Familie Marynowytsch

Myroslaw und Ljuba Marynowytsch-Heina als Familie

 

Wer sehen hier das Ehepaar Myroslaw und Ljuba Marynowytschtsch-Heina in Lwiw und den Pflegesohn Mikhailo Heina aus Kyjiw mit seiner Frau und ihren drei Töchtern. Sie feiern gerade ihr grösstes Fest des Jahres: Ostern. Auf dem Tisch stehen neben den in der die Ukraine überaus geliebten Blumen,  wunderschön verzierte Eier und ein Osterkuchen. An der Wand hängt das Porträt des Oberhauptes der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, eine Ikone und Familienfotos.

 

Myroslaw ist der Vizerektor der Katholischen Universität Lemberg und der Verfasser seiner Memoiren «Das Universum hinter dem Stacheldraht», das nun auf Deutsch erscheint, Mikhailo der CEO der Firma «Art Depo», Design für Internetauftritt für Firmen wie DHL in der Ukraine.

 https://artdepo.com.ua/ua/projects/realty/

 

Alle ausser Myroslaw tragen Hemden oder Blusen mit den wunderschön gestickten traditionellen ukrainischen Mustern. Es begegnet uns ein glücklicher Moment, und das trotz der Tatsache des Krieges. Diese schreckliche Realität treibt sie um, soll aber nicht ihren ganzen Alltag bestimmen und damit den Feind die eigene Seele zerstören lassen. Zudem ist Ostern das grosse Hoffnungsfest. Nachdem an Karfreitag ie Mission Jesu, die Ankunft von Gottes Reich auf dieser Erde, mit der Kreuzigung scheinbar gescheitert war, geschah danach das Unglaubliche: die Auferstehung des toten Jesu. Was dem Menschen unmöglich ist und allen Naturgesetzen widerspricht, geschiehth: «Der Tod hat den Tod besieht» (Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther).  Der Berner Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti schreibt in seinen "Leichenreden":

 

dem herrn unserem gott

hat es ganz und gar nicht gefallen

daß gustav e. lips

durch einen verkehrsunfall starb

 

erstens war er zu jung

zweitens seiner frau ein zärtlicher mann

drittens zwei kindern ein lustiger vater

viertens den freunden ein guter freund

fünftens erfüllt von vielen ideen

 

was soll jetzt ohne ihn werden?

was ist seine frau ohne ihn?

wer spielt mit den kindern?

wer ersetzt einen freund?

wer hat die neuen ideen?

 

dem herrn unserem gott

hat es ganz und gar nicht gefallen,

daß einige von euch dachten

es habe ihm solches gefallen

 

im namen dessen der tote erweckte

im namen des toten der auferstand:

wir protestieren gegen den tod von gustav e. lips

 

Christen sind Protestleute gegen den Tod (Christoph Blumhardt). Sie glauben nicht nur an ein Leben nach dem Tod, sondern ebenso an das Leben vor dem Tod. In Christus ist die Vision von Gottes neuer Welt nicht nur ein ferner Traum, er geschieht durch sein Kommen Einzug Christi in dieser Welt. Dieser Traum erfüllt sich in Momenten, in denen wir die Gegenwart Gottes, seinen Geist, offensichtlich erleben.

 

Dieser hält und trägt Myroslaw Marynowytsch und seine Familie. Das Buch «Das Universum hinter dem Stacheldraht» enthält zudem auch einiges zu Myroslaws Familiengeschichte, besonders zu seiner Mutter Ljuba und seiner Schwester Nadjia, aber auch seine Frau Ljuba Heina. Hier einige Auszüge aus dem Buch in meiner Bearbeitung für den Verlag:

 

