Gottesdienst zum Abschied, 4. Dezember 2022
«Hat die Kirche eine Zukunft?»
Das Bekenntnis des Petrus (Matthäus 16)
13 Als Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger: Für wen halten die Leute den Menschensohn? 14 Sie antworteten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen der Propheten. 15 Er fragt sie: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? 16 Da antwortete Simon Petrus: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes! 17 Da entgegnete ihm Jesus: Selig bist du, Simon Barjona, denn nicht Fleisch und Blut hat dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. 18 Und ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore des Totenreichs werden sie nicht überwältigen.
Schatz in irdischem Gefäss (2. Kor 4)
6 Denn der Gott, der gesagt hat: Aus der Finsternis soll Licht aufstrahlen, er ist es, der es hat aufstrahlen lassen in unseren Herzen, so dass die Erkenntnis aufleuchtet, die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi.
7 Wir haben diesen Schatz aber in irdenen Gefässen, damit die Überfülle der Kraft Gott gehört und nicht von uns stammt. 8 In allem sind wir bedrängt, aber nicht in die Enge getrieben, ratlos, aber nicht verzweifelt, 9 verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden geworfen, aber nicht am Boden zerstört.
Es ist eine bewegende Zeit – unser Abschied und Aufbruch in eine neuen Lebensphase - die grösste Veränderung, seit ich hier landete, heiratete und wir eine Familie wurden.
In mir sind verschiedene Gefühle. Manchmal komme ich mir vor wie lebendiges Meer, in dem die Wellen hoch gehen und dann tief nach unten. Ich kämpfe damit, dass es anders kam, als ich mir vorstellte. Doch dann wir es wieder friedlich in mir und ich sage: Ja, es war, wie es war. Es war gut so und es ist gut, was noch mehr und anderes kommt.
Diese Gemeinde ist uns ans Herz gewachsen und ebenso ihr als einzelne in allen Unterschieden (ich sage ganz bewusst «uns», denn ein Pfarramt ohne Evi konnte ich mir nicht vorstellen - Evi mit ihrem «angel service»). Es gab unzählige Momente, wo wir gemeinsam Freude und Leid teilten, unser Lachen und unsere Tränen. Manchmal tat es auch weh, was Menschen durchstehen mussten, wir nicht verstehen konnten, seufzten und fragten: Warum, oh Gott? Und manchmal konnten wir nur staunen, erlebten sogar Wunder. Wir wurden in allen diesen Jahren getragen – von euch und von Gottes Engeln. So erhielten wir immer wieder die Kraft, einen schweren Kelch anzunehmen, wie Christus im Garten Gethsemane.
35 Jahre in dieser Gemeinde. Es gab eine Zeit, da waren wir mehr als 2200 Mitglieder, heute sind wir etwas weniger als 1600. Das sind immer noch viel und es ist unmöglich, allen gerecht zu werden.
Die grosse Mehrzahl unter uns sind Mitglieder mit einer gewissen Distanz, wo es besonders sehr wichtig ist, einfach da zu sein, wenn sie uns brauchen. Einige bilden den Kern und für sie ist diese Gemeinde eine geistliche Heimat. Sie pflegen ihren Glauben aktiv und gemeinsam mit der Gemeinde, engagieren sich vielfältig und beteiligen sich an der Weiterentwicklung unseres Gemeindelebens.
Bis heute waren wir nie isoliert unterwegs. Es gibt bei tatsächlich diese «communio sanctorum» - die Gemeinschaft der Heiligen – auch wenn ich und wohl alle, manchmal «komische Heilige» sind, schräge Vögel, und sicher nicht perfekt.
Dennoch: Wir können und wollen auch nicht das verleugnen, was Tatsache ist: Es bröckelt, die Erosion nimmt zu, der Trend geht weg von der Kirche und viele haben keine Beziehung zum christlichen Glauben, er ist für sie fremd, sie wissen nicht, worum es geht oder sie pflegen Vorurteile oder machten schwierige Erfahrung mit dem Bodenpersonal der Kirche oder gewissen Gläubigen. Vielleicht kommt auch bald eine Zeit oder sie ist schon da, wo wir gefragt werden: Warum bist du immer noch dabei? Was bedeutet es dir? Oder wir werden belächelt, dass wir es noch dabei sind.
