Im Dialog mit Roger Köppel – ein Mailwechsel
Bild: Aquarell von Danylo Movchan, Lwiw, aus einer Reihe «Bilder zum Krieg»
Ein PDF zum Ausdrucken aus Hilfe zum Lesen findet Sie am Schluss des Beitrages.
Zu einer ehrlichen Kommunikation gehört auch, nicht nur über jemanden zu schreiben und diesen nicht einmal darüber zu informieren. Deshalb schrieb ich Roger Köppel – und er antwortete bald. Seine Antwort kann ich nicht veröffentlichen, da ich seine Rechte als Person beachten muss. Es lässt sich dennoch in dem erahnen, was ich ihm später schrieb. Hier mein meine beiden Mails. Die Hervorhebungen sind erst jetzt entstanden, um den Text übersichtlicher zu machen.
Sehr geehrter Herr Köppel
Ich kann es mir nicht verkneifen, Ihnen zu schreiben, wie bei mir Ihr Daily mit Colonel MacGregor angekommen ist. Ich nehme hier in Anspruch, wozu Sie einladen: zu reagieren. Lesen Sie selbst.
Meine Frage ist, ob Sie schon einmal in der Ukraine waren, wie weit Sie die Geschichte der Ukraine kennen, und ob Sie schon mit jemanden in diesem Land Kontakt hatten.
Ich bin der Herausgeber der Memoiren des sowjet-ukrainischen Dissidenten und Christen Myroslaw Marynowytsch, der in der Ukraine als moralisch-ethische Autorität gilt. Er wird an der Buchvernissage an der Universität Zürich zusammen mit mir und dem Ökumenischen Forum für Glaube, Religion und Gesellschaft auftreten. Marynowytsch ist Mit-Neubegründer der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche und deren Universität in Lwiw, die zu den besten in der Ukraine gilt.
Ich übersetzte für ihn meinen Beitrag und er schrieb mir: «I am shocked by the Level of direct lies. How is it possible in an free world! Your conclusions are perfect, thank you.»
Meine Recherche zeigt im russischen Internet zeigt, dass in Russland gefeiert werden. Sie sind zu einem sehr willkommenen Agenten der russischen Propaganda geworden. Ich bin mit Ihnen einig, dass im Westen nicht alles richtig läuft. Dennoch bevorzuge ich den Westen. In Russland ist keine kritische Auseinandersetzung mehr möglich. Wenn Sie dort kritisch eine andere Sicht vertreten würden, wie Sie es gerne tun, wären Sie geflüchtet, umgebracht oder längst im Straflager.
Marynowytsch kennt das System. Er weiss auch um die ukrainischen Schwächen, die Korruption. Sie ist eine Folge des moralischen Niedergangs durch die sowjetische Phase. Und er setzt sich ein für eine moralische Erneuerung, was auch in einem gewissen Sinn im Westen nötig wäre. Wer in der Ukraine lebt, weiss um die unglaublichen Verbrechen Russlands, Hitlers und der Sowjetunion, die dort begangen wurden.
Der Colonel unterschätzt die Kampfbereitschaft der Ukrainer und die Einheit, die der Krieg in der Ukraine auch in der russischsprachigen Bevölkerung ausgelöst hat. Lieber sterben als nochmals Russland.
Ich lese und höre bei Ihnen nie von den Verbrechen Putins. Kennen Sie sie, oder übergehen Sie sie?
Wenn Russland siegt, was nicht ausgeschlossen wird, geschieht, was ich im russischen Internet gefunden habe: Die Liquidierung der ukrainischen Regierung, die Umerziehung der ganzen Elite in Straflagern und die Russifizierung des Volkes und der Jugend mit allen Mitteln, auch der Gewalt.
Sie werden lesen, weshalb ich verstehe, warum Putin so handelt. Dieser Mann ist zutiefst ein Mann des KGB geblieben und hat eine traumatische Kränkung erlebt.
