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Krisenintervention - meine Erfahrung mit der stationären Psychiatrie

Meine Erfahrung mit stationärer Psychiatrie 

 

Was ich vermeiden wollte, wurde doch nötig

Auf der Ikone von Yaryna Movchan mit dem Titel existiert in der Mitte eine Linie, die, wenn sie überschritten wird, in eine gefährliche Entwicklung führt, sich die Perspektive immer mehr verdunkelt, die Verzweiflung oberhand nimmt. Ohne dringende Massnahmen führt die Entwicklung der Depression manchmal sogar zum Tod.

 

Schon zuvor bin ich in einem Beitrag in meinem Blog zum Problem gestanden:

 

Rückfall in die Depression

 Ja, es hat mich wieder einmal erwischt. Im Kopf weiss ich, dass 70% aller, die eine mittelschwere depressive Episode erlebt haben, von Rückfällen betroffen sind.

 

Nach gut zwei Jahren Freiheit, hat es mich dieses Jahr im Mai erwischt, ausgerechnet in den Ferien. Ich war damals mit meiner Frau dran, das neue Buch zu korrigieren. Das hat offensichtlich viel mit mir gemacht. Erinnerungen sind aufgetaucht und damit auch die Gefühle, die ich in der akuten Zeit der Episode erlebt habe. Die Distanz dazu hat mir plötzlich gefehlt. Ich musste die Arbeit abbrechen und mit meiner Ärztin Kontakt aufnahmen. Sie riet mir, die Dosis meines Antidepressivums etwas zu erhöhen. Das half innert drei Tagen. Dennoch waren die Ferien wenig erholsam, vor allem für meine Frau.

 

Im Rückblick wurde mir bewusst, dass ich den Rat, langsamer und ruhiger unterwegs zu sein und weniger Projekte anzupacken, nicht befolgt hatte. Wenn ich gut unterwegs bin, vergesse ich das. 

Doch mein Körper lügt nicht. Er gibt seine Signale. Bei mir sind es unruhige Träume und mehrfaches Aufwachen, überhaupt vermehrte Müdigkeit. Ich wusste über meine Gefährdung, hoffte aber auf die Ferien, die mich erholen lassen. Doch da gibt es den "Bumerang-Effekt". Erst mit einem gewissen Abstand zeigt sich, was das Zuviel mit mir gemacht hat.

 

In dieser Zeit lag zudem die Spannung auf die kommende Operation in der Luft. Ich musste, dass die erneue Biopsie das Resultat gezeigt hatte, dass fünf von 16 Proben im Blick auf Krebs positiv sind. "Wir müssen handeln" - So sagte es mir der Urologe. Meine Prostata muss ganz weg in der Hoffnung, dass ausserhalb des Organs keine Zellen befallen sind. Meine Einwilligung war ein Vernunftentscheid. Doch die Angst hockte in mir. Was, wenn der Krebs nicht weg sein sollte? Und wie vertrage ich die OP?

 

Ich blieb erstaunlich ruhig und liess auch für mich beten. Um Gottes Schutz zu wissen, tut mir gut.

Die OP verlief nicht ganz so wie erhofft. Beim Eindringen in die Bauchdecke entstand eine Verletzung des Dünndarmes. Ich wusste, dass ich dort von einer früheren OP Verwachsungen habe. Der Chirurg musste zunächst nähen, bis er die eigentliche OP durchführen konnte, was ihm gelang. Der Eingriff war damit deutlich länger.

 

Zurück im Krankenzimmer musste ich aber bald Galle erbrechen. Es wurde eine Darmsonde angelegt werden, was sehr unangenehm ist. Sie konnte gottlob nach einem Tag wieder entfernt werden. Aber ich litt, im Bett keine Position zu finden, in der sich gut liegen lässt. Panische Gefühle meldeten sich. Mit einer Person des psychiatrischen Dienstes konnte ich darüber sprechen und es schien sich wieder zu lösen.

 

Schon zuvor kämpfte ich auch mit Verspannungen und Schmerz im rechten Lendenbereich. Sie waren erträglich gewesen, so dass ich mich nie darüber beim Hausarzt geäussert habe.