Zu meiner Schwester Nadijka hatte ich schon von klein an eine besondere Beziehung. Als ich aus der Entbindungsstation gebracht wurde und meine Mutter mich wickeln wollte, schrie die vierjährige Nadijka: »Pass auf, dass du ihn mir nicht erdrückst!« Ich war ihr Eigentum – und meine Mutter in dem Fall im Abseits. Nachdem für mich Nadijka die erste Lehrerin wurde, wurde ich für sie ihr erster Schüler, den sie wie ein Brikett aus Plastilin formen konnte. Manchmal fiel dieses »Brikett« ihr aus der Hand und trieb manchen Unfug. Mal zog er sein Schwesterlein an den Haaren, mal rannte er um die Ecke und jagte der Schwester einen Schrecken ein. Meistens wurde aber unser »Luxus« einer bescheidenen Kindheit durch zwei geteilt. Es reichte völlig aus, einen Hocker umgekehrt aufzustellen, die Beine mit Großmutters Kopftuch zu bedecken: Und schon schauten daraus die beiden Kinderköpfe; sofort kamen von irgendwo eine prächtigen Zarentochter und ein tapferer Prinz auf dem Pferd und damit der ganze Zauber des geliebten Märchens. Nadijka erfuhr in ihrer frühen Kindheit einen schweren Schicksalsschlag. Die Ärzte stellten eine schreckliche Krankheit fest, die in unserer Region ziemlich häufig war: Skoliose (Rückgratverkrümmung). Die Eltern verkauften das Fundament des Hauses, das sie gerade bauten, und Mama nahm Nadijka mit nach Kyjiw, wo sie eine Physiotherapie erhielt. Als die Krankheit sehr rasch fortschritt, vermuteten wir, dass sich die Ärzte in ihrer Einschätzung geirrt hatten. Die Rückgratverkrümmung nahm bereits in kurzer Zeit die letzte bzw. die dritte Stufe an. So zog über Nadijkas Jugend eine dunkle Wolke der Verzweiflung und Hoffnungslosig-keit auf. Andere Frauen wären an ihrer Stelle längst zerbrochen, doch bei Nadijka gewann die Lebensfreude die Oberhand. Es ist einfach nur erstaunlich, wie sie nach diesem Schlag zur Seele der Schüler-, Studenten- und später der Lehrerschaft werden konnte.

Nadijka hat auch mein philosophisches Credo programmiert. Einmal teilte sie mit ihrem kleinen Bruder ihre philosophische Entdeckung, dass Konzept der »goldenen Mitte«. Das prägte sich sofort in mir als Mechanismus des »Imprinting« ein: Von da an und bis heute fixiere ich zunächst in allem die entgegengesetzten Seiten, um die »goldene Mitte« zu finden.

 

Studienreisen durch die Ukraine waren damals für mich wichtige Ereignisse. Während einer solchen Reise lernte ich meine zukünftige Frau Ljuba kennen. Im Bus und an den Haltestellen unterwegs sprachen Mykola und ich dann mit den anderen uns unbekannten Teilnehmern der Reise und scherzten mit den Mädchen. Mit mehreren von ihnen schlossen wir nähere Bekanntschaft und Freundschaft, so besonders mit der Korrektorin des Verlages »Hochschule«, Ljuba Heina. Wir luden sie ein, sich unserer »umherziehenden« Bande anzuschließen, die wir gerade organisierten. Ljuba schloss sich uns dann auch an, wir beide ahnten aber nicht, dass der Himmel damals bereits begonnen hatte, unsere Schicksale zu verweben.

 

Für Nadijka kam es nicht in Frage, ihren Bruder nach seiner Verhaftung zu verleugnen oder zu verurteilen. Das sagte sie den Mitarbeitern des KGB gleich zu Beginn. Umsichtig und gleichzeitig kühn hielt sie die Verbindung mit anderen Dissidenten und deren Angehörigen aufrecht und überstand die erniedrigenden »Spießrutengänge« der Leibesvisitationen (vollständige Entkleidung), als sie und meine Mutter mich im Lager im Kutschyno (Region Tschusowoj, Oblast Perm) besuchten. Im Blick auf mich entschlüpfte ihr nie ein vorwurfsvolles oder beleidigendes Wort. Ganz im Gegenteil, ihre Liebe, Zärtlichkeit und Güte schien noch hundertfach zu wachsen. Außerdem wiederholte sie beständig ihr Mantra: »Alles wird gut!«

Sehr rasch begriff ich in der Haft: Die zuverlässigsten Säulen meines Universums sind meine Mutter und meine Schwester Nadijka. Sie beide legten das Fundament meines Charakters und meiner weltanschaulichen Einstellung. Das Wichtigste dabei war, was ich zu Beginn meines ersten Essays »Das Evangelium eines Narren in Christo« im Lager schrieb: »Meine Mutter und Schwester Nadijka gewidmet, von denen ich zum ersten Mal die Wissenschaft der Liebe ergründen konnte.«

 

