nowa ikona
Bedingt durch den Atheismus als Staatsreligion wurde im Bereich der Sowjetunion die Jahrhunderte alte Tradition der Ikonenmalerei unterbrochen. Statt eine Ikone im eigenen Haus war das Bildnis von Lenin oder Stalin oder den späteren Staatsführern erwünscht. Kirchen wurden geschlossen und anders genutzt (so etwa in Moskau als Telegrafenamt oder als Sitz des meteorologischen Instituts der Universität oder als Museen). Viele Kirchen wurden zerstört. Nur wenige und nur russisch-orthodoxe Kirchen konnten als Alibi für eine scheinbare Freiheit der Religionsausübung weiterhin genutzt werden. Viele Ikonen wurden zerstört und wertvolle Exemplare auf dem Kunstmarkt im Westen angeboten als begehrte Devisenquelle für die Sowjetunion.
So geschah es auch im Bereich der Ukraine. Mit der Gründung einer unabhängigen Ukraine wurde eine freie Religionsausübung wieder möglich und die noch vorhandenen Kirchen und Klöster den entsprechenden Religionsgemeinschaften zurückgegeben. Eine vielfältige kirchliche Landschaft ist entstanden.
Dies führte auch zu einer Wiederbelebung der traditionellen Ikonenmalerei – und mehr noch, zu einer Initiative junger Künstlerinnen und Künstler zu einer neuen, zeitgemässen Ikonenmalerei.
Ein Epizentrum bildet die polnisch-ukrainische Künstlerintiative «nowa ikona», die sich einmal jährlich zu einem zweiwöchigen Workshop in einem ruhigen Umfeld trifft wie letztes Jahr in Wesola, einem Vorort von Warschau. Zu Beginn und als Abschluss findet jeweils ein Gottesdienst mit Segnung statt, an den Tagen dazwischen Andachten. Es gibt immer ein Thema mit drei theologischen Impulsen, die dann auch im Katalog zusammen mit den Kunstwerken erscheinen. Dieses Jahr war das Geschehen nach Karfreitag und Ostern das Thema. Vom Kurator der Woche, Matheusz Sora, erhielt ich die Anfrage, einen der Impulse zu erfassen (Text weiter unten).
Die Künstlerinitiative ist auch mit der Galerie IconArt in Lwiw/Lemberg (Westukraine) verbunden. An der dortigen Kunsthochschulegibt es zudem die Fachrichtung «Sakrale Kunst», die viele Künstlerinnen und Künstler besucht haben.
In meiner Faszination für Ikonen und der Suche nach einer zeitgenössischen Form stiess ich im Internet auf diese Galerie. Nach und nach habe ich dort einige Werke gekauft, die mich berühren und existentielle Erfahrungen in meinem Leben und Glauben zeigen (mehr dazu am Schluss dieses Beitrages).
Heilige Kreativität in unheiligen Zeiten
Wenn Talente sich treffen und gemeinsam Ikonen malen, stellt sich die Frage: Geht das überhaupt in dieser Zeit, nach dem Überfall eines feindlichen Imperiums mitten im Krieg? Wer kommt überhaupt zu diesen Tagen gemeinsamer Arbeit nach Wesoła?