Gerade wir als Schweizer waren immer sehr bedacht, unabhängig und ein eigenes Volk mit verschiedenen Kulturen zu sein – ein Sonderfall, der auch meiner Meinung nach nicht in die EU oder NATO gehört, aber dennoch zum Westen. Deshalb sollten wir verstehen, dass ein Volk, das so oft erlebt hat, wie es gehindert wurde, selbstständig zu sein, ein eigenes Volk und Land wie die Schweiz sein zu können und nicht ein Teil von Frankreich, Deutschland oder Italien, um sein Recht kämpft.
Ich schätze Karl Barth sehr, ein mutiger Mann, der den Hitlergruss verweigerte, sich im HD der Armee freiwillig meldete, und mit der Barmer Erklärung klare Stellung bezog. Er wurde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, was Sie im Daily Spezial verbreitet haben und wofür Sie gefeiert werden.
Hier mein Beitrag:
Besorgt grüsst
Max Hartmann
PS:
Hier der Link zum Buch, das demnächst im Handel im Wissenschaftsverlag «ibidem» erscheint:
https://www.ibidem.eu/de/contributor/index/contributorlist/id/5518/
Hier folgt die Antwort von Roger Köppel, auch in einem anständigen Stil. Nur so viel: Er war schon in der Ukraine, aber in einer früheren rauen Phase ihrer Geschichte. Ich reagiere und präzisiere:
Sehr geehrter Herr Köppel
Danke für Ihre rasche Antwort. Ich möchte Ihnen einiges zu bedenken geben.
Die WELTWOCHE ist das einzige politisch-gesellschaftliche Wochenmagazin, das bestehen konnte, was in der heutigen Presselandschaft nicht selbstverständlich ist.
Meine Frau bezog sie jahrelang. Als wir heirateten und Kinder bekamen und beide im Pfarramt engagiert waren, ich als Pfarrer und meine Frau wie früher selbstverständlich für eine Frau des Pfarrers im freiwilligen Engagement, war dies zu viel. Unsere Tochter hat übrigens als Schlussarbeit ihrer Ausbildung zum Journalismus eine Arbeit verfasst über zwei prominente Pfarrerskinder in der Schweiz: Heiri Müller, vormals in der Tagesschau, und Christoph Blocher. Dieser lud die beiden zu sich nach Hause über dem Zürichsee ein, und sie nahmen sich viel mehr Zeit, als ursprünglich vereinbart. Die Reportage erschien dann in der Kirchenzeitung reformiert.
Ich wechselte früh im Pfarramt vom TagesAnzeiger, dessen Magazin ich schätzte, zur NZZ und bleibe ihr wohl treu bis ans Lebensende. Besonders die Auslandsberichterstattung, die Kommentare und der Feuilleton sprechen mich sehr an. Da sind durchaus kritische Auseinandersetzungen auch mit gesellschaftlich fragwürdigen Entwicklungen möglich, etwa im Bereich Gender, überzogener political correctness oder jugendlicher Hysterie in der Klimafrage. Sehr schätze ich die Berichterstattung und klare Haltung der NZZ im Bereich des Überfalls Russlands in der Ukraine. Da kommen Experten wie Timothy Snyder und Andreas Umland zum Wort, mit denen ich durch meine Publikation der Memoiren von Myroslaw Marynowytsch verbunden bin. Snyder gab mir die Erlaubnis, sein Vorwort in der englischen Ausgabe für die deutsche Übersetzung zu übernehmen, Andreas Umland ist zuständig für die Reihe «Ukrainians Voices» im Verlag ibidem. Oder die Stimmen russischer Intellektuellen, die mit ihrer kritischen Wahrnehmung der russischen Realität gefährdet sind.
Bei der WELTWOCHE stelle ich fest, dass sich die Zeitung stark verändert hat. Früher war sie ein Organ, das auf hohem Niveau ein Forumscharakter mit verschiedenen Meinungen hatte. Zunächst erlebte ich das bei ihnen auch. So kaufte ich gerne die Sonderausgabe zum 1. August mit spannenden Stimmen zur Situation in unserem Land. Dann erlebte ich sie als das «intellektuelle Sprachrohr» der SVP, die durch Christoph Blocher neu aufgestellt erfolgreich wurde.
