eine Zweistaatenlösung. Die Hamas hat in Gaza bewiesen, dass das offenbar nicht funktioniert. Nach dem Abzug der Israelis 2005 sahen viele darin eine Chance für die Palästinenser, zu zeigen, dass sie einen stabilen Staat in der Westbank aufbauen und friedlich neben Israel leben können. Doch die Hamas hat den Gazastreifen nicht zu einer Blaupause guter palästinensischer Regierung gemacht, sondern zu einer Raketenabschussbasis, die heute auch das am dichtesten besiedelte Gebiet Israels rund um Tel Aviv bedroht.
Für Israel wäre es eine existenzielle Bedrohung, sollte sich dieses Szenario nach einem etwaigen Friedensschluss auch in der Westbank wiederholen. Die Erfahrungen mit der Hamas und die Spaltung der palästinensischen Politik in zwei unversöhnliche Lager sind ein wichtiger Grund dafür, dass viele Israelis den Glauben an die Formel „Land gegen Frieden“ verloren haben. Und warum auch viele Experten bezweifeln, dass derzeit gute Bedingungen für einen Neustart des Friedensprozesses herrschen.
Ohnehin ist Israel nicht in einer Lage, alle besetzten Gebiete zurückgeben zu können. Das ist eine Lehre aus der langen Geschichte arabischer Feindseligkeit gegenüber dem jüdischen Staat. In drei Kriegen – 1948, 1967 und 1973 – hatten die umliegenden arabischen Staaten versucht, Israel von der Landkarte zu tilgen. Der Schock des Jom-Kippur-Krieges von 1973 führte den Israelis endgültig vor Augen, wie gefährlich der Mangel an strategischer Tiefe für sie ist. Der lebensnotwendige Flughafen Ben Gurion ist nur wenige Kilometer von der Westbank entfernt.
„Die Armut der Palästinenser ist die Ursache für Terrorismus“
Seit ihrer Gründung hat die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) stets Terror zur Erreichung ihrer Ziele eingesetzt. Die Hochzeit herrschte nach dem Sechstagekrieg von 1967, bei dem Israel den Gazastreifen, Teile des Golan, den inzwischen an Ägypten zurückgegebenen Sinai und die Westbank einnahm. Im selben Jahr beschloss die Arabische Liga in der Erklärung von Khartum ihre berüchtigten drei Neins: kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung Israels und keine Verhandlungen mit Israel. Die arabische Seite war zu keinerlei Kompromissen bereit, weshalb die PLO Terror zum Mittel für die „Befreiung Palästinas“ erkor.
Palästinensischer Terrorismus wird immer wieder geschildert als spontaner Ausbruch des Volkszorns, wahlweise angetrieben von Armut oder der Demütigung durch die israelische Besatzung. Die Lebensbedingungen spielen gewiss eine Rolle bei der Rekrutierung von Attentätern. Doch gesteuert wird der Terror von ganz oben. Seit den Anfängen der palästinensischen Nationalstaatsbewegung haben ihre Führer Terror stets als Mittel der Politik eingesetzt – oder als Politikersatz, weil sie nicht bereit waren, die notwendigen Kompromisse für einen Frieden einzugehen.
Als Israel und die PLO Anfang der 90er-Jahre mit dem Osloer Abkommen endlich bereit zu einer Annäherung waren, versuchte die Hamas den Kompromiss mit Anschlägen zu torpedieren. Das führte auch dazu, dass 1996 nicht der friedenswillige Schimon Perez, sondern der skeptische Benjamin Netanjahu zum israelischen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Ähnlich verhielt es sich mit der im Jahr 2000 ausgebrochenen Terror-Intifada, die die Rückkehr von Jassir Arafats PLO und seiner Fatah-Fraktion zum Terrorismus markierte. Kurz zuvor hatte Arafat bei den von Bill Clinton moderierten Friedensgesprächen in Camp David nicht den Mut aufgebracht, den Kompromissvorschlag des israelischen Premiers Ehud Barak zu akzeptieren.
„Die Siedlungen sind das größte Hindernis für einen Frieden“
Ohne Frage: Der Bau von Siedlungen im Westjordanland ist einer der strittigsten Punkte im Nahost-Konflikt. Jenseits der sogenannten „Grünen Linie“, die beim Waffenstillstand 1948 vereinbart wurde, leben inzwischen rund 700.000 Siedler in den 1967 von Israel besetzten Gebieten in der Westbank und Ostjerusalem. Die Bandbreite reicht von staatlich gebauten Siedlungsblöcken über privat errichtete Dörfer bis zu illegalen Außenposten, nicht wenige Siedler haben allerdings ihr Land von Palästinensern gekauft.
