Polen überrascht – Erste Eindrücke, die Altstadt und die "Kirche der Verehrung des Heiligen Sakramentes"
Bei uns in der Schweiz begegnet mir immer noch ein längst veraltetes Bild von Mittel- und Osteuropa. Es ist immer noch geprägt von der Zeit des „Ostblocks“ – der Zeit, als diese Länder nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Entwicklung verhindert und der Sowjetunion mit ihrem kommunistischen Imperialismus überlassen wurden.
Doch heute ist es längst anders, wenn auch in unterschiedlichem Mass. Rumänien und Bulgarien sind stark von der Korruption betroffen, die tief sitzt. Ungarn hat aufgeblüht, ist aber zu einer gespaltenen Gesellschaft geworden durch ihren nationalistischen Präsidenten Orban. Die Slowakei hat sich auch wieder für einen Nationalisten entschieden. Anders sind die baltischen Staaten, die sich nicht als Teil Osteuropas, sondern Nordeuropas verstehen und aufstreben. Besonders aufgestrebt sind Tschechien, die Slowakei – und Polen. Diese drei Länder haben auch eine sehr geringe Arbeitslosigkeit auf dem Niveau der Schweiz.
Polen war die letzten Jahre zwar auch durch eine nationalkonservative Partei geprägt, die viele populäre Massnahmen traf wie die Unterstützung der Familien und die Senkung des Rentenalters von 65 auf 60 plante, sich gegen die Abtreibung und die westliche Genderideologie aussprach, die Medienfreiheit und den Rechtsstaat einschränkte, sich gegen jede Migration aussprach – doch der nahe Krieg in der Ukraine führte bei den Wahlen Mitte Oktober dazu, dass eine neue Regierung entsteht, die die Anbindung an die EU und den Westen wieder betont, da ein starkes Europa auch für Polen Sicherheit fördert vor dem Feind im Osten – Russland.
Das wird auch deutlich in unserer zweiten Reise diesen Herbst. Der Aufschwung ist noch deutlicher sichtbar. Das Bild der Autos auf den Strassen, der Menschen und ihre Bekleidung, die vielen modernen neuen Häuser und Betriebe lässt sich kaum von Westeuropa unterscheiden. Die Sauberkeit ist vorbildlich.
Zunächst ein Ausschnitt aus der NZZ, der während unserer Reise nach Krakau und Warschau erschien. Anschliessend thematisch Einsichten in Worten und Bildern. Vielleicht laden sie ein, auch einmal nach Polen zu fahren und das Land jenseits alter Vorurteile zu entdecken. Wir waren auch bei meinem Freund Matheusz Sora und seiner Frau zu Besuch, mit dem ich nächstes Jahr im Gästehaus der Diakonissengemeinschaft eine längere Ausstellung mit Werken seiner Initiative "Nowa Ikona" durchführen darf.
An Polen kommt niemand mehr vorbei in Europa:
selbstbewusst, wohlhabend, seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs sicherheitspolitisch enorm wichtig.
Doch das Land ist auch polarisierter denn je.
Aufzeichnungen unseres langjährigen Korrespondenten.
Paul Flückiger, Warschau, 30.09.2023, 21.45 Uhr
Keine Schlaglöcher mehr
Polen ist quasi über sich selbst hinausgewachsen. Und dies nicht nur dank Brüssel, sondern vor allem dank den Polen selbst.
Als ich in meinem ersten Korrespondentenjahr in Warschau mit einem ungarischen Kollegen vom Wirtschaftsforum in Krynica in den Bergen mit dem Auto zurück in die Hauptstadt fuhr, brauchten wir weit über zehn Stunden für die gut 400 Kilometer. Mal quakten Gänse auf der Strasse, mal mussten wir betrunkenen Bauern auf dem Velo ausweichen, dann gab es unzählige Schlaglöcher.
Heute ist die Strecke in der Hälfte der Zeit über mehrere Schnellstrassen zu schaffen. Die Dörfer bleiben links liegen, Gänse hält praktisch keiner mehr, und die Bauern trinken Bier statt Wodka – oder gar Wein. Polen ist in meinen bisher 23 Jahren zu einem Boom-Land geworden, die Skyline von Warschau gleicht jener von Frankfurt.