Dann aber stellte ich bei Ihnen eine weitere Veränderung fest. Zunächst gehörten sie nicht zu den Radikalen im Umgang mit der Corona-Krise. Dann aber doch. Besonders, als Daniele Ganser bei Ihnen seinen Platz fand, der für mich auf eine sehr geschickte Weise sein Weltbild verbreitet, und der sogar die Frage stellt (und damit auslöst, es sei so), ob die Anschläge vor 22 Jahren in NYC nicht doch das Werk des CIA gewesen wäre. Und dann kam die Corona-Krise, die uns China beschert hat und wo wir nie klar wissen werden, ob der Virus in einem Labor gezüchtet wurde. Dann begegnete mir bei ihnen die Haltung mindestens tendenziell, dass linke Kreise um Wirtschaftsbosse mit dem Virus eine Agenda hätten (und somit nicht China, sondern diese Kreise den Virus in Umlauf gebracht hatten. So fassen es jedenfalls gewisse Leute unter Ihren Lesern auf.
Mir gefällt an der linken Szene vieles auch nicht. Tatsache ist, dass in den Medien viele arbeiten, die persönlich linke Parteien bevorzugen. Dieses Phänomen ist nicht neu – Intellektuelle hatten wohl schon immer eine eher linke Tendenz und waren damit oft naiv, gerade der Sowjetunion und dem Kommunismus gegenüber.
Die politischen Gefangenen in Perm-36 nahmen wahr, wie die Friedensbewegung im Westen von der Sowjetunion unterstützt wurde. Sie wollten damals unter sich Ostern feiern, mit ihren Gebeten ökumenisch vereint. Alle wurden dann für längere Zeit in den Karzer gesteckt. Myroslaw schrieb schliesslich in ihrem Auftrag einen eindrücklichen Brief an Johannes Paul II., indem er schilderte, dass die Friedensbewegung sich von der sowjetischen Propaganda unterstützen lässt, und die Verletzung elementarer Menschenrechte in der Sowjetunion nicht einmal wahrnehmen – dass zu Unrecht bestrafte politisch Häftlinge sogar nicht einmal Ostern feiern dürfen, wahrnehmen konnten, obwohl Breschnew seine Unterschrift über die Helsinki-Vereinbarung gegeben hatte. Der Brief wurde aus dem Lager geschmuggelt. Nach längerer Zeit bekamen sie die Antwort, dass der Papst den Brief gelesen hatte sogar in einer Messe für die Gefangenen gebetet hatte. Das war eine grosse Ermutigung. Auch heute hat Marynowytsch den Eindruck, dass sich viele Kreise lieber mit ihren ideologischen Fragen beschäftigen, als sich für die Wahrung elementarer Menschenrechte im früheren Sinn einzusetzen, auch im gegenwärtigen Russland.
Heute stelle ich bei Ihnen fest, dass sowohl linke Kreise um die Friedensbewegung als auch rechte Kreise sich für einen raschen Frieden im gegenwärtigen Krieg einsetzen und dabei die Unterstützung der Ukraine in Frage stellen, was früher oder später der Untergang der Ukraine bedeutet. Damit verbunden ist auch ein heftiger Antiamerikanismus, der bei der Linken schon seit Jahrzehnten verbreitet ist, nun aber auch bei der Rechten.
Wenn ich die Berichterstattung der WELTWOCHE betrachte, stelle ich dies sehr klar fest. Da wird für Russland Stellung bezogen und Putin verharmlost. Es entsteht der Eindruck, dass letztlich der Westen für diesen Krieg verantwortlich ist und Russland nicht anders konnte. Die klare Verurteilung des Übergriffs fehlt.
MacGregor ist ein eindrückliches Beispiel dieser Haltung, die mit Verzerrungen und Unwahrheiten verbunden ist. Er war Berater von Donald Trump. Ich finde nicht alles falsch, was Donald Trump wollte, etwa mit seiner Unterstützung von Israel, oder seine Nähe zu dem Teil der amerikanischen Bevölkerung, die sich abgehängt erlebt, weil eine Elite das Mass überspannt, das das Volk verstehen kann.