Damals vor 35 Jahren gehörten fast alle dazu, es war einfach so üblich. Unterdessen sind die Kirche und der christliche Glaube in Europa aus der Mitte der Gesellschaft an den Rand gerückt und erscheinen irrelevant. Ein kühler Wind bläst, dessen Stärke mehr und mehr zunimmt.
Es gibt viele Gründe, weshalb die Kirche in unserer Gesellschaft ein schlechtes Image hat. Einiges sind die Folgen eines offensichtlichen Versagens von unserer Seite. In den letzten Jahren erlebten wir auch die Folgen einer religiösen Haltung, in der Extremisten unsere Gesellschaft terrorisierten, und zu einer echten Gefahr wurden. Für viele hat das die ganze Religion in Verruf gebracht, ohne jede Differenzierung, alle landen in demselben toxischen Topf. Zudem gibt es diesen Sündenkatalog der Kirchengeschichte mit ihren Kreuzzügen und Hexenverfolgungen und gegenwärtig Skandale wie sexueller Missbrauch oder endlose Streitigkeiten in den Gemeinden.
Wenn überhaupt, dann pflegen viele ihren Glauben nur für sich, entwickeln eine unabhängige Spiritualität, die sich bei verschiedensten Traditionen bedient und dabei ein persönlicher Mix entsteht, der stimmig erscheint. Das also ist unser Umfeld.
Dem Journalisten des Zofinger Tagblatts, der das Porträt über meine 35 Jahre im «Zofinger Tagblatt» schrieb, gab ich auf seine Bitte hin einige Stichworte, was er fragen könnte. Unter anderem war es die Frage: «Hat die Kirche überhaupt eine Zukunft oder ist sie dem allmählichen Untergang geweiht?»
Erstaunlicherweise nahm er diese Frage nicht auf. Er begegnete mir mit einem grossen Wohlwollen und las sogar mein Buch, in dem ihm offenbar ein Glaube begegnete, der sich in den Krisen des Lebens bewährt.
Hat die Kirche und damit der christliche Glaube eine Zukunft? Ich möchte auf diese Frage von zwei verschiedenen Seiten her eine Antwort geben.
Die eine Seite ist einfach eine bewiesene Tatsache. Der Kirche wurde schon oft der Untergang angesagt - und es gibt sie immer noch. Schon in den Anfängen war das so. Die ersten christlichen Gemeinden waren im römischen Reich heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Die Christen gehörten aus dieser Sicht zu einer staatsgefährlichen Sekte, die unbedingt ausgerottet werden musste. Staatsgefährlich deshalb, weil für die Christen nicht der Staat als die oberste Instanz galt - und damit der kaiserliche Anspruch als Gottheit. Für sie war Christus der alleinige Herr, ihm allein galt ihre Verehrung. Entsprechend verweigerten sie sich dem Kaiserkult.
Bis heute bedeutet dies auch einen gewissen Widerstand gegen alle Tendenzen eines Totalitarismus, wo Herrscher und Ideologien an die Stelle Gottes treten, die jede Opposition bekämpfen und die Menschen für ihre eigenen Zwecke missbrauchen. Wer quer liegt, wird beseitigt. Im Namen dieses totalen Anspruchs wurden im 20. Jahrhundert Millionen Opfer einer ungehemmten Gier nach Weltherrschaft. Hitler, Stalin, Mao – und wie sie alle hiessen und heissen, wenn wir die Entwicklung in China, Nordkorea oder Russland verfolgen. Wehe dem Menschen, wenn sich der Mensch überhebt.
Der Kommunismus pflegte den einen genannten «wissenschaftlichen Atheismus». Die Mehrzahl der Kirchen wurden geschlossen, Priester und Gläubige überwacht, zur Umerziehung in Lager gesteckt und viele erschossen. Religiöse Erziehung war verboten, sodass die Gläubigen allmählich wegsterben und sich jede Religion und kirchliche Gemeinschaft auflöst.
Was wurde daraus? Tatsche ist: die Berliner Mauer fiel und ebenso der eiserne Vorhang. Die Kirche und der christliche Glaube überlebten, oft im Untergrund. Und auch bei uns lebt der Glaube und die christliche Gemeinschaft weiterhin - vielleicht sogar in einer Vielfalt, die es zuvor nicht gab, und trotz der Tatsache, dass wir weniger werden.
