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Die Erde wird dein Brot sein

«Er sagte, er sei kein lebender Mann.»

 

Achtzig Jahre Einsamkeit von Moses Weinschelboim

Eine Geschichte über den Holocaust

 

Dienstag, 14. Mai 2022

THE UKRAINIANS

Christina Kotzira / Sascha Maslow Dienstag, 14. Mai 2022

 

15. September 1941

"Es wird Brot in eurem Land geben."

 

Mischa öffnet schläfrig die Augen. Sein Vater und seine drei Geschwister schlafen noch. Mutter ist bereits auf den Beinen. Auf dem Tisch steht eine Kerze. Feige's Mutter knetet Teig. Er weiß, dass "Feige"  aus dem Jiddischen "Vogel" bedeutet. Und jetzt sieht sie wirklich wie ein wunderschöner Vogel aus Übersee aus. Ihre Hände fliegen wie Flügel über den Teig und stürzen sich in ihn. Das Mehl fällt im schummrigen Licht der Kerze fällt wie magischer Staub auf den Tisch. Mischa denkt darüber nach, wie Mutters Flügelhände Brote produzieren, rohe weiße Kreationen auf einem Metallbackblech auslegen und sie dann vorsichtig in den Ofen stellen. Bald riecht seine Nase den angenehmsten Geruch der Welt. Seine Augen schließen sich vor Glückseligkeit.

  

Goop-goop. Jemand klopft gegen das Fenster. Mama packt den 13-jährigen Misha aus Angst an der Hand: Er liegt dem Ofen am nächsten. "Versteck dich", flüstert sie.  Mischa sieht wie alarmiert seine Mutter ist. Sie sagt ihm noch: "Zieh die Brote aus dem Ofen. Du wirst es riechen, wenn es so weit ist. Decke sie mit einem Handtuch zu." 

 

Mischa sitzt im Versteck wie eine Maus. Er hört Schreie, Lärm, knarrende Türen. Die  Stimme von Arons Vater. Verängstigte weinende ältere Schwestern - Paulie und Cila. Der Schrei des jüngeren Salomo. Die Stimmen der anderen Leute erklären, dass sie alle zur Arbeit bringen. Dann herrscht Stille.

 

Er bewegt sich nicht. Und erst, als er riecht, dass das Brot fertig ist, kommt er aus dem Versteck. Öffnet die Ofenklappe. Nimmt die Handschuhe, zieht die heiße Backform mit dem Brot heraus. Legt die heissen Brote auf den Tisch. Deckt sie einem sauberen Handtuch zu. Es ist, als hätte es seine Mutter ihm vererbt.

 

Was machst du da? fragen die Polizisten. Es sind nicht deutsche.

 

"Meine Mutter ließ mich da, damit ich das Brot aus dem Ofen ziehe. Hier ist es." Mischa zeigt auf die dampfenden Brote als Entschuldigung dafür, warum er hier im Hause ist.

 

"Die Erde wird euer Brot sein. Weisst du, was das bedeutet?" Einer der Polizisten lacht und befiehlt: "Hört hier auf!"

 

Mischa bleibt beim Brot am Tisch und sie gehen in andere Räume. Er hört, wie Dinge aus Schränken und Schubladen gezogen werden. Etwas fällt laut und zerbricht. In diesem Moment schlüpft Mischa Typ leise aus dem Haus und rennt davon.

 

Er eilt zu einem Stall außerhalb der Stadt. Er geht hinein und stösst auf ein vertrautes Pferd. "Mein Großvater schaut zu den Pferden, die jede Nacht Fässer voller Scheiße aus Toilettengruben ziehen."

 

Mein Großvater versteht alles ohne Worte. Schiebt Mischa in eine Kiste. Mit einem Mantel bedeckt er sie. Es lässt ein kleines Loch offen, damit  er atmen kann. Jetzt endlich kann er aufatmen. 

 

"Du kannst herauskommen, die Razzia ist vorbei", hört Mischa später eine ältere Stimme. Wie lange ist es her: drei Stunden oder mehr? Er schüttelt die Hände und Füße vom Staub ab. Geht vorsichtig nach draußen.

 

Du kannst nicht nach Hause gehen. Zu gefährlich. Mischa schleicht in der Abenddämmerung davon und geht in das Dorf Hryshkivtsi neben Berdychiv. Zur Frau, bei der seine Mutter Milch kauft. Sie hört dem Kleinen zu, versteckt ihn in ihrem Haus und geht , um zu sehen, was in Berdytschiw passiert ist.