Aber er war völlig naiv im Blick auf seine Möglichkeiten Kim gegenüber. Sein Engagement und seine «Freundschaft» hat nichts verändert. Auch Putin gegenüber liess er sich letztlich über den Tisch ziehen. Wahrscheinlich war er im Trump-Tower bereits geheimdienstlich überwacht worden (Recherche von Prof. Timothy Snyder). Unmittelbar unter seinem Büro hatten Russen Räume gemietet. Wenn Trump heute sagt, dass es keinen Krieg gegeben hätte, wenn er gewählt worden wäre (wobei er immer noch von einem Wahlbetrug überzeugt ist), oder dass er unter seiner neuen Präsidentschaft in einem Tag den Krieg beenden kann, glaube ich ihm das nicht. Im zweiten Fall ist damit zu rechnen, dass er jede Unterstützung der Ukraine stoppt. Deshalb gibt es keine andere Lösung, als dass zuvor Friedensverhandlungen stattfinden, in dem Putin mindestens teilweise auf der Verliererseite steht, und die Ukraine wird im optimalen Fall wohl das zurückerhalten, was sie seit dem 24. Februar 2024 verloren hat. Das ist sich Selenskij durchaus bewusst. Die Ukraine muss aber zuvor wichtige Fortschritte in der Rückeroberung machen. Immerhin ist das etwa im Fall von Cherson geschehen, und auch Charkiw konnte gehalten werden.
Nun zu MacGregor zurück und damit zu Ihrer Frage, wo ich ihn der Lüge bezichtige. Ich habe es in meinem Blogbeitrag bereits beschrieben. Vieles liegt daran, dass er gewisse Dinge völlig verschweigt oder nicht wahrnehmen will – und dass Sie ihn nie hinterfragen, sodass der Eindruck entsteht, sie nähmen seine Äusserungen für bare Münze. Die vielen zustimmenden Kommentare zeigen, dass es so aufgefasst wird. Ich sehe überhaupt keine Distanzierung ihrerseits.
Hier meine Wahrnehmung:
Schon zu Beginn konnte ich meinen Ohren nicht trauen, musste nochmals anhören, ob ich wirklich richtig verstanden habe.
Bei MacGregor begegne ich der russischen Propaganda in einer Euphorik, die nicht einmal der russische Staatssender «rt deutsch» verbreitet. Deshalb ist es nicht weiter erstaunlich, dass er und auch Roger Köppel in diesem Sender bereits zum Wort gekommen sind.
Christlich: Was daran ist christlich? Die Lüge wird zur Wahrheit verkehrt. Kein Wort über die Kriegsverbrechen Russlands (Butscha, Irpin, Mariupol, Entführung von Kindern nach Russland, ständige Bombardierungen von Zivileinrichtungen), kein Wort über die Eliminierung der inneren Feinde Russlands, die zahlreichen Morde, nicht nur der Vernichtung von Prigoschin. Kein Wort über die Auflösung der Organisation «Memorial» für die Aufdeckung der Verbrechen der Kommunisten oder die Auflösung der freien Presse wie der «Nowaja Gaseta». Kein Wort betreffend der Sprengung des Staudammes oder der Gasleitung, die unterdessen klar auf Russland zurückzuführen sind.
Kritisch: Ja, aber nur gegenüber dem Westen und ihren Regierungen – und gegenüber Selenskji, der sogar mit Stalin verglichen wird, der Abertausende sinnlos sterben liess.
Zuversichtlich: Wo denn? Wenn mir gesagt wird, dass das westliche Finanzsystem zusammenbricht und damit Europa? Wenn das geschieht, was Putin verheisst? Es kann unmöglich sein, dass wir Putin das machen lassen, denn das würde unseren Wohlstand und unser Vermögen vernichten, inklusive Altersvorsorge.