 

Drei Wochen nach dem Eingriff gingen wir in die Ferien ins Bergell in der Hoffnung, dass ich nun viel Zeit habe zur Rehabilitation. Doch am dritten Tag wurden meine Schmerzen akut. Ich lag nur noch herum und hoffte durch Schonung auf Besserung. Schliesslich musste ich den Notfall im Gesundheitszentrum im Tal. Dort gab man mir Schmerzmittel und röngte den schmerzlichen Bereich. Ein ernsthafter Befund zeigte sich aber nicht. Am Samstag wechselten wir die Ferienwohnung und fuhren nach Bergün. Die Schmerzen wurden nun immer schlimmer. Wir entschlossen uns, nach Zofingen zurückzukehren und mich untersuchen zu lassen. Da es Sonntag war, musste ich den Notfall, der gut besetzt war. Dort musste ich zwei Stunden mit meinen heftigen Schmerzen warten. Ich erhielt einige Schmerzmittel, die mir helfen sollten. Wenn nicht, soll ich den Hausarzt konsultieren. Das musste ich m Tag danach bereits tun. Er gab mir noch etwas mehr Schmerzmittel. Aber es nutzte immer noch nicht. Beim dritten Notfallbesuch erhielt ich dann einen Mix verschiedenster stärkerer Medikamente. Das wirkte, und wir konnten sogar noch eine Ferienwoche in Bergün verbringen, aber mit bescheidenem Programm.

 

Ich wusste, es war noch nicht wirklich gut. Zuhause setzte Physiotherapie ein. Gut zwei Wochen ging es mir wieder ordentlich und ich bewältige mein Programm im Pfarramt, das ziemlich dicht war, problemlos. Zudem freute ich mich auf das Buch, dass nun zum Druck in einen Betrieb in Tschechien abgeliefert war.

 

Doch der Körper lügt nicht. Ich gönnte mir eine Abendvorstellung im Open Air Kino und danach die 100 Jahre Feier der EVP-Zofingen. Dort bemerkte ich, wie sich mein Tremor stark äusserte. Dann kam noch der Sonntagsdienst. Und am letzten Dienstag ein vollgeladenes Programm. Zwischendurch legte ich mich ins Bett und dann ging es noch los zu einem Taufgespräch.

 

Am Mittwoch war ich Ende meiner Kräfte. Ich brachte mich nicht aus dem Bett. Das unangenehme Gefühl im Bauch meldete sich, Schwitzanfälle, Kopfschmerzen, kein Appetit, ich konnte nicht klar denken, Angst überfiel mich, Unruhe. Typisch depressiv ging es abends besser. Ich hoffte, dass ich es in zwei bis drei Tage es wieder schaffe.

 

Mein Frau sagte: Melde dich doch bei deiner Ärztin. Mir fehlte aber die Energie, mit ihr zu reden. Am Samstagabend war ich aber völlig verzweifelt und schrie zu Gott: "Lass nicht nicht so weiter leiden. Tu doch ein 'Wunder'!" Sonst kann ich alles vergessen, was eingeplant ist - auch die Lesung mit Musik am 10. September zum Erscheinen des Buches. Interviews dazu sind bereits erfolgt und werden erscheinen. Muss ich alles stoppen?

 

Danach schrieb ich endlich der Ärztin im Bewusstsein, dass sie in ihrer Freiheit an einem Wochenwochenende nicht reagiert. In solchen Fällen ist der psychiatrische Notfalldienst zuständig. Somit muss ich bis mindestens Montag irgendwie durchhalten. Vom Hausarzt weiss ich, dass ich die Dosis des Antidepressivums erhöhen kann und notfalls auch das Beruhigungsmittel Temesta nehmen darf. Das wirkte etwas.

 

Dann kam der Telefonanruf. Die Ärztin war bereit, mich zu beraten. Ich musste die Situation der letzten Wochen beschreiben und sie wollte genau wissen, welche Medikamente ich nehme und sie prüfte sie auf Wechselwirkungen. Das zeigte einen ziemlich eindeutigen Befund. Besonders ein Medikament ist bekannt, dass es Unruhe, Angstgefühle und depressive Zustände auslöst. Da ich eh nicht mehr so viele Schmerzmittel benötige, strich sie es aus der Liste mit zwei anderen. Ich müsse noch etwas Geduld haben, bis die Wirkstoffe aus dem Körper sind.