In diesen Tagen geschah noch etwas, was ein Wiedersehen mit meiner Mutter ermöglichte: Mein Vater verstarb am 4. April 1978 plötzlich an einer Herzattacke. (Ich erinnere daran: Er war damals von meiner Mutter geschieden und die beiden wohnten getrennt.) Es war zu erwarten, dass ich zur Beerdigung nicht zugelassen würde. Ich wurde nicht einmal über seinem Tod informiert. Kurz danach erreichte meine Mutter ein Wiedersehen mit mir. Es geschah im Kabinett des Leiters und er fragte, wie ich diese Nachricht aufnehme. Ich entsinne mich, dass ich sagte: »Möge er bei Gott ruhen. Ich behalte von nun an das Schlechte nicht mehr, dass er uns antat.«

 

Zum Glück konnten Verwandte anderer Häftlinge an jene Pakete senden, die aus verschiedenen Gründen keine Pakete bekamen. So gelang es z. B. meiner Mutter einmal, Mykola Rudenko eine Wärmflasche zu senden und in den letzten Jahren meiner Haft schickte sie Lebensmittelpakete und Päckchen an Oleksandr Sashirnjak, der in der gleichen Baracke wie ich lebte. Sascha und ich waren sehr freundschaftlich zueinander; oft kämpften wir gemeinsam, maßen unsere Kräfte aneinander und nach seiner Freilassung wurde ich sogar Pate seines Sohnes Myroslaw. Bei der Vorbereitung dieser Erinnerung schrieb ich ihm einen Brief mit der Bitte, mir ein Foto zu schicken, aber es stellte sich heraus, dass er bereits im Jenseits war …

 

Für eventuelle außergewöhnliche und kurze Mitteilungen hatte ich mit meiner Mutter einen Geheimcode vereinbart. Doch meistens sind meine Nachrichten gut aus meinen Anspielungen und vorsichtigen Erläuterungen zu finden. So konnte etwa der Satz »starker Wunsch, die Figur zu wahren« den Aufenthalt im Karzer tarnen. Mit meiner Erwähnung, dass ich unendliche Träume von Essen in kleinen Portionen teile, versuchte ich, ihr zu verstehen zu geben, dass ich zu diesem Zeitpunkt im Hungerstreik war.

 

Zum Glück hatte ich, nachdem ich im Sommer 1978 ins Lager kam, noch nicht genügend Strafpunkte. Deshalb wurde mir in demselben Jahr am 16. August trotzdem ein erstes persönliches Wiedersehen mit Mutter und Schwester Nadijka gewährt. Es war aber nur ein Tag von drei möglichen Tagen, da ich bereits damals eine Neigung zum Verstoß gegen das Regime zeigte. Die Aufseherin, die vor dem Wiedersehen meine Verwandten durchsuchte, sagte ihnen wörtlich: »Er ist doch ein so guter Junge und doch ist er ein Verbrecher!« Diese einzigartige Charakterisierung ist eine meiner liebsten.

Während der Visitation mussten meine Verwandten alle typischen Erniedrigungen durchstehen: sich völlig nackt ausziehen, kleinliches Umstülpen jeder Naht der Kleidung, gründliche Kontrolle der mitgebrachten Lebensmittel. Besonders erniedrigend war die Prozedur für Nadijka, da bedingt durch ihre Skoliose ihr Rückgrat verkrümmt war. Dies offen zu zeigen war sogar für eine Frau ein großes Trauma. Sie ertrugen das aber alles, um mich zu treffen.

 

Von einem meiner Kurzbesuche bewahrte ich eine sehr wertvolle Erinnerung. Meine Mutter brachte mir eine gelbe Wyschywanka mit Kragen (ein gesticktes Hemd), die sie für mich bestellt hatte. Genau davon träumte ich zuvor im Lager. In der Zone überwog der graue Farbton: Sogar im Sommer, wenn das Grün üppig wuchs, bekamen wir keine Farben von Blumen zu sehen. Deshalb explodierte vor meinen Augen buchstäblich die warme Farbe der Stickerei auf gelben Untergrund und erzeugte in mir ein unwahrscheinlich freudiges Spektrum an Gefühlen. Begeistert betrachtete ich die Stickerei und lehnte es kategorisch ab, dass meine Mutter sie weglegte. So schaute ich einmal zu meiner Mutter, dann wieder zur Stickerei bis zum Ende unseres Wiedersehens.