Yvanka Krypyakevitsch-Dymyd hat einer ihrer Söhne an der Front verloren. Artem wäre jetzt 27. Er war erfüllt von Lebenslust, reich an Talenten und Beziehungen, hat schon viel gesehen von dieser Welt, seine Grenzen gesucht und erweitert. Seine Mutter sagt auf die Frage: „Malen Sie Ikonen?“ – „Ist das ein Scherz? Ich kann jetzt kaum noch atmen. Meine Batterie blinkt bei 0,0001 %. Zum Malen müssen Sie mindestens 98 % haben.“
Danylo Movchan schreibt über seine Arbeit als Ikonenmaler: „Ich suche nach Inspiration in alter sakraler Kunst. Ihre komplexe und geordnete Zeichenwelt generiert neue Bilder und Formen. In meinen kreativen Kompositionen nutze ich sowohl formal als auch inhaltlich innovative Elemente und interpretiere authentische Techniken neu. Die majestätischen Figuren in meinen Werken spiegeln vielmehr den inneren Gehalt, das verwandelte Wesen. Unbewegliche Bilder drücken Gottes Frieden und surreales
Leben aus.“ Gegenwärtig bekennt er aber: „Ich habe keine Kraft mehr für die
‘heilige Kreativität’.“
Vier Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine hat er damit begonnen, jeden Tag ein Bild zu malen und auf Instagram und Facebook zu veröffentlichen. „Der Schmerz in meinem ganzen Körper lässt sich nicht mit Worten beschreiben. Das Leben im Krieg brachte einen großen Aufruhr. Das Malen macht es mir möglich,
meine Gefühle mit anderen zu teilen und den Menschen zu zeigen, was man in einem Krieg erlebt.“
Mehr dazu:
https://www.max-hartmann.ch/2022/05/15/bilder-zum-krieg-von-danylo-movchan/
https://www.max-hartmann.ch/2022/04/05/der-krieg-in-bildern-von-danylo-movchan/
Gemeinsame Arbeit verbindet und inspiriert. Und so treffen sich dennoch Künstlerinnen und Künstler zu dieser heiligen Herausforderung, Ikonen zu malen. Wenn es gelingt, ist es auch und nicht nur Talent. Ikonen sind nicht einfach Bilder. Sie sind Transparente, durch die eine andere Welt scheint und uns durch unzählige Bruchstücke ein „rätselhaftes Spiegelbild“ erkennen lässt. Das Vollkommene, Wirkliche und Ganze ist der Ewigkeit vorbehalten, wenn wir „von Angesicht zu Angesicht sehen.“
Durch Gottes Geist bewegt, entstehen Bilder, die inspirieren. Es ist ein menschlich unverfügbares und doch mögliches heiliges Geheimnis.
Und wir – und jetzt? Was besetzt uns? Wir können und müssen nicht verleugnen, wie es uns ergeht. Wir sind voller Fragen, traurig und wütend. Angst will uns packen. Wir hoffen und wissen doch nicht, wie es kommt. Wer gibt uns eine Perspektive, die real ist und uns erhebt? Wir sind erdrückt und erschlagen. Erschöpft und leer. Ausgeliefert und erniedrigt.
Erneut werden in dieser Welt Mauern errichtet. Die Gier und Arroganz der Macht herrscht – unersättlich in ihrem Wahn. „Krieg ist das Böse in seiner absoluten Dimension, die Substanz des Bösen. Ein gewöhnlicher Mensch, der Gott im Herzen trägt, ob er nun gläubig ist oder nicht, kann sich so etwas nicht vorstellen. … Das Konzept des Krieges wurde bei der Erschaffung der Welt nicht eingerichtet. Das erste Mal geschah dies, als Kain seinen Bruder Abel erschlug.“
Und doch: Es gibt dieses verrückte Dennoch. Ein Volk vereint sich wie nie zuvor – kämpft, verbunden mit grossem Opfer. Und ein Teil dieser Welt unterstützt, während andere sich durch Lug und Trug der Propaganda einlullen lassen.
So das gegenwärtige Drama.
Und damals?
Den äußeren Augen verborgen erscheint Gott dieser Welt in demselben Drama und Trauma. Mehr noch: Verraten und elend stirbt Christus den Tod eines Verbrechers am Kreuz. Sein Schrei gellt in unseren Ohren: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“ Danach wird es für drei Stunden unheimlich und dunkel, bis der Vorhang im Heiligtum fällt. Dem Hauptmann öffnen sich die Augen: „Fürwahr, er war Gottes Sohn.“
Einige tun, was sich tun lässt in solchen Zeiten: Sie bereiten ein Grab als ein Zeichen der Trauer und Würde. Es folgt der dunkelste Tag dieser Menschheit: Karsamstag, von Leere und Trauer erfüllt.
Was bleibt uns denn nun? So fragen sich seine Jünger. Als er früher sie fragte: „Für wen hält ihr mich?“, ist Petrus voll grosser Worte: „Du bist der Sohn Gottes. Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir haben geglaubt und erkannt, wer du bist.“ Doch wo war er dann später? Unter dem Kreuz finden wir ihn nicht.