 

Bereits am Sonntag begann ich aufzuleben und lag nur noch wenig im Bett. Heute morgen bin ich wieder problemlos aufgestanden und ich finde auch die Kraft, wieder nach draussen zu gehen, etwas Fahrrad zu fahren und auch zu lesen und zu schreiben. Aber ich will achtsam bleiben.

 

Weshalb ich das alles schreibe? Als Ermutigung für solche, die auch Rückfälle erleben. Es ist wichtig, nicht zu lange weiterzukämpfen und zu leiden, sondern den behandelnden Arzt aufzusuchen und genau hinzusehen. Ich war in einer schwierigen Phase und die Absturzgefahr ist entsprechend hoch. Aber es gibt Lösungen.

 

Und offensichtlich hört Gott das verzweifelte Gebet nach einem Wunder. Die Ärztin hat getan, was sie eigentlich nicht tut, und mir rasch telefoniert und mich länger beraten. Den beiden, Gott und der Ärztin gehört mein Dank.

 

Feedback von Freunden

Du bist mutig,ehrlich und tapfer. Du bist ein stärkendes Beispiel, danke. Max,sei gesegnet!

Maria weiss, worum es geht, sie hat selber eine depressive Episode nach ihren Schwierigkeiten mit einem Tumor im Kopf.

 

Heute erhielt ich zudem noch diese Ermutigung:

"Lieber Max, ich habe heute deinen Text gelesen und die Losungen. du bist ein Beispiel, dass die Losung stimmt. Die Losungstexte sind aber auch eine Zusage für dich. E guete Tag."

 

Die Losungen:  «So spricht der Herr: Gleichwie ich über dieses Volk all dies grosse Unheil habe kommen lassen, so will ich auch das Gute über sie kommen lassen, das ich ihnen zugesagt habe.» (Jeremia 32,42)

 

«Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden.» (1. Johannes 3,2»

 

«Wenn unsere Tage verdunkelt sind und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte, so wollen wir stets daran denken, dass es in der Welt eine grosse segnende Kraft gibt, die Gott heisst. Gott kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen. Er will das dunkle Gestern in ein helles Morgen verwandeln - zuletzt das leuchtende Morgen der Ewigkeit.» (Martin Luther King)

 

Doch meine Erleichterung dauerte nicht lange. Bald wieder meldeten sich die depressiven Gefühle und damit verbundenen Ängste massiv. Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus, brauchte dringend Hilfe – und musste mich zu dem entscheiden, was ich unbedingt verhindern wollte: Die Einweisung in die Kriseninterventionsstation in Königsfelden.  Mein erster Kontakt mit der stationären Psychiatrie. Die Gefühle in mir auf der Reise mit meiner Frau zur Klinik vergesse ich nie. So tief bist du jetzt gefallen.

 

Gottlob kam mir ein engagiertes Team entgegen und ich konnte auch sofort zum Arzt. Das Angebot der Station ist beschränkt auf zehn Tage. Bis dann sollte eine Besserung eintreten.

 

Ich wurde in ein intensives Programm aufgenommen: Am Morgen, Mittag und Abend jeweils ein Treffen mit allen, wo die Angebote vorgestellt wurde, die wir nutzen sollten, uns jeden Tag ein Arzttermin gegeben wurde, und wir am Tagesabschluss eine Aufgabe wählen konnten und damit etwas von uns an die anderen weiterzugeben. Oder gemeinsames Spazieren Mix von Generationen und Hintergründen. Vom Lehrer, Fachmann in der Wirtschaft, Jugendlichen bis solchen, die schon öfters da waren. Einige kamen uns als «schräg» entgegen. Auch Ämtli gehörten zu unseren Aufgaben: Pflanzen giessen, das Essen holen, Tische aufräumen, den Kühlschrank kontrollieren.

 

Das Tagebuch half mir in jenen Tagen.

 

Losung vom 7. September 2021

Der HERR, dein Gott, hat dein Wandern durch diese große Wüste auf sein Herz genommen.»

