Die Zeit lebt in Erinnerungen auf

Die Zeit lebt in Erinnerungen auf

Bohdan Pastukh

zbruc.eu

 

Eine Buchbesprechung zu Myroslaw Marynowytsch: „Das Universum hinter dem Stacheldraht - Memoiren und Reflexionen eines Dissidenten“

Lwiw UCU Publishing House - 2016

 

"Iwan, du hast viele Bücher mit deinen Memoiren geschrieben: Du hast dich an deine Kindheit im Haus deiner Eltern erinnert, an deine Jugend in der Schule und im Institut, und deine zahlreichen Begegnungen mit verschiedenen Menschen. Du hast über alles im Detail geschrieben, aber gibt es einen einzigen Leser alles so lesen wird, wie du es geschrieben hast?"

  

Dieses Fragment eines Textes von Vasyl Holoborodko, das vor nicht allzu langer Zeit (2014) geschrieben wurde, umreißt einen sehr wichtigen Punkt, wenn es darum geht, Memoiren und im weiteren Sinne auch die Arbeit von Dissidenten zu verstehen. Dieser Text fängt das Bild von Iwan Switlychnji ein. Wir sprechen hier in erster Linie über die empirische Erfahrung, die die Grundlage für das Schreiben von Memoiren bildet, über das, was er in den Zeiten der Lagerverfolgung erlebt und gefühlt hat, über die Freude und den Luxus des freien Denkens, der der heutigen ("jungfräulichen") Generation in seinem spezifischen Teil fast unbekannt ist. Konformisten sprechen oft von "zwei sowjetischen Zonen" - einer kleinen, die von Stacheldraht umgeben war, und einer großen, die quer durch das Land verlief. Man hört, dass es in der großen Zone schwieriger war.

 

Doch hier begegnen uns Erinnerungen, die diese unzureichende These, die an sich schon die Grenzen einer scharfen Geschichtswahrnehmung verwischt, vollständig widerlegen: Raisa Moroz „Gegen den Wind“, Vasyl Lisovyis Memoiren, Svitlana Kyrychenkos „Menschen ohne Angst“, Mykola Rudenkos „Das größte Wunder ist das Leben“, Bohdan Sorokas Memoiren, Bohdan Horyns „Nicht nur über mich selbst“ und schließlich Myroslaw Marynovychs „Das Universum hinter dem Stacheldraht“.

 

Diese Bücher geben ein klares Bild von der trügerischen Natur dieser These und enthüllen ihren fälschlich rechtfertigenden Charakter. Man könnte das einfach ignorieren, aber wenn Dmytro Pawlitschko bei einer Versammlung von Studenten der Lemberger Universität als Kämpfer gegen "Kolonisierung und Vergemeinschaftung" vorgestellt wird, wird einem klar, dass die "Zwei-Zonen"-These auf diese Weise funktioniert.

 

 Die Geschichte der "zwei Zonen" hindert, dass wir diese Zeit wirklich verstehen. Vielleicht ist das der Grund, warum diese Zeit in der Literatur am wenigsten verstanden wird: Uns fehlt ein ehrlicher Blick auf die komplexen Dinge, über die die zeitgenössischen Schriftsteller (mit Ausnahme einiger weniger Autoren wie Yevhenia Kononenko, Oksana Sabuschko, Leonid Kononovych, Stepan Protsiuk und Vasyl Ruban) hartnäckig schweigen. Wenn Pawlitschko gegen die Kolonisierung und Kommunisierung gekämpft hat, was haben dann Vasyl Ovsiienko, Jurij Badzi, Valentyn Moroz, Mykola Rudenko und andere getan? Ist das nicht eine Fortsetzung des Verbrechens des Systems, das sich in der unabhängigen Ukraine reproduziert hat - wenn alles in ein Substrat gemischt wird, das der Gesellschaft zugeführt wird?

 

Vasyl Holoborodko zeigt in seinem Gedicht, mit dem ich begonnen habe, den schwierigen Prozess des Einstiegs in das Verständnis von Dissidententexten. Genauer gesagt zeigt er das Problem der Empathie beim Lesen auf, die sich auch im Prozess der Entwicklung dazu bildet und uns ein Verständnis für die Atmosphäre der damaligen Zeit vermittelt.

Und trotz der Gefahr, etwas sehr Wichtiges in Myroslaw Marynowytschs Memoiren zu übersehen, ist es sinnvoll, dieses Buch vor allem durch das Prisma der Originalität seines Autors zu betrachten, der den Lesern sein eigenes Universum präsentiert.

