Krieg gegen die Ukraine: Gebt meinem Land eine Perspektive!
Westliche Beobachter empfehlen uns Ukrainern vieles, um Russland entgegenzukommen. Aber worauf sollte das Vertrauen gründen, dass Russland sich diesmal an Abkommen hält?
Ein Gastbeitrag von Myroslaw Marynowytsch
Die ZEIT
Abdruck mit freundlicher Zustimmung des Autors an Max Hartmann
17. März 2022, 18:52 Uhr
MYROSLAW MARYNOWYTSCH
hat 1976 die Menschenrechtsorganisation Helsinki-Gruppe Ukraine mitgegründet, ist ebenso Mitgründer der ukrainischen Sektion von Amnesty International und war von 2010 bis 2014 Präsident des ukrainischen PEN.
Der Verfasser dieser Zeilen ist ein früherer Menschenrechtsaktivist, war als politischer Gefangener in der Sowjetunion von 1977 bis 1987 in Haft und ist ein überzeugter Anhänger des gewaltlosen Widerstands. Die Eskalation der russischen Aggression gegen die Ukraine zwingt mich jedoch dazu, mir selbst schwierige Fragen zu stellen und schwierige Gefühle zu empfinden. Denn gewaltloser Widerstand im Krieg gegen Russland würde unsere Kapitulation und unser völliges Verschwinden als Nation bedeuten.
Deshalb bin ich einerseits dem Westen unglaublich dankbar dafür, dass in den letzten Tagen vor dem russischen Kriegsbeginn die ersten Ladungen moderner Waffen in der Ukraine eintrafen, die unserem Militär die Möglichkeit gaben, die anfänglichen Angriffe zunächst abzuwehren. Der Blitzkrieg, den Wladimir Putin ursprünglich gegen die Ukraine führen wollte, ist gescheitert. Auf der anderen Seite quält mich die Frage, was die we
stlichen Demokratien in ihren Beziehungen zu Russlandignoriert haben und warum diese Eskalation nicht verhindert worden ist.
In der Ukraine hören wir nun viele ausländische Stimmen, denen zufolge der Konflikt gelöst werden könnte, indem man der Ukraine einen neutralen Status gibt. Da wären etwa die Worte des Ökonomen Jeffrey D. Sachs, des Präsidenten des Sustainable Development Solutions Networks der UN, die er bei Project Syndicate schrieb: "Bei einer diplomatischen Lösung bekommt keine Partei alles, was sie will. Putin würde das Russische Reich nicht wiederherstellen und die Ukraine kein Nato-Mitglied werden können."
Solche Stimmen entstammen offensichtlich einer Win-win-Kultur, in der die Ansprüche jeder Seite eines Konflikts für legitim gehalten werden und die wahre Lösung nur unter Berücksichtigung der Interessen jeder Seite und durch Kooperation gefunden werden kann. In dieser Methode liegt eine unerhörte Macht der westlichen Kultur – mit einem großen Aber: Sie lässt sich nicht auf Kriminelle anwenden. Auf Al-Kaida oder den "Islamischen Staat" zum Beispiel. Niemand ist je auf den Gedanken gekommen, Osama bin Ladens Interessen zu berücksichtigen und mit ihm an einem Kompromiss zu feilen.
Nun wirkt der Angriff auf die Ukraine nicht so spektakulär wie der Anschlag auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001. Dennoch werden heute zahlreiche ukrainische Städte – Kiew, Tschernihiw, Sumy, Charkiw, Mariupol, Melitopol – in Ruinenstädte verwandelt, die denen im Zweiten Weltkrieggleichen. Die russischen Besatzer haben sich auf einen Terrorkrieg verlegt, in dem sie Zivilisten, Frauen und Kinder als Geiseln nehmen. Die Regierung im Kreml lässt Schulen, Krankenhäuser und Entbindungskliniken bombardieren; sie bereitet Provokationen an den von ihr eroberten Atomkraftwerken vor und lässt die Möglichkeit des Einsatzes biologischer Waffen anklingen. Trotzdem hat die Welt Putin noch nicht wirklich als Terroristen gebrandmarkt und sein Regime als kriminell. Auch gibt es im Westen viele, die Putins Taten zum Teil aufgrund angeblicher früherer Verfehlungen oder angeblicher nicht eingehaltener Versprechungen der Nato als gerechtfertigt ansehen.