5. Mose 2,7

 

Gott weiß, in welcher Phase ich mich nun seit Wochen befinde. Sie wird nicht verniedlicht, im Gegenteil. Es ist mein erneutes Wandern durch die grosse Wüste. Die Zeit ständiger wiederholenden Schwierigkeiten. Die Kraft, mich immer wieder auffangen, mich aufrichten und erholen zu können, war zu Ende. So bin ich nun da, wo ich bin: in der Kriseninterventionsstation. Mein Leiden und mich durchkämpfen zu versuchen, wurde zu viel.

Es ist sehr tröstlich, zu hören: Gott hat das alles auf sein Herz genommen. Er hat es sich zur persönlichen Sache, seinem Anliegen gemacht. Dem anvertraue ich mich und ebenso der Erfahrung und dem Sachwissen hier.

 

Kunsttherapie

Ich versuche meinen Lebensweg darzustellen mit meiner persönlichen Unheils- und Heilgeschichte bis zum gegenwärtigen Rückfall. Das triggert mich zunehmend. Will ich das Bild zurücklassen oder mitnehmen? Ich will es mitnehmen, aber plötzlich wird mir klar, dass es mir nicht guttut. Wichtig ist für mich das Loslassen, was gewesen ist.

 

Der Blick zurück war wichtig und damit die Erkenntnis meiner Wurzeln in der Unheilgeschichte. Es ist dran, dem nicht mehr Raum zu geben, mich auf die andere Seite zu konzentrieren, die mich vorwärts bring, und diese wieder zu festigen.

 

Deshalb werde ich das Bild heute entsorgen, indem ich es dem Wasser der Aare überlasse. Ich spüre, wie sich bei diesem Gedanken der Körper zu entspannen beginnt, auch wenn ich müde bin, wie wenn ich lange gearbeitet hätte.

 

Nach dem Mittagessen bin ich aber plötzlich wieder völlig verspannt. Ich habe um 13 Uhr einen Arzttermin und um 14 Uhr geht es auch schon weiter. Das stresst mich. Der Arzt weisst mich darauf hin, dass wir erst am Beginn der Therapie sind und es sich weisen muss, was alles sinnvoll für mich ist. Und Temesta sei in meiner Reserve. Was ich zuvor glaubte, es unbedingt bekommen zu müssen, dieses Medikament, erscheint mir nach dem Gespräch nicht mehr nötig. Das Gespräch tat mir gut.

 

Allerdings nicht lange. Ausgerechnet in der Gruppe, wo wir Möglichkeiten des Stressmanagements kennenlernen, komme ich immer mehr in den roten Bereich. Dann ist es aber zu spät, dem noch mit geschickten Stressmanagement begegnen zu können. Und genau da hinein bin ich in letzter Zeit oft gerutscht, so dass die KIS dringend nötig wurde. Ich nehme also doch noch Temesta, brauche aber ganze lange zwei Stunden, bis ich ausserhalb des roten Bereiches bin und doch noch etwas essen kann. Zudem tut mir das persönliche Gespräch mit einem Pflegefachmann gut, der sich abends in meinen Zimmer Zeit mit mir nimmt und mich ermutigt.

 

Losung vom 8. September 2021

Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.

 

Auch heute wieder begleitet mich eine Verheißung. Gott versorgt mich an Leib und Seele.

 

Geführter Morgenspaziergang mit Aufmerksamkeitsübungen. Du hast dich überwunden und es hat dir gut getan. Du hast auch schon einen Liter Wasser getrunken.

 

Konzentrationsübungen und Bodyscan

Das Arztgespräch war ermutigend. Er möchte gerne mein Buch sehen. Er findet es gut, dass ich nach der gestrigen Erfahrung lernen will, mich nicht unter Druck zu setzen, dass ich rasch genesen muss. Hilfreicher ist: Ich darf mir für diesen Prozess Zeit nehmen, und ich habe die Zeit dazu.

 

Koordination und Konzentration ist für uns Depressive ein grosses Problem. Wir machen verschiedene einfache und komplexere Ballspiele, wo wir uns Personen und Abläufe merken müssen.