 

Das Buch beginnt mit einem Gespräch über die Familie, über die komplexen Episoden der Familiengeschichten, die das Bewusstsein des Jungen auf die eine oder andere Weise geprägt haben. Familiengeschichten sind immer prägend, immer innerlich abschließend, und so ist es auch hier. Das Wissen um die starken Emotionen in den Überzeugungen der Männer, die in der Familienkette vor dem Autor kamen, konnte ihn nur direkt betreffen. Dieses unsichtbare Gesetz der inneren Vererbung zieht sich durch das ganze Buch. Hier einige kurze Worte aus dem letzten Brief seines Onkels Anton Marynovtsych aus dem Gefängnis: "Ich hätte nie gedacht, dass Menschen solche Bestien sein können", bilden die Hintergrundgeschichte des Protagonisten, der versteht, dass hinter dieser kurzen Aussage eine unglaubliche Verzweiflung steckt.

 

Ein weiteres gemeinsames Merkmal, das sich durch das gesamte Buch zieht, ist die Offenheit. Und das gilt nicht nur die Beschreibungen über das schwierige Lagerleben, wo die Menschen bei Konfrontationen mit der Verwaltung manchmal zu unglaublichen Aktionen (Transport von Kapseln mit Texten) gegriffen haben. Auch die Erinnerungen an das Familienleben und die schwierige Beziehung zu seinem Vater sind von Offenheit durchdrungen. All das wird stilistisch so präsentiert, dass es sich wie eine literarische Geschichte mit einer tiefen psychologischen Selbsterkundung liest. Das kollektive Bild der Familie, insbesondere der Mutter und der Schwester Nadija, bildet ein ausdrucksstarkes Modell, innerhalb dessen der Autor der Memoiren existiert. Diese beiden zeigen eine ihre Treue und Unerschütterlichkeit: "Als die Nachricht aus dem Lager kam, dass ich im Hungerstreik war, trat auch Mama in den Hungerstreik. Nicht aus politischen Gründen, sondern einfach, weil sie psychisch nicht in der Lage war, zu essen. Sie erzählte mir später: ‚Beim Gedanken, dass du hungerst, blieb mir das Essen wie ein Kloss im Hals stecken.‘ Zur gleichen Zeit dachte meine Mutter an einen erstaunlichen Generationen-Staffellauf, denn ihre Mutter, Maria Marynowytsch (aus der Familie Mentsynska), legte sich absichtlich auf den Zementboden, um sich vorzustellen, was ihr ältester Sohn Antin, der in eine NKWD-Gefängniszelle geworfen wurde, fühlte."

 

So nähert sich der Autor aus den Geschichten seiner Kindheit, Jugend und Schulzeit allmählich seinem eigenen "Point of no return", der schließlich sein Denken veränderte. Wenn wir über die Geschichte von Myroslaw Marynovytschs Entwicklung zum Dissidenten im Vergleich zu den den Memoiren anderer Dissidenten sprechen, können wir deutlich erkennen, dass die Schicksale dieser Menschen absolut typisch in den damaligen sozialen Bedingungen begannen. Das gilt für Vasyl Stus, einen Doktoranden am Literaturinstitut, Mykola Rudenko, einen hochrangigen Literaturfunktionär, und Valentyn Moroz, einen Geschichtslehrer; die Liste ließe sich fortsetzen, und sie alle waren typische soziale Produkte ihrer Zeit, genau wie Myroslaw Marynowytsch.

 

Doch irgendwann verspürte jeder von ihnen das Bedürfnis nach innerer Wahrhaftigkeit, das sich in einer ehrlichen, unverfälschten Sprache manifestierte. Dieser Hauch von Freiheit durchbrach sofort die bisherigen Denkschemata und verwandelte diese stabile Welt in eine neue, aus der es unmöglich war, sie zu verlassen, so luxuriös und frei war sie im Vergleich zur üblichen Verlogenheit. In seinen Kolyma-Geschichten bezeichnet Varlam Shalamow diese Haltung als einen Virus, der nicht geheilt werden kann. Myroslaw Marynowytch erlebte  einen ähnlichen Moment, als er Mykola Matusewytsch traf. Später würden beide die Schwelle überschreiten, jenseits derer ihr neues Leben beginnen würde, und es war für sie unmöglich und vor allem auch nicht ihr Wunsch, in das vorherige zurückzukehren. Diese sehr klare, fast kindliche Sicht auf die Welt wird in eiem Brief des Autors an seine Schwester deutlich, und ich kann nicht widerstehen, ihn hier zu zitieren: "Nadescha, glaubst du wirklich, dass wir mit den Jahren weniger romantisch und naiv werden? Nun, im Gegenteil, ich glaube, dass weder Menschen noch Ereignisse irgendetwas aus uns herausschlagen können, außer vielleicht, dass sie uns lehren, unsere Wunden besser zu verstecken. Und für alle Schätze dieser Welt werde ich weder unseren klaren Blick auf die Menschen ändern, noch werde ich die Reinheit und den Luxus des Vertrauens in sie für eine rostige ‚Reife‘ und ‚Härte" verkaufen. Denn wie auch immer der Name dieses Widerstands gegen das Leben lautet, er war immer und wird immer nur Gleichgültigkeit sein." Dieser Brief wurde 1979 geschrieben, und das Buch „as Universum hinter dem Stacheldraht“ wurde 2016 veröffentlicht - der Autor hat seine Sicht auf die Menschen nicht wirklich geändert.