Es ist wahr: Der grosse Durchbruch der ukrainischen Armee, auf den wir hoffen, ist noch nicht geschehen, nur kleine Schritte. Dass die wenigen zurückeroberten Ortschaften wieder verloren gingen, weil sich die Soldaten vor Angst zurückzogen, trifft nicht zu. Die Ukraine konnte zudem die bedeutende Stadt Cherson zurückerobern und Charkow bisher halten. Die ukrainischen Soldaten sind nicht einfach unfähig, im Gegenteil äusserst motiviert und von der Bevölkerung unterstützt. Sie sind sehr viel gewandter und durchaus rasch lernfähig, mit anderen und modernen Waffen umzugehen, als der Colonel ihnen zutraut. Die Ukraine hat eine hervorragende Drohnenindustrie und manche sehr kluge und innovative Köpfe. Es stimmt, sie warten auf mehr Ausrüstung und Munition. Doch genau das will ihnen MacGregor verweigern. Das Zögern des Westens hat dazu geführt, dass die Russen ihre Front mit drei Linien Minen und Gräben ausbauen konnten. Auch an Flugzeugen fehlt es, die die Ukraine braucht, um vorwärts zu kommen. Nun sind Piloten in Dänemark in der Ausbildung.
Woher hat dieser Mann eigentlich die Information, die ihn behaupten lässt, dass die Ukraine bisher 400 000 Soldaten verloren hat? Er nennt seine Quellen, doch treffen sie zu? Es gibt grosse Soldatenfriedhöfe, es gibt viele Tote. Aber auch in der Ukraine würde ein solch grosses Ausmass Entsetzen auslösen und uns bekannt werden. Im Unterschied zu Russland sind Kriegsreporter aus vielen Ländern in der Ukraine nahe am Geschehen unterwegs. So auch der Kriegsfotograf Dominic Nahr von der NZZ, den ich persönlich getroffen habe, und von dem ich weiss, dass er sehr nahe an den Leuten auch an der Front ist und selbst dabei ein grosses Risiko eingeht. Er will mit seinen Bildern Zeugnisse schaffen, die sich später nicht verleugnen lassen.
Zudem will er gar nichts sagen über die russischen Verluste oder schätzt diese viel zu gering ein. Siehe noch später.
Putin soll sich immer gegen Massnahmen ausgesprochen, die unnötig sind. Weshalb hat er dann den Krieg gestartet? Hat die Ukraine und der Westen je geplant, Russland zu überfallen? Unnötige Opfer vermeiden? Warum wurde das Theater in Mariupol zerstört, auf dem gross sichtbar stand: «Kinder» - und wirklich Kinder dort waren? Hat der Colonel auch die geringste Ahnung, wie das KGB, in dem Putin arbeitete und dessen Nachfolger FSB Putin präsidiert, arbeitet? Mit Lügen, Fallen stellen, Verleumdungen, inszenierte Szenen, Scheinprozessen, Folterungen, Abhörungen usw. Kann man einem Mann wie Putin mit dieser Vergangenheit glauben?
Und wie steht es mit den bisher schon bestätigten groben Kriegsverbrechen der russischen Armee bis zu Kinderentführungen? Es gibt auch einige ukrainische Kriegsverbrechen, aber im Vergleich wenige. Diese werden teilweise sogar gefahndet.
Klar ist, dass alle wehrfälligen Männer in der Ukraine im Land bleiben müssen, damit sie aufgeboten werden können. Es ist aber nicht von 16 bis 60, sondern von 18 bis 60, was ein grosser Unterschied ist. Sie sind einige Männer am Beginn des Krieges geflohen, aber nicht in grossem Ausmass. Im grossen Ausmass war dies in Russland der Fall. Im Widerspruch zu später, als MacGregor die russische Arbeit als gross und professionell bezeichnet, sagt er zuvor plötzlich, was der Wahrheit entspricht: Die Russen kratzen am Boden, haben die Gefängnisse geleert. Hat er sich versprochen oder schwindelt er?
Vernichtend ist sein Urteil von Selenskij. Er wird, völlig unhaltbar und unglaublich zynisch mit Stalin verglichen, der Abertausende Soldaten in sinnlosen Einsätzen geopfert hat. Das ist mehr als ehrverletzend. Dass Selenskji durch einen Oligarchen bei der Wahl unterstützt wurde, trifft zu. Aber er hat ihn wirklich wegen Korruption entlassen, da er nicht nur einen Krieg gegen aussen führen muss, sondern auch gegen innen, was korrupte Strukturen betrifft. Natürlich trat Selenskij als Präsident an, der den Krieg im Osten beenden wollte und Frieden versprach. Doch er musste einsehen, dass das hiesse, Russland frei walten zu lassen. Bei Kriegsbeginn haute er nicht einfach ab, stand vor sein Volk, meldete sich dauernd und wurde als Präsident auch zum Soldat, der sein Land verteidigt. Er ist auch nicht bloss ein gefälliger Hampelmann des Westens – im Gegenteil, manchmal nervt er, wenn er wieder und wieder kommt und um die nötigen Waffen bittet.