Den Bodyscan kenne ich von früher und tat es hie und da – nun tue ich es jetzt angeleitet und erlebe es als entspannend. Funktionieren tut es wie alle solche Übungen nur, wenn ich es rechtzeitig anwende, bevor ich zu sehr in den roten Bereich rutsche.

 

Der Appetit ist nach wie vor ein Problem. Ich esse nur wenig und lustlos. Aber ich esse wenigstens und trinke genug.

 

Rainer schickt mir eine Mail mit einem Gebet, das er selbst in ähnlicher Situation von einem Freund erhalten hat:

 

Jesus Christus

Gefährte meines Weges

Licht meines Dunkels

Kraft meiner Schwachheit

Freund meiner Seele

Liebhaber meines Herzens

Hüter meiner Gedanken

Tänzer meiner Freude

Beistand meiner Ohnmacht

Versorger meiner Wunden

Richter meiner Urteile

Fürsprecher meines Stammelns

Heiland meiner Krankheit

 

Schlussrunde

Als Patientinnen und Patienten haben wir uns entschieden, einander Anteil zu geben an einem positiven Ereignis am heutigen Tag, und was wir selbst dazu beigetragen haben. Für mich war es die Mail von Rainer mit dem Text. Und dass ich mir damals, als es ihm schlecht ging, die Zeit nahm, mit ihm zu Wandern. Und, dass ich heute das Ziel nicht zu hoch gesetzt habe, was Fortschritte betrifft.

Ich habe kein Temesta gebraucht, das Therapieprogramm tat mir gut und war nicht zu viel. Ich erlaubte mir, mich dazwischen hinzulegen und die Müdigkeit zu akzeptieren. Und ich ass 3/4 der Menüs. Dankbar bin ich auch, dass der Zimmergenosse in eine andere Abteilung verlegt wurde. Er wirkte völlig unmotiviert für das Angebot der Klinik und war sehr unruhig, was mir nicht guttat.

 

„Zufällig“ stoße ich auf einen Text von Rainer Knieling:

 

Körpersignale

 

Ich spüre

oder ahne es wenigstens

dass was rumort

irgendwo innen drin

 

Körpersignale sind leise

am Anfang

versteckt

und werden leicht überhört

 

Was sie mir sagen

muss ich erst wieder lernen

Nicht gleich

der erstbesten

Deutung vertrauen

 

Was raubt mir die Kräfte?

Was verschließt meine Kehle?

Ich weiß es

noch nicht

 

Eine erste Erleichterung

stellt sich ein

Was in mir ist

darf sein

 

Etwas löst sich

ich kann‘s noch nicht glauben

So langsam bilden sich Worte

Stimmen sie schon?

 

Ich komme in Kontakt

mit mir

und mit dir

Danke dafür

 

Behalt mich im Auge

halt die Verbindung

zu dem, was rumort

innen drin

 

Schließlich nimmt sich wieder ein Pflegefachmann viel Zeit für mich, fragt nach, wie ich es bisher erlebt habe und interessiert sich, was mir widerfahren ist, die Geschichte meiner Depression, mein Buch und meine Arbeit als Pfarrer.

 

 

Losung vom 9. September 2021

«Sei getrost, alles Volk im Lande, spricht der HERR, und arbeitet! Denn ich bin mit euch.» (Haggai 2,4)

 

Zunächst kann ich mit dieser Losung nicht viel anfangen. Trost brauche ich. Schon nach dem Aufwachen meldet sich ein Druck im Bauch. Die Nerven sind angespannt, und die Spannung breitet sich weiter im Körper aus. Ich esse eine Schnitte, trinke einen Kaffee, lege mich wieder hin, und melde mich in der Morgenrunde von der Kunsttherapie ab. Eine Pflegerin will mit mir spazieren, ich lehne ab. Nur mich hinlegen. Temesta bringt mir auch nicht viel. Um 11 Uhr das Gespräch mit dem Arzt. Er ermutigt mich, befiehlt mir zu essen und möglichst alles. Im Rückblick bin ich ihm dankbar. Ich akzeptiere auch ein pflanzliches Medikament.