Ist es mit dem Glauben nicht eher wie bei dem Vater, der verzweifelt mit seiner letzten Hoffnung seinen schwerkranken Sohn zu Jesus bringt und schreit: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“
Das genügt. Bescheiden und ehrlich ist mehr als große Worte der Selbstüberschätzung „Wenn alle dich verleugnen, ich aber nicht.“
Und der Hahn krähte dreimal. Und Petrus weinte bitterlich und voller Scham.
Was bleibt denn zurück? Gibt es überhaupt eine echte Perspektive oder geht alles zuletzt bachab?
Die Jünger: Sie verkriechen sich und es nagt an ihnen die Leere. Frauen waren es, die sich auf den Weg machten, ganz früh am kühlen Morgen. Sie wollten tun, was das Mindeste ist – die letzte Ehre erweisen. Frauen – nicht einfach das schwache Geschlecht. Sie gingen, kamen und sahen – überrascht und völlig verwirrt. „Sucht nicht den Toten bei den Toten.“ Was für eine unglaubliche Botschaft. Sie rannten und kamen zu den Jüngern, sie aber glaubten ihnen nicht. Bis er kam, der Auferstandene, durch verschlossene Türen.
Nur einer fehlte dabei: Thomas, der Zweifler. Er musste sehen und greifen – und tat es.
Zwei waren zuvor noch unterwegs nach dem Ort Emmaus. Sie suchten den Abstand und mussten einander klagen. Da kam einer ihnen entgegen und hörte zu. Dann sprach er zu ihnen: „Musste der Christus das nicht alles nicht erleiden, um ihn die Herrlichkeit seines Reiches zu gelangen?“ Als sie dann noch gemeinsam assen und der Fremde das Brot brach, fiel es wie Schuppen von den Augen.
Und dann war noch etwas, was bereinigt sein musste: die dreifache Verleugnung. Nicht Petrus war es, der das erste Wort wagte. Er selbst, Christus, tat es. „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich wirklich?“ – „Ja, du weißt es, dass ich dich lieb habe.“ Dreimal wurde das bestätigt. Und dazu dieser Ruf: „Weide meine Schafe.“ Unwürdig der Würde – und berufen dennoch.
Nicht gottverlassen – fähig sind wir. Diese neue Perspektive macht das Unmögliche möglich. Wie damals bei David und Goliath. Und heute in diesem unsäglichen Krieg.
Wenn unser Glaube auch klein ist, Gott steht uns bei. Nicht der Schein, sondern das Sein gilt. Oft nur der hilflose Schrei im Aufblick nach oben.
Dieser Aufblick ist: „Ein Festhalten an dem, worauf man hofft und glaubt, ein Überzeugt-Sein von Dingen, die (noch) nicht sichtbar sind.“
Wie das dann endet? Nicht dem Tod gehört dem Sieg, nicht dem Tyrannen. „Der Tod ist vernichtet, die Hölle besiegt.“ (1. Korinther 15, 54–57) Tyrannen kommen und gehen – je höher ihr Wahn, je tiefer ihr Fall.
Und wir? Sind wir Narren in Christo? Oder die Spielleute der Neuen Welt Gottes?
die werke
1. Taufe II (Ostap Lozinski)
Die Fusswaschung Jesu: In der Gottesbeziehung bin nicht ich es, der versuchen muss, sich Gottes Liebe zu verdienen. Es ist gerade umgekehrt: Ich kann kommen, wie ich bin und lasse mich einfach lieben. Wer Liebe empfangen hat, der kann auch Liebe weitergeben.
2. Anima (Seele) II (Ostap Lozinski)
Manchmal überfällt mich das Dunkle, ich sehe nicht weiter, bin sogar zu einem Haufen Elend geworden. Ist Gott vielleicht dann mir am Nächsten, wenn er mir am weitesten entfernt erscheint? Ich sehe und nehme ihn nicht wahr. Dennoch ist diese grosse segnende Hand über mir – und hinter ganz viele, die den Gott am Kreuz erfahren haben, der schreit: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»
3. Christus, geschlagen und verspottet (Ostap Lozinski) auf Glas gemalt, alte galizische Tradition)
Geschlagen vom Leben, nicht verstanden werden, geschämt sein – ich kenne es manchmal auch. Und manchmal verstehe ich mich selbst mit. Das Leben erscheint mir als Kampf und Krampf. Wenn einer mich versteht, dann ER, dieser Christus, der den Weg der Schande geht. Und manchmal frage ich mich, wie gemein sein können: da wird gemobbt, verspottet bis hin zu Quälerei, Folter, Vergewaltigung, Plünderei, Krieg.