Zwar ist die Frage, wem das bis 1967 von Jordanien besetzt gehaltene Westjordanland nun eigentlich gehört, weniger eindeutig als oft dargestellt – zumal der Eroberung durch Israel die Ankündigung eines Angriffskrieges von Ägypten, Jordanien und Syrien vorausging. Dennoch: Die Beteiligung von Siedlerparteien verschiedener Strömungen an den Regierungen, vor allem unter Premier Netanjahu, hat Israel immer wieder in Erklärungsnöte gebracht.
Die international vorherrschende Position, dass viele Siedlungen gegen Völkerrecht verstoßen und auch individuelle Eigentumsrechte der Palästinenser missachten, ist in weiten Teilen begründbar. Die Gebietsansprüche einiger Siedler und auch dokumentierte Übergriffe auf die palästinensische Bevölkerung (und umgekehrt) setzen die Regierung in Jerusalem immer wieder unter Druck. Einige tief religiöse Siedler, die im biblischen Judäa und Samaria leben wollen, lehnen ihrerseits den israelischen Staat ab.
Aber sind die Siedlungen wirklich das größte Hindernis für den Frieden? Zunächst ist wichtig zu wissen: Die palästinensische Führung und die beteiligten arabischen Staaten haben einen Frieden bereits abgelehnt, als es noch gar keine Siedlungen gab. Ein Angebot Israels nach Ende des Sechstagekrieges 1967, die besetzten Gebiete für Frieden und Anerkennung des jüdischen Staates zurückzugeben, stieß auf ein kategorisches Nein. Zudem zeigt die Geschichte, dass Verhandlungen über Siedlungen möglich sind.
Israel hat mehrfach – gegen heftigen Widerstand der eigenen Bürger – Siedlungen geräumt, wenn es so vereinbart wurde. 1982 im Sinai für den Frieden mit Ägypten, im Jahr 2005 in Gaza. Pläne für einen Gebietstausch liegen in der Schublade. Zuletzt hatte Premier Ehud Olmert einen umfangreichen Plan für zwei Staaten angeboten: Einige Siedlungen wären belassen worden, einige abgebaut, im Gegenzug hätte die palästinensische Seite anderes Land erhalten und einen Übergang nach Gaza. Es ging um einen Gebietstausch von vier Prozent.
Die palästinensische Seite lehnte erneut ab. Ein besseres Angebot gilt als wenig wahrscheinlich. Auch auf ein neunmonatiges Moratorium zur Aussetzung des Siedlungsbaus im Jahr 2009 von Netanjahu folgte keine Bereitschaft zu Verhandlungen.
„Israel ist ein Unrechts- und Apartheidstaat“
Der Vorwurf der „Apartheid“ ist als Kampfbegriff in Debatten über den Nahost-Konflikt zunehmend häufiger zu hören. Etwa von der propalästinensischen Organisation Human Rights Watch, die sich sowohl auf die von Israel besetzen Gebiete als auch auf die Lage der arabischen Bürger im Kernland bezieht. Der aus Südafrika stammende Begriff beschreibt die „Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere“ sowie „systematische Unterdrückung“ und „inhumane Akte“. Der erste Vorwurf ist offenkundig absurd, Israel ist ein multiethnisches Einwanderungsland.
Bleiben die weiteren Anschuldigungen. Tatsache ist: Die Westbank steht unter militärischer Kontrolle Israels. Einige Zonen sind selbstverwaltet durch die Palästinensische Autonomiebehörde, andere unterstehen dem israelischen Militär. Die inzwischen 54 Jahre lang andauernde Besatzung bringt Unterdrückung und Machtgefälle mit sich und führt zu einer fortschreitenden Entfremdung. Das wird auch in der israelischen Gesellschaft als Problem gesehen. Die anhaltenden Attacken und Terroranschläge auf israelische Soldaten und Zivilisten durch Palästinenser haben zudem eine umfassende Struktur von Sicherheitsmaßnahmen nach sich gezogen, die Bewegungsfreiheit der Palästinenser ist stark eingeschränkt.
Erhoben wird der Vorwurf der „Apartheid“ allerdings auch auf den Umstand, dass Israel aus Schutz vor Angriffen den Gazastreifen abgeriegelt hat. Die Tatsache, dass Ägypten das Gleiche auf der anderen Seite tut, wird von denselben Organisationen aber nicht kritisiert. Auch die Unterdrückung ihrer eigenen Bürger durch Fatah und Hamas wird ausgeblendet.
Im Staat Israel selbst ist die Lage dagegen eindeutig: Die rund 20 Prozent arabischen Israelis haben die volle Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht. Laut Umfragen schätzen es viele von ihnen, in Israel und in einer Demokratie zu leben. Zuletzt hat Netanjahu eine Koalition mit der arabischen Raam Partei erwogen, wenn auch aus machtpolitischen Gründen. Dennoch sahen viele darin einen Fortschritt. Eine Entwicklung, die durch die aktuelle Eskalation nun wieder infrage steht.
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NZZ
https://www.max-hartmann.ch/2023/10/17/warum-gibt-es-keinen-frieden-im-nahen-osten/
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