Die zynischen Lügen des Kremls, sein grenzenloser Hass
Aber hat die Welt einen einheitlichen Maßstab zur Bewertung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Sind die ständigen zynischen Lügen der Regierung Russlands, ihr grenzenloser Hass auf die Ukraine und den Westen und jetzt die unverhohlene Gewalt in einem Krieg, der "Anzeichen eines Genozids aufweist" (sagte der polnische Präsident Andrzej Duda zuletzt bei einem Besuch im Weißen Haus), nicht ein Signal für die Welt, dass sich dieses Regime außerhalb jedes zivilisierten Rahmens gestellt hat und gestürzt werden muss? Stattdessen hören wir: Nato-Länder können nicht in einen Krieg mit Russland eintreten.
Der Grund ist klar, es ist die drohende atomare Katastrophe. Dann aber sollte der Welt die arglistige Täuschung, mit der Russland das Budapester Memorandum von 1994 seit Langem verletzt, mit aller moralischen Wucht vor Augen stehen. In dem Memorandum garantierten die USA, Großbritannien und eben auch Russland unter anderem der Ukraine, im Gegenzug für den Verzicht auf Nuklearwaffen aus sowjetischen Beständen die Achtung ihrer Grenzen. Wenn aber diese Garantien offenbar rechtlich nicht bindend waren, warum hat man die Ukraine genau davor nicht gewarnt? Mein Land glaubte schließlich wirklich, dass seine Souveränität und territoriale Integrität geschützt wären!
Putin verhöhnt die Weltdiplomatie ganz offen und droht mit einem Atomschlag. Für die Politiker im Westen ist es allerhöchste Zeit, sich einige Fragen zu stellen: Sie selbst mögen Atomwaffen als Mittel zur Abschreckung betrachten, doch halten westliche Atomwaffen Putin wirklich zurück? Hat sich der rote Knopf in Putins Händen nicht in ein Instrument der Einschüchterung und Erpressung verwandelt? Jeffrey Sachs zitierte in seinem Beitrag John F. Kennedys Äußerung: "Wir sollten nie aus Angst verhandeln. Aber wir sollten auch nie Angst davor haben, zu verhandeln." Das Gewicht lag bei dieser Aussage natürlich auf dem zweiten Teil. Gilt dann aber der erste nicht mehr? Schließlich zwingt die Angst vor dem dritten Weltkrieg die Welt dazu, das Dilemma Sicherheit versus Werte zugunsten der Sicherheit zu lösen. Doch das bringt uns dem, wovor die Welt sich fürchtet, leider nur näher.
Befürworter einer entsprechenden Lösung führen als historische Referenz oft die Kubakrisean, bei der sowohl die Sowjetunion als auch die USA am Ende Zugeständnisse machten. Tatsächlich basierte die internationale Ordnung damals jedoch auf einer klaren Blockzugehörigkeit. Seither aber haben sich Dutzende europäische Nationen von der einstigen kommunistischen Herrschaft über sie losgesagt und das Recht auf Selbstbestimmung erlangt. Wird die Welt Putin erlauben, die Zeit zurückzudrehen und die Logik der Blockkonfrontation wiederherzustellen? Wird die Welt es wagen, den Ukrainern zu sagen: "Euer Land gehört zu Russlands Einflussbereich, deshalb könnt ihr über euer Schicksal nicht selbst entscheiden?"
Wie viele Tote braucht es noch, bis die Welt begreift
Es kursieren noch viele andere Argumente westlicher Beobachter zur Frage der Neutralität der Ukraine, die ich ohne Bezug auf bestimmte Namen oder Quellen zusammenführen möchte, weil viele Menschen offenbar ähnlich denken. Es sind die folgenden drei:
• Belgien und die Niederlande seien neutrale Mächte gewesen, als sie 1940 von Nazideutschland überfallen und besetzt wurden. Eine überlegene Militärmacht mit einem vermeintlichen Anspruch auf einen Einflussbereich würde keinerlei Neutralität respektieren.