 

Es geht mit dem Essen; auch am Mittagsprogramm mit Entspannungsübungen nehme ich Teil. Ist wirklich mein Thema. Ich lasse mir danach noch Übungen zur Entspannung der Bauchnerven erklären und versuche es. Es könnte hilfreich sein, aber bewirkt halt auch nicht als Wunder per sofort.

Es braucht die Arbeit meinerseits, worauf die Losung hinweist. Ohne geht das nicht. Dennoch: Arbeit allein ist es auch nicht. Ich habe durchaus redlich vieles versucht. Eigentlich sollten mich die Medikamente stabilisieren können, damit mein Alltag vom ständigem Kampf und Krampf entlastet wird, irgendwie durchzukommen. Die Kraft fehlt mir.

 

Abends kommt noch kurz meine Frau und damit die Gelegenheit zum Austausch. Gottlob muss sie zu Hause nicht nach mir schauen, kann sie mich in guten Händen wissen.

 

Tagesaufsteller:

Hoi Max

Ich habe von deinem Buch gehört und es sofort bestellt. Im Moment sind Marianne und ich am Lesen.

Es braucht grossen Mut und Offenheit seine Lebensgeschichte in Buchform für alle zugänglich zu machen. Deine Zeilen regen mich an, auch intensiv über meinen bisherigen Lebensverlauf nachzudenken. Schau weiterhin gut zu dir! ich wünsche dir viel Kraft und Zuversicht.

 

PS: Wie ich gelesen habe, bist du mit deiner Frau Evi oft in Scuol anzutreffen. Wir verbringen schon jahrelang unsere Ferien in Scuol in einer Ferienwonhung oerhalb der Umfahrungsstrasse. Scuol - da kann man sich bestens erholen. Flanieren im Dorf - Motta Naluns - Prui - Alp Laret - Sent - Ftan - S-Charl - Piz Lischana - Tarasp - Tschlin - Vna - auch ein Blick über die Grenze -Reschenpass - Mals - Glurns. Alle diese Namen erinnern mich an viele schöne Erlebnisse. Vielleicht können wir uns einmal treffen und uns ein wenig austauschen. Ich melde mich bei dir. Lass deine ganze Familie grüssen.

 

Links zu hilfreichen Skills:

https://youtu.be/3Fzv-lErgmc

https://youtu.be/3Fzv-lErgmc

Bauchselbstmassage selbst durchführen

Ätherische Öle bei vielen Beschwerden (Lavendel, Pfefferminzöl)

 

 

Losung vom 10. September 2021

«Unsre Seele harrt auf den HERRN; er ist uns Hilfe und Schild.»

Psalm 33,20

 

Heute bin ich zuerst einigermassen gut drauf, mache einen langen Spaziergang, dann kommt das Arztgespräch. Wir reden über Urlaub. Ich könnte für 2x24 Stunden nach Hause. Und ich soll genug essen.

 

Ich esse fast den Teller leer. Doch bald danach stürze ich wieder ab. Die Verspannungen überfallen mich, Angst meldet sich. Ich melde mich ab von der Gruppentherapie und verkrieche mich im

Zimmer. Der Pfleger sucht das Gespräch mit mir, will mich für eine Aromatherapie gewinnen. Er meint, dass solche Attacken kommen und gehen. Schliesslich akzeptiere ich den Vorschlag und entscheide mich für Lavendel. Tatsächlich beruhige ich mich. Den ersten Urlaub sage ich ab. Hier bin ich in einer geschützten Sphäre.

 

Losung vom 11. September 2021

«Der HERR wird vor euch herziehen und der Gott Israels euren Zug beschließen.»

Jesaja 52,12

 

Ich lese diese Zusage auf einer Bank draußen vor der Klinik an einem schönen Vorherbsttag. In mir sieht es aber nicht heiter aus. Ich versuche, zu tun, was mir gut tut. Atmen und meinen Körper aktivieren. Beten. Impulse aus dem Tagestext aufnehmen. Sie aufschreiben und in mir aufnehmen. Sammeln, was kommt.

 

Gott, der vor mir herzieht.

Gott, der hinter mir geht.

Gott, der in mir ist in meiner Kraftlosigkeit.

In meinen noch düsteren Gedanken.

Gott, vor dem ich sein kann, wie es ist.

 

Dieses «ist» ist nicht alles.