MacGregor geht davon aus, dass die Ukraine den Sieg nicht herbeiführen kann. Er kennt die Hartnäckigkeit und den unbedingten Willen der Mehrheit der Ukrainer aber nicht, die sich sagen: «Lieber sterben als wieder Russland». Die Ukrainer litten zu oft unter Russland, besonders im 20. Jahrhundert. Sie wurden immer als minderwertig betrachtet, es wurde ihnen sogar ihre Ethnizität und Sprache abgesprochen, und aus keinem Teil der Sowjetunion wurden so viele aus politischen Gründen mit Straflagern bestraft. Zudem liess Stalin Millionen an Bauern bewusst verhungern und stahl ihnen gewaltsam das Getreide («Holodomor»), um sich im Westen Devisen zu beschaffen.
Immer wieder taucht der Begriff «Mainstream-Medien» auf – und daraus wird bei vielen die Rede von der «Lügenpresse». Ist es tatsächlich so, dass unsere Medien radikal linksgeschaltet sind, und keine seriöse und ausgewogene Berichterstattung kennen? Sicher gibt es da und dort Tendenzen, in denen sich zeigt, dass Journalisten selbst das linke Spektrum bevorzugen. Dennoch arbeitet der Journalismus in der Mehrheit seriös, und es gibt Ombudsstellen, die Beschwerden entgegennehmen und denen manchmal zugestimmt wird. Besonders in der Schweiz ist dies der Fall.
Köppel beansprucht für sich die «Wahrheit», die verschwiegene bzw. unterdrückte Sichtweise. Was er aber mit diesem Interview verbreitet, ist mehr als nur fragwürdig. Es ist brandgefährlich, da es den Westen spaltet und schwächt. Da wir Pressefreiheit kennen, lässt sich dies nicht verhindern. Ausser es wäre ein Aufruf zu einem Putsch der Regierung, wie es nach einer Ansprache von Trump geschah, als eine Meute das Capitol besetzte, weil sie an die «gestohlene Wahl» glaubten.
Ich habe bisher im Westen nie gehört, das Russland zerstört werden muss und militärisch besetzt. Das will die NATO um jeden Preis verhindern, damit es nicht zum 3. Weltkrieg kommt. Was allerdings zu wünschen wäre, ist, dass dieses Russland eine vernichtende Niederlage im gegenwärtigen Krieg erlebt und sich vollständig aus der Ukraine zurückziehen muss. Die Wahrscheinlichkeit ist aber grösser, dass es zu Verhandlungen kommt, und vielleicht die bisher von Russland besetzten Gebiete zu international nicht anerkannten Republiken werden, der Krieg «eingefroren» wird.
Der Einfluss des Finanzsystems der USA und in der Politik: Der ist tatsächlich enorm. Aber es betrifft keineswegs nur die Demokraten. Da das Finanzsystem Einschränkungen und höhere Steuern nicht schätzt, unterstützen sehr viele Republikaner die Wirtschaftselite (wie gross es in den Parteien ist, müsste eruiert werden). Donald Trump wurde zudem als angeblich sehr erfolgreicher Geschäftsmann Präsident und stammt keineswegs aus ärmlichen Kreisen.