 

Zaghaft öffnet sich die Tür des Hauses, wo Mischa wohnt. Am Tisch mit dem gebackenem Brot vom Morgen sitzt Aron Weinselboim, Mischa's Vater. Er legt seinen Kopf auf den Tisch. Leise. Stille bricht das Weinen der Kinder hervor. Im Zimmer ist eine Frau mit einem Säugling im Arm - Feige's Schwester. Ein dreijähriger Junge klebt an ihrem Bein. "Ich wurde freigelassen", erklärt Aron. Die Deutschen brauchen Meister. Ich werde den Speisesaal für die Soldaten reparieren. Sie erlauben mir, zur Familie zu gehen. Doch Feige und die Kinder sind nicht mehr da. Deshalb habe ich ihre Schwester mitgenommen."

 

Aron wird die Gebäude für die Deutschen für einen weiteren Monat reparieren. Bei denen, die Feige, die 18-jährige Lya, die 16-jährige Cila und den 5-jährige Salomon umgebracht haben.

 

 

"Wer sagt dir, dass Tausende von Menschen so erschossen wurden?"

Die letzten Tage des Oktobers 1941

 

In den letzten Oktobertagen brachten die Deutschen bereits jene Juden aus dem Ghetto, die bis vor kurzem gebraucht worden waren. Der Speisesaal für die Soldaten war fertig. Drei Tage lang wurden  alle in die Keller der Festung Berdytschiw getrieben. Mischa folgte Papa in einem Konvoi und hatte Angst, sich zu verlaufen. Im Keller wimmelte es von  Menschen und es stank von Schweiss. Der kleine Cousin von Mischa starb genau dort. Meine Tante und ihr Sohn konnten sich befreien. Sie gaben der Polizei ein Bestechungsgeld. Sie wurden trotzdem erschossen.

 

Am Nachmittag des vierten Tages wurden alle aus den Kellern auf die Straße gebracht. Sie stellten sich auf und wurden aus der Stadt herausgefahren. Auf einer großen Wiese wurden sie gezwungen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Ein Haufen bunter Kleider wuchs vor unseren Augen. Mischa hatte es nicht eilig, sich von den Kleidern zu verabschieden. Langsam zog er seine Hose aus. Während er sein Hemd aufknöpfte, begutachtete er die Umgebung. Nicht weit vom Platz entfernt, an dem sie alle mit vorgehaltener Waffe in der Unterwäsche sogar übernachteten, befand sich ein Mähdrescher. Hinter ihm war ein Feld mit hohem Unkraut. Mischa sah seinen Vater zum letzten Mal an. Er, fast nackt, wurde bereits dorthin gefahren, wo die Warteschlangen waren. "Oh, allmächtiger Gott", betete er, "rette mich. "Wer kann sagen, wie viele Tausende von Menschen dort erschossen wurden?" Mischa nutzte den Moment, als der Polizist sich abwandte, und verschwand hinter dem Mähdrescher. Dann kroch er. Die Steine und Dornen des Unkrauts schmerzten seine nackten Knie und den Bauch. Die Schüsse übertönten seinen Schmerz. Salve um Salve kriecht er voran. 

 

Als er sich weit genug entfernt hatte, sprang er auf seine Füße und rannte trotz all seinen Schmerzen. Als er müde wurde, ging der ins Dorf und klopfte an die Tür des ersten Hauses.

 

"Entschuldigung, gute Leute."

 

"Wir haben alles gehört, wir wissen, was geschehen ist."

 

Die Leute erwiesen sich als freundlich - sie nahmen Mischas alte Kleidung, gaben ihm Milch und liessen ihn übernachten.  Am Morgen beim Sonnenaufgang rieten sie ihm, so weit wie möglich von Berdychiv wegzugehen.

 

In den letzten zwei Monaten hat er alle verloren, die er liebte. Außer den Eltern, Schwestern, dem Bruder erschossen die Deutschen fünf Tanten und den Onkel, und dessen Mutter, mit all ihren Familien.

 

Nur diejenigen, die zu Beginn des Krieges sich evakuieren liessen, blieben am Leben. Oder wer noch in den 20er-Jahren ins Ausland ging. Nur er überlebte von der riesigen Berditschew-Familie. Wie ein Finger.

 

- "Wo gehst du hin, mein Sohn, warum bist du so schlecht angezogen?" Der Fremde hielt seine Gedanken an. Mischa hat die schlechte Kleidung eines anderen angezogen.-"Ich gehe nach Vinnyzja."  - Er erinnert sich an die Handwerksschule,  die es dort gibt: Ein Cousin hat dort studiert.  