Es ist jetzt.

Es wird anders. Es wird wieder.

Es wird wieder, wie es auch früher wieder geworden ist.

 

Ich kann es nicht machen.

Ich kann es nur empfangen mit leeren Händen,

mit müdem Geist,

in meiner Anspannung.

 

Löse Du sie.

Du, löse sie.

Er-löse du.

Du.

 

Ich versuche es nun doch mit einem Tag Urlaub. Die Pflegefachfrau fragt mich zuvor, ob es mir besser geht als beim Eintritt. Ich kann es nicht sagen. Ich sehe höchstens Minimalansätze. Hört das denn nicht auf? Ich existiere zwar, aber ein gutes Leben kann ich das nicht nennen.

 

Dennoch tun mir Evi und die Wohnung gut. Wir entscheiden, nicht in die Herbstferien und damit ins Herbstcamp zu fahren. Evi will an der Seite ich ihres kranken Mannes bleiben. Das berührt mich. Und es tut auch so weh, dass es ist, wie es ist. Ich  möchte weinen und kann es nicht. Ich weiss: Ich kann nichts dafür. Und das ist wichtig.

 

 

Losung vom 12. September 2021

«HERR, du siehst es ja, denn du schaust das Elend und den Jammer; es steht in deinen Händen.»

Psalm 10,14

 

Lehrtext:

Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!

Markus 9,22

 

Der Wochenspruch lautet: „Alle eure Sorgen werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“

 

Die Losung ist für mich auch eine Mahnung an Gott im Blick auf sein Versprechen. Sein Eingreifen, sein Handeln brauche ich. Sein Erbarmen. Entlastung, Ermutigung besonders, was meinen Körper betrifft. Der Tag zu Hause ist nicht glorios. Die Gewissheit, dass Evi zu mir steht, tut mir gut.

 

Der Pflegefachmann empfängt mich am Abend zurück in der Klinik, fragt nach. Das Thema wird nun sein: Wie weiter? Zuerst muss es mir besser gehen. Dann Reha. So meine Vorstellung. Ich spaziere noch etwas, bezahle Rechnungen und schreibe. Ich fühle mich leicht zuversichtlich.

 

 

Montag, 13. September 2021

Gut begonnen und wieder abgestürzt

Bis Mittag läuft es verheissungsvoll. Ich stehe relativ gut auf, und nehme an der Bewegungstherapie teil. Doch dann kippe ich. Eigentlich erst nach dem Arztgespräch. Er informiert mich, dass die bisherige Medikamentation nicht ausreichen. Ich soll ein neues Medikament sofort ausprobieren. Und ich werde hier nicht länger als zehn Tage hier sein können. Ich bin aber nicht dort, wo ich sein sollte. Wie soll es weitergehen.

 

Ein Pfarrkollege schreibt mir:

Hey Max, wie geht es bei dir? Aus der Zeitung habe ich vernommen, dass du ein Buch über deine Depression geschrieben hast. Das hat mich sehr berührt, weil ich selber seit einem Jahr an einer schweren Depression erkrankt bin. Seit meinem Weggang von Zofingen habe ich einfach meine Mitte nicht wieder gefunden. Darum schreibe ich dir sozusagen als Leidensgenosse und danke dir, dass du Depression zum Thema machst und den Mut hast, dazu zu stehen. Das ist nicht einfach, was ich aus eigener Erfahrung weiss. Den Vers, den du zur Grundlage für dein Buch nimmst, finde ich sehr schön und für mich auch sehr passend momentan. Ich habe viele Therapien gehabt und habe mir für die nächste Zeit nun ein wenig meine eigene zurecht gelegt : ich gehe in ein Kloster und arbeite dort mit, anschliessend plane ich ein Timeout in Lateinamerika. Es würde mich freuen, von dir zu hören und ich wünsche dir weiterhin, dass du das Licht am Ende des Tunnels siehst! Herzliche Grüsse

 

Meine Bezugsperson in der Pflege nimmt sich wieder viel Zeit für mich und berät mich im Blick auf die nächsten Schritte. Ein Aufenthalt in der Klinik Schützen in Rheinfelden wäre eine gute Sache. Doch wie überbrücke ich die Wartezeit, die sehr lange sein kann? Zu Hause und mit ambulanten Therapien ist das im gegenwärtigen Zustand nicht möglich. Er rät mir von einem Aufenthalt in einer anderen Station im Haus ab, da es mich zu sehr belasten würde, kaum betreut zu werden, und mit Leuten zusammen zu sein, die massive Störungen haben. Das verstehe ich, und es löst zusätzlichen Stress in mir aus.