Postkarte an Mutter zum 55. Geburtstag, 22. November 1979: Sei nicht über dein Schicksal betrübt, meine liebe Mutter. Die Samen deiner Güte und Liebe werden nicht auf dem endlosen Feld vom Winde weggeblasen. Sie werden durch unerwartete Umarmungen zu uns zurückkehren, werden sich durch dieses glückliche Feuer entzünden und uns beide wärmen. Wen Gott durch seine Liebe segnet, dessen Leben auf dieser Welt ist manchmal auch schwer: Das ist die bittere Wahrheit. Aber ich glaube fest, Mama, dir wurde beschieden, nicht auch noch den bitteren Kelch zu trinken. Noch spüre ich bei mir gut dein Gebet! Ich küsse dich herzlich.

 

Alle diese Bekanntschaften verblassten aber, wenn meine Liebsten, meine Mutter und meine Schwester Nadijka, bei ihrem »unreifen Früchtchen« waren. Meine Mutter kam bereits am 25. Juni ein erstes Mal zu mir, allein und für einen ganzen Monat, obwohl es eigentlich gemeinsam mit Nadijka geplant gewesen war. Doch mein Schwesterlein wurde krank und hatte immer Fieber, weshalb es für die beiden klar war, dass es unvernünftig sein würde, ihre Gesundheit für mich zu riskieren und in unsichere Umstände zu kommen. So tauchte dann nur meine Mutter in meiner Bude auf und nahm sich mit echter mütterlicher Fürsorge der Einrichtung meines Alltags an.

 

In diesem Sommer war die Hitze unerträglich. Im Sowchos traf sogar eine Warnung per Telegraf ein, im Verlaufe einer Woche müsste man eine Temperatur von +50 °C erwarten. Bis heute sehe ich das rot angelaufene Gesicht meiner Mutter vor mir, die munter das Wasser vom Brunnen, der dreihundert Meter entfernt war, zu mir trägt, oder wie sie die Fliegen und Mücken von ihrem Sohn verscheucht, nachdem ich nach einem schweren Arbeitstag wunderbar gegessen hatte und mich anschließend auf mein Bett fallen ließ, um ein kleines Nickerchen zu machen.

Meine Mutter und Nadijka teilten natürlich meine Freude, in meinem eigenen Häuschen zu wohnen und halfen mir, so gut sie es konnten. Nadijka unterstützte mich jeweils mit Geld und Paketen, meine Mutter sah es als ihre Aufgabe an, zwischen der Ukraine und Saralshyn hin- und her zu pendeln und mir behilflich zu sein. Sie war es auch, die mir einen eigenhändig gestickten Kelim (Teppich), die nötigsten Haushalts- und Küchengegenstände, einen künstlichen Weihnachtsbaum, ein Akkordeon und gegen Ende meiner Verbannung, auch einen Fotoapparat und Zubehörteile für die Fotografie brachte. Das Wichtigste aber, was sie taten, war: dass sie jedes Jahr mein Häuschen durch ihre Anwesenheit heiligten.

Zum ersten Mal gemeinsam kamen sie im September 1984. Nadijka hatte immer noch Fieber, wagte es aber trotzdem, zu mir zu fahren. Sie sehnte sich sehr, mich endlich wiederzusehen. Die nächsten Jahre waren sie für eine längere Zeit bei mir, jeweils während der Sommerschulferien. Sie beide waren es auch, die die anfängliche Skepsis oder sogar unfreundliches Verhalten der Behörden mir gegenüber vollständig überwinden konnten. In den ersten Wochen wurde ich als ein besonders gefährlicher Staatsverbrecher wahrgenommen, der von der Miliz zum Ärger der Leute hierhergebracht wurde. Als dann meine Mutter und Nadijka kamen, war ich im Dorf bereits eine Person, die von zwei hübschen ukrainischen Mädels unendlich geliebt wurde. Wenn sich eine Mutter und eine Schwester so sehr und selbstlos um mich kümmerten, konnte ich unmöglich ein völliger Abschaum sein ohne eine Familie und zugehörige Sippe. Meine beiden Verwandten gaben mir durch ihr aufopferndes Verhalten in den Augen der Bevölkerung von Saralshyn eine menschlichere Dimension.

 

Meine Inhaftierung dauerte sieben Jahre, zusammen mit der Verbannung waren es zehn Jahre. Ich wurde im Alter von 28 Jahren verhaftet und kehrte als 38-Jähriger in die Ukraine zurück. Erst im Jahr zuvor heirateten Ljuba Heina und ich, im letzten Jahr der Verbannung, als sie zu mir kam, um mit mir mein Leben in Kasachstan zu teilen; d. h., der längst schon erwachsene Mann lebte sechs Jahre allein.