 

- "Du gehst den falschen Weg. Da wirst du nicht nach Vinnyzja kommen. Fürchte dich nicht, sag mir, was los ist."

 

Mischa schaute dem Mann in die Augen. Kann man dem ersten, dem man begegnet, einfach so vertrauen? Und wenn er ihn den Deutschen übergibt? Aber der Mann sah nicht so aus. Und er hat ihm erzählt, wie er buchstäblich von der Erschießung davongelaufen ist, und dass er nicht weiß, wohin er gehen und wie er weiterleben soll.

 

- "Ich werde mit dir zu guten Leuten gehen und sie werden dich verstecken", versicherte der Mann.

 

Hat Mischa geglaubt, was zu tun war? Der Mann wurde Andrey Shcherbatyuk genannt. Auf dem Weg sind sie zu ihm nach Hause gekommen. Er nahm einen Laib Brot und  sie gingen in das Dorf Terekhovo.

 

Es war das erste Haus auf der rechten Seite.

 

"Wir müssen den Jungen retten", fing der Retter schon auf der Türschwelle an und reichte der Frau Brot.

 

Ihr Name war Fivonka. In einer kleinen Dorfhütte wohnte sie mit drei Töchtern und drei Enkeln. "Sieben Münder", zählte Mischa auf, warum sollte es noch ein achtes werden?" Der Mann, der ihm helfen wollte, flüsterte Fivonka etwas zu. Hat er vielleicht gesagt, dass er, Mischa, ein Flüchtling, ein Jude ist? Mischa hat das nicht gehört. Die Ohren erwischten erst das endgültige Urteil der Großmutter: "Wir müssen den sowjetischen Mann retten".

  

Er blieb als Achter. Als sie das Rumpeln des Autos hörten, rannte Mischa davon und versteckte sich bei den Reben über dem Fluss. "Wenn ich keine Zeit hatte, wurde ich in den Keller oder auf dem Dachboden gebracht."

 

Die Deutschen kamen oft zu Baba Fivonka. Sie tauschten Benzin oder Kerosin gegen Eier und Hühner. Oft kam auch eine Verwandte von Fivonka, Paula. Mischa wurde vor ihr versteckt. Jeder wusste, dass die junge Frau mit einem Deutschen zusammen war, also hatten sie Angst. Aber irgendwie hat Paula ihn dann doch im Haus gefunden. Fivonka hat damals gelogen, dass er ein entfernter Verwandter ist. Hast sie es geglaubt? Wer weiß. Aber zu ihrem Deutschen hat Paula nichts gesagt.

 

Zwei Monate lang fütterte ihn Baba Fivonka gleichermaßen mit ihren eigenen Kindern und Enkeln. "Ich habe mir Milch in meine blecherne Tasse gegossen — gut, obwohl sie keine Kuh hatten. Sie teilte das gleiche Brot, das sie aus Sojamehl gebacken hatte,  sie hatte kein anderes."

 

Und dann sagte Mischa zu Baba:

 

"Ich werde nach Brot fragen gehen."

 

"Es ist keine Schande zu fragen, Sohn. Es ist beschämend zu stehlen!" - Und sie hat ihn gesegnet.

 

Fast ein Jahr lang ging er durch die Dörfer und bat darum. Auf den Schultern ein Beutel, in der Hand ein Korb. Er sammelt die Produkte, die er erhielt, steckt sie in seinen Sack. "Ich ging im Morgengrauen hinaus und kam spät abends zurück." Er brachte trockenes Brot, Kartoffeln, Rüben mit. Geteilt durch alle und so überlebten sie.

 

 

"Geboren in einem Hemd.»

August 1942

 

Es war kühl an diesem Tag, obwohl es noch August war. Mischa trug ein großes Hemd der Großmutter. Zum Mittagessen erreichte er das Dorf Volchinets. Er klopfte an die Tür der Hauses. "Ich bin hineingegangen und bin auf der Stelle erstarrt. Am Tisch saßen Polizisten. Aus einer großen Flasche wurde graue Flüssigkeit in Gläser gegossen."

 

"Können Sie mir Brot geben?" Mischa hat monatelang diesen Satz eingeübt. Und er hörte ein Gelächter als Antwort.

 

"Wir suchen schon lange nach dir. Du bist Jude." Sie stossen gegenseitig an..

 

Mischa ist sauer. Was ist zu tun? Weglaufen? Wie werden sie es beweisen? Er spricht Ukrainisch. Niemand konnte jemals auf den ersten Blick ahnen, dass er Jude war. Blaue Augen und braune Haare machten aus ihm einen einfachen ukrainischen Kerl.