 

Maria tut mir gut:

Ich stütze dich mit meinem Gebet. Es gibt einen Weg und du wirst ihn finden und gehen, ich glaube daran. Sei gesegnet und getragen!

 

Es kommt mir der Gedanke, ob die christliche Klinik SGM doch etwas wäre. Und vielleicht später wieder das Gästezentrum in Riehen. Ich informiere mich und sehe, dass gegenwärtig in Langenthal die Wartezeit kurz ist. Ist das ein Wink von oben? Zuvor fällt mir auf der Suche nach Trost noch die Losung von gestern auf:

 

HERR, du siehst es ja, denn du schaust das Elend und den Jammer; es steht in deinen Händen.

Psalm 10,14

 

Ich lese den ganzen Psalm und schreibe zu Vers 12:

Steh auf, HERR!

Gott, erhebe deine Hand,

vergiss nicht die Gebeugten.

 

Dies ist mein Schrei.

Ich brauche deine Hilfe.

In den nächsten Stunden.

Ich bin am Ende meiner Kräfte.

 Lass die neuen Medikamente wirken.

 Gib mir ein Zeichen.

 

Angespannt und verzweifelt schlafe ich ein, mag zuvor nicht lesen, da mein Hirn eingeschränkt funktioniert. Ich habe einen langen und schrecklichen Traum. Ich schreie herum und wecke den Zimmergenossen. Er alarmiert die Nachtwache. Ich brauche meine Zeit, bis ich zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann.

 

Mein seelisches Tempo ist langsamer als mein Verstand. So konnte ich recht gut akzeptieren, dass die Prostata OP nötig war. Doch tief in mir hat es in meiner Seele sehr viel mehr gemacht, und das kindliche Trauma erneut berührt. Und damit das Muster fligth, fight and freeze. Wobei bei mir die beiden letzten dominieren. Beides frisst meine Kraft.

 

«Der HERR wird ihn stützen auf dem Krankenbett,

auf seinem Lager hebst du seine Krankheit auf.»

Psalm 41,4

 

Mit dieser Zusage beende ich den Tag mit einer gewissen Zuversicht in mir.

 

 

Losung vom 15. September 2021

«Du wirst ferne sein von Bedrückung, denn du brauchst dich nicht zu fürchten, und von Schrecken, denn er soll dir nicht nahen.»

Jesaja 54,14

 

Lehrtext:

Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.

Johannes 14,27

 

Er gebe uns ein fröhlich Herz,

erfrische Geist und Sinn

und werf all Angst,

Sorg, Furcht und Schmerz

in Meeres Tiefe hin.

 

Besonders die Abendrunde berührt mich. Wir können Spruchkarten aussuchen und uns dazu äussern. Ich nehme mit mir:

 

Niemand muss sich für eine psychische Krankheit schämen, denn sie kann jeden treffen, egal wie, egal wann, egal wo. Schämen sollten sich eher die Menschen, die diese Krankheit immer noch belächeln und Betroffene deswegen verurteilen.

 

Ich bin noch nicht da, wo ich sein sollte.

Doch zum Glück bin ich auch nicht mehr dort, wo ich mal war.

Aber ich bin auf dem Weg und jeden Tag geht’s voran.

 

Mit dieser Erfahrung werde ich am Tag danach entlassen. Und erlebe, dass es bei mir einen grossen Schub nach vorne macht. Das Zusatzmedikament, das ich früher schon hatte, wirkt erstaunlich rasch. Leider ging der Arzt beim Eintrittsgespräch nicht darauf ein, als ich ihm es gesagt habe. Er wollte es noch ohne versuchen. Dennoch: Ich bin ihm dankbar. Und überhaupt dankbar für das Angebot in der KIS.

 

 

 

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