Doch die Polen-Vorurteile halten sich hartnäckig: Keine fünf Jahre ist es her, da wollte mir ein Besucher aus der Schweiz Altkleider für meine polnischen Freunde mitbringen. «Beste Ware, wie neu!», warb der gute Mann. In den frühen achtziger Jahre hatte er Polen-Pakete geschickt, Milchpulver und Schokolade für die hungernden Streikenden. Die rührige und damals wertvolle Aktion hat das westliche Polenbild geprägt – und verdeckt heute die Sicht auf die Hundesalons, Edelbäckereien und teuren Veloläden, die selbst in Provinzstädten zu finden sind.
Die meisten meiner polnischen Freunde würden heute sagen, der Aufbruch habe mit der Abwahl der Linksregierung 2005 begonnen. Dass auch die enormen EU-Transfergelder dabei eine Rolle gespielt haben, geben manche nur zähneknirschend zu. Lieber verweist man kritisch auf die ausländische Übernahme der letzten Staatsfirmen und den neuen, EU-konformen Einheitsgeschmack von Rüebli und Tomaten. Vor allem Letzteres beklage auch ich.
Viel wichtiger war jedoch, dass ich zusammen mit den meisten Polen lernen musste, Politik und Privatleben zu trennen. Nachdem die PiS 2015 die Parlamentswahlen überraschend gewonnen hatte und der weltfremde Parteigründer Kaczynski später Regierungschef geworden war, gingen in Polen die Wogen zwischen Liberalen und Konservativen hoch. Ein Bruderkrieg begann, der seitdem das ganze Land zerteilt und manch eine Ehe getrennt hat.
In meiner polnisch-schweizerischen Familie siegte nach wochenlangen politischen Diskussionen schliesslich die Vernunft. Auch in meinem Freundeskreis heisst es vor jeder Einladung: «Die Politik bleibt draussen!»
Auch diese beiden Vorurteile erweisen sich als falsch: Seit der russischen Annexion der Krim wuchs Polens strategische Bedeutung. Die Amerikaner erkannten dies vor der EU und begannen sich früh für mögliche Truppenstützpunkte zu interessieren. Mit der russischen Invasion im Nachbarland Ukraine 2022 wurde Polen dann zum wichtigsten Waffen- und Hilfsgüterhub der Nato.
Kindergeld und Angstmacherei
Die EU wiederum bezahlte nicht nur viel Geld an Warschau, sie erhielt auch einen grossen Absatzmarkt und sehr viele Aufträge. Die führenden deutschen und österreichischen Baufirmen können das bezeugen. Sie krempelten das Land um.
Im Windschatten der grossen Umgestaltung nach dem EU-Beitritt arbeitete sich auch Lukasz, ein umtriebiger jüngerer Bekannter aus Nordpolen, hoch. Zuerst brachte er das Internet in sein Heimatstädtchen, dann zog er ins regionale Zentrum Bydgoszcz (Bromberg) und verdiente sich eine Eigentumswohnung. Inzwischen fliegt er mit seiner Familie nach Malta, wenn es an der nahen Ostsee zu kalt zum Baden ist.
Hat ihm dies die Regierungszeit der Liberalen unter Tusk ermöglicht? Lukasz meint, wie die meisten in Polen, die liberale Bürgerplattform (PO) habe die innenpolitische Lage beruhigt, aber kaum eines ihrer Wahlversprechen gehalten. «Das Warmwasser fliesst in jeder Wohnung», lautet ein geflügeltes Motto zu den acht Jahren Tusk.
Was bei den schrillen Tönen übersehen wurde: Auch die konservativen PiS-Kabinette kümmerten sich gut um die Wirtschaft. Das Wachstum hielt sich meist bei über 4 Prozent. Die Arbeitslosenquote haben Tusk wie Kaczynski gedrückt – sie liegt heute bei knapp 3 Prozent –, wobei beiden die hohe Abwanderung vor allem nach Grossbritannien und Irland geholfen hat.
Zwar treibt die PiS ernsthaft eine konservative Revolution an, inklusive weitgehenden Abtreibungsverbots, doch die Praxis sieht oft anders aus. Die «Pille danach» gibt es im Internet auch ohne ärztliche Verschreibung, und Aktivistinnen organisieren Busfahrten in tschechische Abtreibungskliniken. «Wer sich zu helfen weiss, hat kein Problem», sagt eine Bekannte aus Krakau.