 

"Wir gehen zum Gemeinderat, und dann ziehen wir dir die Hosen aus, und wir werden sehen, ob du Jude bist oder nicht." Der Polizist packte ihn am Kragen. Es gab keinen Ausweg.

 

Im Landratsamt wurde alles klar. Die Polizisten führten ihn zur deutschen Kommandantur, in der Tat zur Schlachtung. Mischa bewegte seine Beine und erinnerte sich an die Geschichte seiner Mutter über seine Geburt. Als er geboren wurde, schrie die Hebamme: Sie wird glücklich sein, weil er in einem Hemd geboren wurde. Er wurde zu Ehren seines Großvaters Moses genannt. Aber sie hießen ihn immer Mischa.

 

Sie haben die Brücke betreten. Weit unten war ein Fluss. Mischa hat erkannt: Das ist seine letzte Chance. Leise öffnete er die Knöpfe am Mantel, und als er in die Mitte der Brücke kam, sprang er nach unten. Der Mantel blieb in den Händen der Polizisten.

 

Mischa tauchte wie eine wilde Ente auf, sammelte Luft, und tauchte wieder unter Wasser. "Ich habe Schüsse gehört: Polizisten haben von der Brücke versucht, zu mir zu zielen. Ich habe «in ihrem Fokus» einen Kilometer geschwommen, dann einen zweiten. Er versteckte er in Reben in der Nähe des Ufers. Erst als es ruhig wurde, ging er durch den Garten des Hauses und setzte sich unter einen Busch. Es waren zwei Personen im Hof. Sie sprachen von einem Jungen, den die Polizisten zur Kommandantur geführt hatten: "Sie sagen, er sei davongelaufen und sie haben ihn erschossen." Mischa zitterte unter dem Busch wie ein Hase: sowohl vor Kälte als auch vor Angst. "Aber ich habe mich entschieden, zu diesen Leuten zu gehen."

  

"Ihr seid nette Leute. - Ich bin der Typ, von dem ihr sprecht. Bitte gebt mir etwas Milch."» Die Frau eilte ins Haus, brachte Kleidung und ganz viel Milch heraus. Er hat sich angezogen, getrunken, sich bedankt und sich verabschiedet. "Wie kann man wissen, welche Art von Menschen es sind? Vielleicht geben sie es auf.».

 

Auf dem Weg war ein unfertiges Haus. Er ging hinein, legte sich auf den kalten Boden. Es lag dort drei bis vier Stunden. "Ich bin noch im Dunkeln rausgekommen. Ich bin zu Frau Fivonka gegegangen. Und dann habe ich geweint. Alle haben geweint. Die Frau hat  Wasser erhitzt. Sie hat es in ein Becken gegossen. Sie seift mich ein wie ein kleines Kind." Und er wusste, dass es das letzte Mal war, dass er nicht mehr hier bleiben konnte, um durch die Dörfer zu gehen, um Brot zu bitten.

 

 

"Ich stecke  ihn einen Sack und werfe ihn in den Fluss.»

 

Gute Leute schickten ihn mit einem Freund ins Dorf Hazhin. Aber der Besitzer des Hauses mochte ihn sofort nicht. Als er betrunken war, drohte er: "Ich werde dich davonjagen, wenn du nicht gehorchen willst. Oder ich stopfe dich in einen Sack und werfe dich in den Fluss.»

 

Mischa wartete nicht darauf und rannte davon. In der Kolchose zwanzig Kilometer entfernt wurde gerade nach einem Hirten gesucht. "Ich bin dort geblieben. Das Weidevieh schlief zusammen mit den gefangenen sowjetischen Soldaten im Stall."

 

Jede Woche kam der wichtigste Deutsche auf den Hof. Er ging zu den Arbeitern und hat sich um alle gekümmert. Mischa senkte dann den Kopf und legte seine Hand auf die Brust. Dort lag in der Innentasche ein gefaltetes Vier-Blatt-Papier. Das vorläufige Zertifikat, wo angegeben war, dass er Polishchuk Michail Andreevich ist. Das Dokument hatte eine Frau besorgt. In der Kolchose war er für alle ein Waisenkind. Eine Bombe traf das Haus, Verwandte starben, und er rettete sich: Das war seine Legende.

 

Es war ziemlich schlimm bei den Hausherren. Brot aus Erbsenmehl, Erbsen-Polenta in mageren Portionen. Mischa erinnerte sich an das 1933-Jahr.