Das die Antwort auf die Frage: Hat die Kirche Zukunft? Sie hat Zukunft, was aber nicht heisst, dass die Kirche – gerade auch unsere reformierte Kirche - Erneuerung braucht, dringend braucht, nicht bloss die Erkenntnis des eigenen Versagens, sondern eine wirkliche Neuorientierung hin zum Ursprung und zum Kern: Christus und seine Botschaft von Gottes Reich mitten unter uns – so wie wir im Unservater beten: «Geheiligt werden dein Name. Dein ist das Reich. Dein Wille geschehe. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.»
Hat die Kirche Zukunft? Es gibt noch einen anderen Zugang als Antwort – mehr als das, was wir mit unseren menschlichen Augen durchaus vernünftig beobachten können.
Ich glaube an die Zukunft der Kirche, weil Jesus Christus sie uns verheissen hat. Damit sind wir bei den beiden Texten, die wir zuvor hörten.
Der erste Text geht von einer doppelten Frage aus, die Christus seinen Jüngern stellt und die auch uns stellt: Was sagen die Leute, wer ich sei? Und was sagt ihr selbst?
Was sagen die Leute, wer Jesus ist? Die Antworten sind heute wohl anders als bei den ersten Jüngern. Wir würden vielleicht hören: Er wagte es, den Mächtigen ganz gehörig die Meinung zu sagen. Und er setzte sich für die Menschen am Rand der Gesellschaft ein, den Ausgestossenen und Aussätzigen, begegnete korrupten Zöllnern und Dirnen ohne Vorurteil, und war überhaupt ein Vorbild an Liebe.
Eigentlich ein guter Typ. Aber eben: Das war einmal. Die Bergpredigt setzte sich nicht durch. Sonst müsste diese Welt anders aussehen.
Aber auch heute würden einige auf die Frage: Wer ist dieser Jesus? wie Petrus bekennen: «Er ist der Messias, Gottes Sohn.»
Was sage ich denn? Was sagen Sie? Und wagen wir es als einzelne und als Gemeinschaft uns zu Jesus als der Christus und damit als der wahrhaftige Herr zu bekennen? Oder verstecken wir unseren Glauben, genieren uns, dazu zu stehen? Es geht hier nicht um diesen Übereifer, diesen Fanatismus, mit dem einige ihren Glauben anderen aufzwingen wollen und dabei nur ihre Sicht gelten lassen. Es geht vielmehr um einen Glauben, der uns zumeist klein vorkommt, schwach, und wo wir immer noch gewisse Fragen und Zweifel haben. Dennoch sind wir unterwegs und dieser Glaube ist der gute Boden, der uns trägt.
Ganz gewisse: manchmal geht es auch um Courage: den Mut, dass wir zu unserem Glauben stehen, wenn wir gefragt werden, und vor allem: dass wir danach zu leben versuchen. Unser Leben predigt immer stärker als alle schönen Worte.
Was das heissen könnte? Zuerst bin ich selbst der, der aus Gottes Hand empfängt: Gott liebt uns zuerst, wir alle leben aus seiner unverdienten Gnade. Ich kann so kommen, wie ich bin, oft mit leeren Händen. Ich strecke sie ihm entgegen und bitte: «Kyrie eleison» Gott erbarme dich, erfülle mich.
Dann kann ich auch weitergeben. Wer sich zutiefst von Gott angenommen und geliebt weiss, kann andere lieben: ihnendienen mit dem ihm oder ihr anvertrauten Talenten, mit den Weinenden weinen und mit den Lachenden lachen. Und er sorgt dafür, dass diejenigen, die zu wenig haben, genug bekommen. Und sie oder sind dort anzufinden, wo jemand unter die Räuber fällt. Wir tun es wie der Samariter im Gleichnis, der es sieht, hingeht, verbindet und dafür sorgt, das dieser von den Räubern fast zu Tode geschlagenr Mann wieder auf die Beine kommt. Darum geht es.
Zurück zu Petrus und seinem Bekenntnis (ausgerechnet er versagte öfters und handelte nicht so, wie er eigentlich wollte, gab aber nie auf, da dieser Jesus ihn auch nicht aufgab, als er ihn verleugnete. Er Vergebung erfahren – und ausgerechnet er wurde dann besonders gewürdigt mit der Aufgabe als erster Leiter der christlichen Gemeinde!)
Zunächst freute sich Jesus einfach über sein Bekenntnis und sagte dazu: Diese Erkenntnis hat dir Gott geschenkt. Echter Glaube ist eigentlich immer ein Geschenk, keine Leistung.