 

Ich wusste bereits zuvor von Ljubas Plan, zu mir zu kommen, und bereitete mich entsprechend gründlich vor. Ich deckte den Tisch mit einem besonders vorzüglichen Abendessen. Als der letzte Bus aus Aktjubynsk gekommen war, war aber Ljuba nicht dabei. Was sollte ich nun tun? Und was hieß das alles? Irgendetwas musste geschehen sein. Ganz deprimiert ging ich nach Hause und überlegte mir, was ich mit all den Lebensmitteln machen sollte, die auf dem Tisch standen. Selbst schaffte ich es nicht. In diesem Moment traf ich gerade zwei junge bekannte Kasachinnen. Ich nahm sie dann mit mir, um gemeinsam das Essen zu bewältigen. Ich überredete sie mit großer Mühe. Wir saßen dann zu dritt am Tisch und unterhielten uns – und da klopfte es plötzlich an der Tür. Ich öffnete: Und im Halbdunkel stand Ljuba. Wie sich herausstellte, dachte sie nicht an den Zeitunterschied und verspätete sich in Aktjubynsk zum Bus. Sie gelangte schließlich per Anhalter ins Dorf. Die Jungs brachten sie dann zu mir.

 

Und dann war der Flughafen in Shuljany, von dem aus ich nach Charkiw und weiter nach Aktjubynsk fliegen sollte. (Zuerst trafen wir uns noch mit mehr als ein Dutzend meiner Freunde aus Kyjiw, um zwei Uhr nachts auf dem Kyjiwer Bahnhof. Sie begleiteten mich anschließend zum Flughafen.) Dort bereitete ich meinen Freunden einen besonderen Empfang: Ich »führte« jeden einzelnen allein mit mir aus und besprach mit ihnen das Erlittene und Schmerzliche. Als ich mit Ljuba am Shuljanyer Platz spazieren ging, machte ich ihr einen Heiratsantrag. Ich schlug ihr dann vor, ihr Schicksal mit dem eines sehr ungewissen Schicksal eines politischen Verbannten zu verbinden. Dies war die Frucht meiner langwierigen Überlegungen nach ihrem Besuch bei mir in der Verbannung in Saralshyn. Ljuba war, ohne zu zögern, sofort einverstanden. Und ich empfand Dankbarkeit für sie und hohen Respekt für ihren Mut, der die Tradition der Frauen der Dekabristen wiederbelebt, durch die sich viele Ehefrauen unserer ukrainischen politischen Häftlinge besonders auszeichneten. Wir waren uns auch sofort über die nächsten Pläne einig: ihr Einzug bei mir – und dann flog ich weg.

 

Ich wusste schon, dass Ljuba auf Zigarettenqualm allergisch reagiert und ihn nicht verträgt. So beschloss ich, mit dem Rauchen ganz aufzuhören. Der Stimulus war so stark, dass ich es wirklich schaffte, mit dieser schädlichen Angewohnheit aufzuhören, im Unterschied zu drei misslungenen Versuchen im Lager, und bis heute rauche ich nicht mehr.

 

Bald im Mai besuchten wir sie im Dorf Pidlisne (Rayon Nowoodesky, Oblast Mykolajw), wo ich Ljubas Familie und Freunde kennenlernte, ebenso auch Walerij, den Bruder von Ljuba, seine damalige Frau Alla und ihren älteren Sohn Andrij. Leider kann ich mich heute nur noch an einen ganz bestimmten Moment während dieses Besuches erinnern. Ich riss mich richtig darum, meiner Schwiegermutter zu helfen, obwohl ich mich als Stadtkind für die Landarbeit nicht sehr eignete. Mama Nina übertrug mir die Aufgabe, die Butter zu schlagen. Ich begann dann tapfer, die Buttermaschine zu drehen, aber nach fünf Minuten waren die Muskeln meiner rechten Hand schon völlig erledigt. Dann wechselte ich mit der Kurbel in die linke Hand: doch da erlahmten meine Muskeln noch schneller. Als Mama Nina gerade aus dem Haus ging, sah sie, wie ich völlig verzweifelt dastand und in die Buttermaschine starrte. Sie begriff sofort und entledigte ihren Schwiegersohn seiner Blamage … Ich konnte mich danach etwas auf dem Feld revanchieren, als wir gemeinsam mit Ljubas ganzer Familie die Rüben ernteten.