 

Ich werde mich hier nicht nöher mit den Prüfungen befassen, die für Menschen dieser Art typisch sind - die "Annäherungsversuche" des KGB, Versprechungen von materiellem Komfort, ein Aufbaustudium im Tausch gegen den Agentenstatus, die Weigerung zu "petzen", die Entlassung von der Arbeit, finanzielle Not und all die anderen komplexen, schrecklichen, endlosen Dinge, die einen jungen Menschen lähmen können, weil sie von allen Seiten auf ihn zukommen. Aber auch wenn das Buch in der Gegenwart geschrieben wurde, strahlt es einen so lebendigen, ungezügelten Geist aus, dass diese Probleme des Lebens in den Hintergrund treten. Nicht sie bestimmen die Weise des Lebens von Myroslaw Marynowytsch.

 

Und hier müssen wir innehalten und über eine sehr wichtige Eigenschaft des Autors sprechen, die auch bei anderen politischen Gefangenen zu finden ist (aber hier ist sie definitiv charakteristisch) - die Abwesenheit von Zorn gegenüber Menschen, die mit gesenktem Kopf innerhalb des Systems gehandelt haben. Diese Freundlichkeit trägt auf seltsame Weise zur Klarheit der Sicht und damit zum Denken bei. Ein solcher Zustand erfordert natürlich eine Menge innerer Arbeit: innerhalb der goldenen Mitte zu bleiben.

 

 Es sollte auch gesagt werden, dass der Autor gut darin ist, psychologische Porträts von Menschen zu erstellen. Er greift auf wortgewandte Details zurück, öffnet den Leser für Spekulationen und bringt so ein starkes künstlerisches Element in diese Memoiren. Besonders hervorheben möchte ich das stoische Bild von Oksana Yakovlewna Meshko (wie Svwtlana Kyrychenko es auch darstellt); die Episode ihrer zufälligen Begegnung mit ihrem Richter auf einer Kyjiewer Straße ist besonders einprägsam. In wenigen Sätzen offenbart Myroslaw Marynowytsch auch die Menschenkenntnis von Alla Horska, die in der Lage war, die Zustände von Menschen zu spüren, die sie nicht kannte. Außerdem beschreibt der Autor diese Fähigkeit nicht nur, sondern präsentiert sie in einer Mikrogeschichte, die den Leser viel tiefer anspricht.

 

Ich habe zuvor mit Erschütterung die erste Ausgabe von Mykola Rudenkos Memoiren gelesen, in denen die Geschichte der Helsinki-Gruppe aus erster Hand von einem Mann aus der Region Luhansk erzählt wird. Das Auffälligste an all diesen Geschichten ist, dass die Mitglieder der Gruppe, wenn sie jemanden einluden, der Gruppe beizutreten, wussten (ebenso wie die Eingeladenen), dass ihr Leben in der Freiheit bald enden würde. Der Beitritt zur Gruppe war gleichbedeutend mit einer Verhaftung und später mit einer langen Haftstrafe, die sämtliche Mitglieder dieser Gruppe erhielten, und sogar der schwersten Strafe - der Zwangsbehandlung als Geisteskranker, der sich Grigorenko unterziehen musste. Ich will damit sagen, dass Myroslaw Marynowtsch in seinen jungen Jahren klar war, was seine Teilnahme an der Gruppe zur Folge hatte. Und als Lewko Lukjanenko ihn fragte, ob er seine Freiheit opfern könne, zögerte er nicht.