• Ob die Forderungen nach einer Neutralität der Ukraine nicht überraschend seien, während in den neutralen Ländern Finnland und Schweden eine wachsende öffentliche Zustimmung zum Gedanken einer Neubewertung ihrer Neutralität existiere? Auch die Schweiz hätte doch ihre traditionelle finanzielle Neutralitätaufgegeben.
• Vielleicht sei es an der Zeit, sich vom Wunschdenken zu verabschieden, wie verführerisch es auch sein mag. Die Ukraine sei im ersten Vierteljahrhundert ihres Bestehens seit 1991 ein neutrales Land gewesen, in dem es nur minimale öffentliche Unterstützung für einen Nato-Beitritt gegeben habe. Trotzdem habe Russland unablässig versucht, sie zu untergraben, mit vorteilhaften Energieverträgen weiter zu korrumpieren, sich in die ukrainischen Wahlen einzumischen und so weiter. Wenn die Neutralität damals nicht funktioniert habe, warum sollte sie es heute tun? Vielleicht sollte man sich endlich der Realität stellen, dass man es im Fall von Russland nicht nur mit einer konkurrierenden Macht zu tun habe, sondern mit etwas, das im Kern böse sei.
Gibt es denn überhaupt noch irgendwelche Abkommen mit Russland, die das Land noch nicht verletzt hat? Worauf sollte das Vertrauen gründen, dass Russland sich diesmal an ein neues Abkommen halten würde? Ein Lügenregime kann schließlich immer, wenn es ihm passt, irgendeinen Grund erfinden, warum es gezwungen ist, auch dieses Abkommen aufzukündigen. Immerhin sind Putin und seine Stichwortgeber ja auf die Idee gekommen, ein Bild der Ukrainer als Nazis zu zeichnen, die die Menschheit bedrohen – während Putin selbst in Russland eine grenzenlose Tyrannei errichtet hat und sich zu einer misanthropischen Ideologie bekennt.
Es ist nun äußerst wichtig, die rationale Logik westlicher Politikerinnen und Politiker nicht auf Putins Vorstellungswelt zu übertragen. Putin denkt in diesem Sinne irrational. Selbst wenn wir uns vorstellen (oder wünschen), dass eine Beendigung der aktuellen Phase des Krieges möglich sein könnte durch eine Einigung auf einen neutralen Status der Ukraine, würde das tatsächlich keine endgültige Lösung darstellen – es wäre nur eine vorübergehende Pause, die es Putin erlauben würde, seine Truppen neu zu organisieren für einen neuerlichen Angriff auf die Ukraine zu einem Zeitpunkt, der ihm passt. Denn Putin strebt nicht nach Frieden mit der Ukraine, er will ihre vollständige Unterwerfung!
Selbst wenn viele unserer westlichen Gesprächspartner dieser Darstellung der Lage zustimmen, fragen sie uns weiterhin: "Was schlagt ihr denn nun vor?"
Als Antwort auf diese Frage drängen sich mir die folgenden Überlegungen auf. Zunächst einmal müssen wir die Perspektive ändern, aus der wir das Problem analysieren. Denken die Europäerinnen nun fortwährend, dass sie der Ukraine schon wieder helfen müssen, dann wird sich früher oder später unweigerlich eine Ukraine-Müdigkeit einstellen. Die Versuchung wird wachsen, Druck auf die Ukraine auszuüben, um sie von einem Kompromiss zu überzeugen. Ähnlich wurde einst Druck ausgeübt, um die Tschechoslowakei zur Aufgabe des Sudetenlandes und Polen zur Aufgabe von Gdánsk zu zwingen. Das Resultat ist bekannt.
Eine andere Perspektive, die mir vor Augen schwebt, wäre die Fähigkeit, in der derzeitigen ukrainischen Armee die Frontkämpfer Europas zu erkennen, die die zivilisierte Weltordnung verteidigen. Wie viele Tote braucht es noch, bis die Welt begreift: Putin wird an der ukrainisch-polnischen Grenze nicht Halt machen und deshalb ist es Europa selbst, das sich verteidigen muss! Weil die ganze menschliche Zivilisation bedroht ist.
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