  

Es ist auch unglaublich, was Myroslaw nach seiner Rückkehr und der Unabhängigkeit der Ukraine alles anstossen konnte: Er war bei der Neugründung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche dabei, die Stalin verboten hatte; er gründete die Landesgruppe von Amnesty-International (als Dank für die Unterstützung, die er und andere Gefangenen durch Briefe ins Lager erhalten hatte), er war Präsident der P.E.N. in der Ukraine, der Mitbegründer und heutigee Vizerektor der Ukrainisch-Katholischen Universität, der Initiant und Mitbegründer des Ökumenischen Informationsdienstes der Kirchen in der Ukraine (RISU), Hauptverantwortlicher bei der Organisation des Papstbesuches von Johannes Paul II. in Lwiw, weltweit gefragter Referent, Verfasser von Texten über die Situation in der Ukraine in zahlreichen Medien, so etwa bei der ZEIT, Interviewpartner etc.. Ich frage mich manchmal, wie er das alles schafft. Im Frühling schrieb er mir, dass er länger nicht auf eine Mail von mir geantwortet hätte wegen einem Herzinfarkt. Er wurde aber gut behandelt, Stents wurden ihm gesetzt.

 

Das Buch beginnt mit der Geschichte der typisch galizischen Familie von Marynowytsch, seiner Kindheit und Jugend. Schon früh verfolgte er aufmerksam die Realität des ukranisch-sowjetischen Systems mit seiner Kontrolle über die Bevölkerung und seiner Verlogenheit. Im Studium beginnt er sich zum Dissidenten zu entwickeln und wird zunehmend vom KGB überwacht. Später vernetzt er sich mit anderen gleichgesinnten Leuten und wird schliesslich einer der Gründungsmitglieder der legalen Ukrainischen Menschenrechtsgruppe zur Wahrung der Menschenrechte. Dennoch wird er verhaftet und während einem Jahr Untersuchungshaft intensiv verhört. Die Gerichtsverhandlung ist ein «Scheinprozess», an dem das Urteil bereits zuvor feststeht. Es handelt sich schliesslich um 7 Jahre Straflager für «Besonders Gefährliche» in der Region Perm, und 5 Jahre Verbannung in Kasachstan. In der Haft erlebt er völlig unerwartet eine «Epiphanie» (Gottesbegegnung), die ihn weiter begleitet und sich später ergänzt.

 

Der Autor schildert den Prozess der Überweisung ins Lager das Leben in Perm-36: das Begrüssungsritual der Kameraden, die verschiedenen Mitgefangenen, das Klima, die Ernährung und die Medizin im Lager, die Besuche der Mutter und Schwester, das Strafsystem, die Verfassung von kleinen Notizen über das Geschehen im Lager, die in die freie Welt geschmuggelt werden, und ebenso das nationale und religiöse Leben.

 

Anschliessend folgt seine Überweisung in ein Dorf in der Einöde von Kasachstan, wo er zunächst misstrauisch empfanden wird, sich eine Wohnung einrichten kann, in einer Schreinerei arbeitet und zunehmend den Kontakt zur Bevölkerung und sogar Freundschaft findet, erneut die  Schwierigkeiten der medizinischen Versorgung, die Besuche seiner Mutter und Schwester und schliesslich später auch seiner Freundin Ljuba Heina, der er am Ende des einzigen Urlaubs einen Heiratsantrag macht, und die danach zu ihm zieht.

 

Überraschend kommt er nach einer Amnestie durch Gorbatschow in seine Heimat zurück. Das Paar heiratet festlich, richtet sich ihre Wohnung ein und findet den Anschluss an die bald freie ukrainische Gesellschaft.

 

Im letzten Teil schreibt er von der Entwicklung der Ukraine in ihrer Unabhängigkeit bis in die Gegenwart, die Werte und den Beitrag des Dissidententums zur Entwicklung des Landes, stellt schliesslich den Kommunismus auf die Anklagebank und fällt sein Urteil im Angesicht des gegenwärtigen Krieges und  formuliert wegweisende Gedanken zu den Voraussetzungen einer echten Zukunft der Ukraine und Russlands.

 

Am Beginn des Buches befindet sich eine längere Einführung des weltweit bekannten Osteuropa-Historikers Timothy Snyder für den westlichen Leser und am Ende ein Nachwort aus meiner Hand, der meinen persönlichen Bezug zu Osteuropa und die Geschichte, wie es zur deutschen Veröffentlichung kam, aufzeigt.

 

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 Bild: Aus Facebook bei Mikhailo Heina

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