4. Tischgemeinschaft/Abendmahl (Danylo Movchan)
Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, echter Gemeinschaft, wo wir einander annehmen, so verschieden wir sind. Wo wir durch Christus uns Brüder und Schwestern sind – teilen, was wir zu geben haben und einander eigene Schuld bekennen und vergeben können.
5. Adam (Danylo Movchan)
Adam – das Wort heisst schlicht «Mensch». Im Wortstamm steckt «adama» - Erdboden. Wir sind aus vergänglicher Substanz gemacht und diese wird zuletzt wieder zu Erdboden. Und gleichzeitig werden wir im biblischen Schöpfungsbericht als «Ebenbild Gottes» bezeichnet – als Wesen ähnlich (aber nicht) gleich wie Gott. Und damit berufen zum Ursprung, zu Gottes, zur Beziehung zum EWIGEN, Unvergänglichem – diesem Gold.
6. «Flash» - Blitzlicht (Yaryna Movchan)
Wir sind wertvolle Geschöpfe und gleichzeitig sehr sensibel, zerbrechlich, verletzlich. Das Leben hinterlässt Spuren an uns: bunt, widersprüchlich, beglückend, erschreckend. Und in uns ist Sehnsucht nach Berührung, nach Inspiration, diesem «Aha-Erlebnis», das sich nicht einfach lässt und geschieht in diesem Momentum, wenn uns Gottes Geist berührt und wir erkennen, was wie dran ist, oder uns diese Idee/Gedanken/Verhalten geschenkt wird, das uns weiterbringt. Oder geschieht es völlig überraschend. Diese Berührung ist die Erfahrung dieses Mehr und Ganzem und Ewigen, das nicht geschichtslos ist – Gott geschieht, sein Geist an und in uns und anderen.
7. «Struggle» - Kampf/Straucheln (Yaryna Movchan)
Es gibt eine Linie in unserem Leben, die wir beachten sollten und damit ein darüber oder darunter. Dieser Punkt im Leben, wo wir erkennen: Jetzt brauchen wir Hilfe. Wenn es so weitergeht mit uns, dann tauchen wir ab, immer mehr in die Dunkelheit bis hin in die Umnachtung des Todes. Das kennen etwa Menschen, die eine depressive Phase erleben. Der Beginn hin zu einer Entwicklung, die uns auch wieder aufwärts führen kann, ist dort, wo wir kapitulieren und einsehen, dass wir Hilfe brauchen – auch professionelle Hilfe. Es ist zumeist ein langer Weg mit vielen Auf und Ab. Es gibt aber ein «Zurück zum Leben» - das mein Leben wir nicht mehr nur düster erscheint, wo sich wieder Farben zu melden beginnen, Buntheit, Lebensglück.
Mehr dazu: Max Hartmann: «Zurück zum Leben – Das Tagebuch meiner Depression»:
8. Die Schöpfung
Das Leben als Wunder und Geschenk. Die Naturwissenschaft hat seine Erklärungen, aber kann uns nicht beantworten, was wie aus Nichts Etwas wird. Was war denn vor dem Urknall? Und warum gibt es diese Vielfalt, diese Entwicklung. Gott erscheint mir in seiner Schöpfung sehr phantasiereich zu spielen mit Pflanzen, Tieren, der Welt in den Lüften, in den Meeren, im Wasser, auf und im Erdboden. Und uns ist eine hohe Verantwortung gegeben, dass wir die Schöpfung pflegen und bewahren. Ökologie ist auch Gottesdienst. Und lernen und verlernen wir nicht das Staunen etwa in einer sternenklaren Nacht, wo Licht begegnet, das Jahrmillionen braucht, bis wir es sehen.
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