Heute noch geschieht dieses Wunder, dass Menschen von Gott berührt werden und eine lebendige Beziehung entsteht. Zumeist ist es ein längerer Weg, in dem etwas heranreift, uns Gott nahekommt – in diesem Christus: in seiner Art, wie uns Gott durch ihn in seinem wahren Wesen begegnet.
Brauche ich das überhaupt? Oder ist das etwas, was für einige so sein mag?
Johannes Hartl, der Leiter des Gebetshauses in Augsburg, bekannt durch seine sehr hilfreichen Beiträge als Video und Podcast, vertritt die Meinung: In uns Menschen gibt es so etwas wie einen «Leerraum», ein Vakuum, ein Ur-Bedürfnis, das gestillt werden will, ein Sehnen und Suchen nach mehr und etwas ganz Grossem.
Wir Menschen versuchen dieses Vakuum zu füllen – oft mit materiellen Gütern, extrinsischen Werten wie ein gutes Auto, eine schöne Wohnung, Wohlstand, Kariere, Ehre, ein langes Leben ohne Leiden – und doch wir bleiben dennoch leer oder sind wie Süchtige, denen es nie genügen kann.
eigentlich wissen wir, dass dies nicht alles sein kann. Und manchmal meldet sich diese Erkenntnis in uns und wir können es uns vielleicht sogar eingestehen, wie leer und unbefriedigt wir sind. Unsere Kapitulation wird dann zur Chance – die Chance zu einem anderen Weg. Wie einst die Jünger erreicht uns der Ruf: «Komm und folge mir nach!» Komm, mach dich auf den Weg ohne jede Voraussetzung, so wie du bist – unterwegs mit vielen anderen, die vor dir auch schon diesen Weg gingen und die ihn heute auch bei uns gehen..
Hier sind wir zurück bei dieser besonderen Gemeinschaft, der Kirche (wörtlich das griechische Wort im Urtext: die Gemeinschaft derer, die «herausgerufen» sind: herausgerufen aus dem gesellschaftlich üblichen Leben in die Nachfolge Christi). Kirche ist in Gottes Sicht nicht nur eine menschliche Institution. Sie ist es auch und entsprechend sieht oft die Realität aus.
Die Kirche ist eine Erfindung (Gründung) Gottes. Denn Gott schuf uns Menschen nicht nur als einmalige und kostbare Individuen - wir sind zur Gemeinschaft bestimmt, zum «Miteinander», miteinander unterwegs, wo wir unser Leben und unseren Glauben teilen. Eines der tiefsinnigsten Bücher, das im letzten Jahrhundert erschien, war deshalb «Gemeinsames Leben» von Dietrich Bonhoeffer.
Gemeinsames Leben. Diese Kirche hat Zukunft, nur diese. Von ihr sagt Christus: «Die Tore des Totenreiches werden sie nicht überwältigen.» Oder, wie es auch übersetzt wird: «Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.»
Diese Kirche hat ein kostbares Erbe, das sie von Generation zu Generation weitergeben kann – und damit ein unerhörtes Potential – einen Schatz, der ihr gegeben ist. Einen Schatz in einem zerbrechlichen Gefäss.
Dieser Schatz, unser Erbe – wir werden ihn nie ganz ausschöpfen können. Aber etwas davon durchaus.
Dieser Schatz ist uns gegeben, uns als zerbrechliche, fragile Gefässe: Wie fragil ich doch bin, manchmal auch entsetzlich verletzlich, verletzt – und manchmal auch einer, der auch andere verletzt. Und dennoch wertvoll, unter Gottes Gnade.
Hat Kirche Zukunft?
Kirche hat Zukunft. Gott ist ihre Zukunft.
Hier in Brittnau waren schon unzählige andere unterwegs seit mehr als tausend Jahren. Und wir beide, meine Frau und ich, waren mit euch unterwegs und nach uns kommen andere,.
Bleibt einfach dran. Ihr seid Gottes Gemeinde. Und sorgt euch nicht, was die Zukunft betrifft. Sie liegt in Gottes Hand und wir in ihm.
Amen.
Kommentar schreiben
Natascha Meyer Pérez (Montag, 05 Dezember 2022 19:45)
Was für eine schöne Abschlusspredigt. Ja, wir sind gemeinsam. Und wir sind in Gottes liebenden Händen. Alles Gute euch auf dem neuen Lebensweg. Ihr lebt in unseren Herzen. Alles Liebe aus Salt Lake City ❤️