 

Dieses Buch beschreibt detailliert die Struktur der Gruppe, ihre Funktionsweise und spannende Momente der Betrachtung von Lebenssituationen und Menschen. Besonders beeindruckt hat mich der Moment, als die jungen Mitglieder von ihren eigenen Leuten zu KGB-Agenten erklärt wurden. Man kann sich nur vorstellen, wie schwierig damit ihr Leben emotional wurde. Das erinnert mich an das Zitat von Holoborodkov: "Aber wird es einen einzigen Leser geben, der alles so lesen wird, wie du es geschrieben hast?"

 

 Die Geschichten über den Auftritt auf der Bühne im Theater, über das Leben in der Zone, den Beziehungen zwischen den Gefangenen, die Konflikte mit der Verwaltung, die Strafzellen, die Einzelhaft, die zwanzigtägigen Hungerstreiks, die eine echte Demonstration der Bereitschaft zu sterben waren... Hier möchte ich an den erstaunlichen Film "Hanger" von Steve McQueen über den tödlichen Hungerstreik der IRA-Kämpfer 1981 in Irland im Belfaster Gefängnis "Maze" erinnern. Das Buch ist einfach durchdrungen von Themen, die du nirgendwo anders lesen kannst. Außerdem hat jede Lebenssituation, die der Autor schildert, immer eine Seite, die sich aus dem eigenen Leben verstehen lässt - es ist nicht uns betreffende Geschichte. Ich hatte zuvor einmal die Memoiren eines jüdischen politischen Gefangenen, Ihor Huberman, mit dem Titel „Spaziergänge um die Baracken“ in die Hand genommen. Ich las es und verstand nicht sofort, warum ein politischer Gefangener (Huberman veröffentlichte Untergrundliteratur über Juden in der Sowjetunion) in seinen Geschichten so fasziniert vom Leben der Diebe war und auch deren Verbrechen draußen detailliert beschrieb. Es liegt ein gewisser Hauch von Selbstbestätigung und Bewunderung in seiner Erzählung, wenn er sich im selben Kreis wie die Diebe bewegt. Das ist Varlam Shalamow völlig fremd, ebenso wie Myroslaw Marynowtsch - obwohl er verschiedene Situationen mit Gewaltverbrechern beschreibt und man dabei seine ständige ethische Anspannung spüren kann. Sie prägt oft die Art und Weise, wie er schreibt: wenn der Autor Momente komplexer Beziehungen zwischen Gefangenen und der Verwaltung schildert, ohne jemals in laute Verurteilung und Selbstverteidigung zu verfallen.

 

Auch die Geschichten, die dem Autor nach seinem Exil, in den Jahren der Unabhängigkeit, widerfahren sind, sind hier interessant und wortgewaltig. Bei der Verteidigung der Dissertation von Oles Obertas (dessen Monografie über den ukrainischen Samisdat übrigens sehr interessant ist) am Taras-Schewtschenko-Literaturinstitut trifft Marynowtsch auf eine Person, die 1978 als Teil einer Delegation die Gefangenen besuchte, um sie zur Umkehr und zum Glück zu bewegen. Diese Person, Vitaliy Dontschuk, war jetzt der Leiter eben jener Arbeit über den ukrainischen Samisdat, für die die Gefangenen oft leiden mussten.

 

Im Allgemeinen kann das Buch gut in Zitate zerlegt werden. Sie sind so lebensbejahend, aufschlussreich und von einem Mann geschrieben, dessen Erzählung einen sehr lebendigen, ständig suchenden Geist offenbart. Hier findest du nicht das Mentoring eines alten politischen Gefangenen. Stattdessen wirst du ständige Herausforderungen an dich selbst, Zweifel, Erkenntnis, Gefühlsbewegung und das Spiel deiner Gedanken erleben. Und natürlich den Stil, der die inneren Landschaften des Autors zum Ausdruck bringt. Marynowtsch hält die Spannung von Zweifel und Streben in sich selbst aus, was sich auf den Leser überträgt: "Ein Mensch ist nie die ganze Zeit gleich stark. Im Gegenteil, auf Höhen folgen Tiefen und manchmal sogar Stürze, und es ist wichtig, sich im Moment des schmerzhaften Zusammenbruchs nicht zu sagen: ‚Das war's, ich bin verloren - ich werde nie wieder aufstehen.‘ Eine unsichtbare, aber rettende Hand ist immer für dich da..." Und das dornige und feindselige Universum wird interessant, öffnet sich uns unter dem durchdringenden, freundlichen Blick des Autors.

 

28.10.2016

 

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Übersetzt mit DeeplTranslator, bearbeitet von Max Hartmann. Hervorhebungen durch Max Hartmann.

  

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