Allerdings leben ja nun nicht alle Polinnen und Polen in Grossstädten. In der von Tusks PO regierten oberschlesischen Stadt Kedzierzyn-Kozle mit 20 000 Einwohnern erzählt mir Darek, ein 17-Jähriger mit rosa Haaren und Ohrringen, er werde in der Schule als angeblich homosexuell verlacht und wolle nach Deutschland auswandern, sobald er volljährig sei.
Die grosse Trennlinie der Lebenswelten verläuft heute in Polen zwischen Stadt und Land. PiS hat dies in den acht Regierungsjahren etwas eingeebnet, indem Geld von den Zentren abgezogen wurde. Doch Unterschiede bleiben.
erste eindrücke
Heute hat der Krakauer Flughafen «Johannes Paul II» einen Bahnhof integriert, und man fährt in einer Viertelstunde zum Hauptbahnhof. Zuerst muss ich mich daran gewöhnen, dass es auch da für das Ticket heute kaum ohne Handy und eine App geht, die immer zeigt, wo wir sind, das Ziel suchen kann und weiss, wann genau welcher Zug, Tram oder Bus gerade fährt.
Ich habe via AirBnB eine Wohnung in Kasimierz gebucht – dem früheren jüdischen Viertel, wo eher jüngere Touristen aus der ganzen Welt absteigen, und noch nicht alles bis zur Perfektion renoviert ist. So bleibt noch etwas von der früheren Stimmung, die ja auch sehr multikulturell geprägt ist. Nach Wohnungsbezug schauen wir uns einfach im Quartier um, gehen Kaffeetrinken und essen später auch dort, was wir später fast immer tun werden: Das Gute liegt ja um die Ecke und die Auswahl von Küchen vieler Nationen ist verführend.
Die Altstadt
Unterwegs in der Altstadt – Weltkulturerbe, mit dem grössten mittelalterlichen freien Platz Europas. Sehen und Staunen. Die Aufnahmen sind an drei Tagen entstanden: am zweiten Tag beim Einnachten, nochmals beim Einnachten und unser Abschied von Krakau, wo wir auch eine Gruppe erlebten, die auf dem Marktplatz Worship machte und wir dann mit einem jungen Kameruner sprachen, und dann noch eine geniale Breakdance-Session. Und natürlich eine Aufnahme vom Trompeter auf dem Turm der Marienkirche, der jede Stunde spielt.
Breakdance ohne Musik, da urheberrechtlich geschützt.
die "Kirche der Verehrung des Heiligen Sakramentes"
Polen ist das Land in Europa mit dem höchsten Anteil an Bevölkerung, die zu einer Kirche gehört. Wobei fast alle Mitglieder der Katholischen Kirche sind. Die meisten praktizieren auch den Glauben, mit zunehmendem Wohlstand aber immer weniger. Viele sind sehr konservativ in ihrem Glauben und in ihren moralischen Ansichten. Aber nicht alle. Es gibt auch eine offene und reformorientierte Szene.
Immer wieder haben wir Kirchen besucht. Zunächst eine am Rand des ehemals jüdischen Quartier – die Kirche der «Vererhung des Heiligen Sakramentes». Gemeint sind die Gaben des Abendmahl. Von aussen sieht die gut renovierte Kirche einfach aus, ein gotischer Bau. Drinnen aber erschlägt mich schier das Glitzern des Goldes, die barocke Einrichtung. Mit Barock hatte ich immer Mühe. Mir es schlicht zu viel. Und der Protestant in mir meldet sich. Die Kirche darf sich doch nicht einen solchen übermässigen Luxus erlauben. Christus kommt uns schlicht entgegen – so später auch Franziskus, der teilweise so radikal war, dass er sich nicht einmal das mindeste erlaubte: ein gutes Bett, und der alles mit den Armen teilte.
Die barocke Ansicht war anders: Sie wollte die Leute so etwas wie den Himmel erleben lassen – lud zum Staunen ein und damit zur Überzeugung: Im Himmel ist es nur noch viel schöner...
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