MacGregor hat ein völlig naives Verständnis von Russland. Russland ist zwar nicht mehr kommunistisch, aber dessen Strukturen und Verhalten erlebt gegenwärtig eine Renaissance: Der Anspruch auf imperiale Grossmacht, Überlegenheit (manchmal offen faschistisch), die Kontrolle der Bevölkerung durch den Geheimdienst, der Gulag, die Verhinderung jeder Kritik am russischen «Führer» mit seiner Selbstbeweihräucherung, seinen Lügen gegenüber dem Westen, seine Kriege (Tschetschenien, Georgien, Ukraine) oder die Beteiligung an Kriegen: Syrien, Libyen, neu mit «Privatarmeen» in zahlreichen Ländern in Afrika, die ständige Propaganda in den Staatsmedien, die alternativlos sind, die Umschreibung der Geschichte und seine «Geschichtslektionen», militärische Früherziehung im Kindesalter…
Nicht wahr ist auch die Behauptung, in den USA und England herrsche ein grober Hass gegen Russland. Wo denn soll eine solche Volksverhetzung geschehen? Umgekehrt begegnet dem russischen Fernsehzuschauer täglich genau ein solcher Hass auf den Westen. Und im Westen existiert in der extremen Rechten und Linken ein teilweise traditioneller Hass auf die USA. Antiamerikanismus verbreitet sich zunehmend.
Der Interviewpartner sieht den Westen vor einem finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Gefahr besteht wohl immer wieder, doch da gibt es ein grösstes Interesse, es zu verhindern. Der Westen ist heute zudem geeinter als zuvor in Folge des Krieges. Völlig naiv ist MacGregor in der wirtschaftlichen Einschätzung Russlands. Das Land hat hohe Ressourcen, aber genau in der Technologie mangelt es und geht es nicht ohne den Westen. Zudem wurde die Wirtschaft nie diversifiziert. In grossen Teilen der Bevölkerung herrscht grosse Armut und Alkoholismus.
Soweit meine Argumente.
Was mir wirklich Mühe und Sorge bereitet, ist, dass Sie damit Geister rufen, die Sie nicht mehr zurückholen können. Sie haben eine gefährliche Pandora-Büchse geöffnet, in der sich manche tummeln, die etwa verstrickt sind in heftige esoterische Lehren, mit Leuten mit mehr oder weniger antisemitischen Tendenzen bis hin zu neonazi- und neonationalistischen Kreisen, mit denen etwa Dugin durch sein Seminaren im Westen längst verbunden ist. Die Absicht ist klar: die Zerstörung des Westens, auch mit Gewalt.
Denken wir zurück an die Dreissigerjahre des letzten Jahrhunderts. Deutschland war tatsächlich in einer katastrophalen Lage. dann kam Hitler mit seiner Ideologie. Er gab den Deutschen ein neues Selbstbewusstsein als erniedrigte Nation – und er gab ihnen Arbeit. Es führte zur Ausschaltung jeder Opposition und offener Gewalt, zur völligen Überwachung aller, die Widerstand zeigten – und zur Umsetzung dessen, was er in «Mein Kampf» geschrieben hatte. Viele glaubten, er meine es nicht völlig ernst, er übertreibe nur. Das Ziel Putins ist aber klar: den Westen zerschlagen und damit nach der Demütigung 1989, wo das kommunistische System zerschlagen wurde, die Überlegenheit des neuen Russland zu beweisen – und eine neue Weltordnung unter der Führung Russlands mit China und der erweiterten BRICS zu installieren - ohne lästige Menschenrechte und demokratische Prozesse. Wobei wohl in diesem Szenarium nicht Putin der wirkliche Held sein wird, sondern China.
Was bereits geschieht, ist eine Auferstehung der bipolaren Welt. Auch wenn wir Putin gefällig wären, was wir zu lange taten, werden wir ihn nie zähmen können, höchstens vorläufig stoppen. Deshalb braucht der Westen eine neue Stärkung und Einheit. Dazu muss die gegenwärtige gesellschaftliche Spaltung vermindert werden.
In der WELTWOCHE sehe ich diese Haltung aber nicht. Deshalb infiltriert Russland weiter auch auf diesem Weg unzufriedene Kreise auch im deutschsprachigen Bereich mit Erfolg. Lassen Sie sich nicht vor diesen Karren spannen.
Danke für die Zeit, die Sie sich nehmen, meine Meinung zu lesen, auch wenn ich Sie nicht überzeugen kann. Für mich ist es wichtig, mir später nicht sagen zu müssen, ich habe damals geschwiegen.
Freundliche Grüsse
Max Hartmann
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Maria (Samstag, 16 September 2023 17:00)
Danke max. Hochspannend was du schreibst und mutig,danke.