 

"Als meine Mutter einmal Milch bekam, und ich, als ich es sah, meinen kleinen Finger ins Mehl steckte, mit ihm über die Oberfläche fuhr, saure Sahne sammelte und dann lange an meinem Finger saugte.

 

Und irgendwann haben sie gefrorene Ware gekauft. Es sollte Fleisch sein. Natürlich war es Gelee ohne eine Prise Fleisch. Als wir aßen, stießen wir auf einen menschlichen Nagel. Nach diesem Fall war Gelee nie mehr auf meinem Esstisch."

 

 

"Unsere " sind gekommen."

Dezember 1943

 

In den letzten Dezembertagen stand fest: »Die Unseren sind gekommen"! Jemand hat fröhlich geschrien, ein anderer hat seine Mütze in die Luft geworfen, wieder andere konnten die Tränen nicht zurückhalten. "Ist es wirklich vorbei?" Mischa konnte nicht glauben, dass man keinen Tod mehr fürchten muss, der ihn seit mehr als zwei Jahren nicht mehr aus dem Visier genommen hatte. "Danke, allmächtiger Gott"." Jetzt erinnert er sich oft an den Namen des jüdischen Gottes, den er einst bei seinem Vater gehört hatte.

 

Am 31. Dezember ritt er auf einem Pferd der Kolchose zu seiner Retterin, Frau Fivonka. Diese fremde Frau war jetzt seine einzige Verwandte. Mischa-Moses Weinschelboym, der den Tod hinter sich ließ, raste nun dem Leben entgegen. Er hat den Tod überholt. Obwohl er allein gelassen wurde, wie ein Finger.

 

Fast ein halbes Jahrhundert später wird Baba Fivonka-Filena Korshevnyuk-Savelko vom Staat Israel den Titel «Gerechter der Völker der Welt» erhalten. Denn im Talmud steht geschrieben: "Wer ein Leben rettet, der wird die ganze Welt retten."

 

***

 

"Die zukünftige Schwiegermutter hat zu mir gesagt: Erzähl mir, was du das alles erlebt hast. Ich habe am Abend angefangen, am Morgen war ich fertig. Die ganze Nacht habe ich erzählt ", lächelt Michael Weinschelboom. - "Manchmal glaube ich auch nicht, dass ich das alles durchgemacht habe und dass ich dreimal vor dem Tod bewahrt worden bin."

 

Wir sitzen in seiner Zweizimmerwohnung im Zentrum von Berditschew. Bei Onkel Mischa, so nennen ihn alle. Ein schwarzer Anzug, ein weißes Hemd, und auf dem Kopf seine Mütze. Das Gesicht ist von Falten durchzogen, aber hell und offen, trotz der dunklen Zeiten, die er durchgemacht hat.

 

Aus dem Vorkriegsleben, außer den Erinnerungen, hat Onkel Mischa nur ein einziges Foto. Darauf hält eine Frau einen kleinen Jungen auf dem Schoß. Hinter ihrem Rücken ist ein Mann, und auf beiden Seiten die älteren Kinder. Auf Mamas Schoß ist ein kleiner Mischa. Das Foto wurde 1929 oder 1930 gemacht. Die Leute auf dem Foto hatten keine Ahnung von der Tragödie, die ihnen in elf Jahren passieren würde. Das Foto schickte Feige ihrer Schwester in die Vereinigten Staaten von Amerika. Und die gab es 1961 an ihren Neffen weiter. Dem einzigen, der überlebt hat.

 

"Ich bin 94 Jahre alt, lebe aber noch. Ich säe Petersilie, pflanzt Kartoffeln. Ich liebe die Erde." Als er in Rente ging, säte er Roggenweizen und verteilte das Getreide kostenlos an die Menschen. "Großvater liebte die Erde. Und Papa liebte sie auch. Ich erinnere mich, dass wir hinter dem Haus immer einen neuen Gemüsegarten hatten ", versichert Onkel Mischa.

 

Als der Krieg zu Ende war, war Michael Weinschelboom in Berditschew. Die überlebenden Juden kehrten aus der Evakuierung in die Stadt zurück, und er hielt sich zu entfernten Verwandten. Nach seinem Dienst in der Luftwaffe heiratete er das Mädchen Sophie, mit dem er 65 Jahre zusammenlebte.

 

"Ich habe die ganze Zeit in Mühlen gearbeitet. Ich habe das Getreide geerntet, das Mehl gemahlen. Vielleicht, unbewusst, bewahrte er so seine letzte Erinnerung an Mama und den Tag, als es noch nicht war einsam: Feige knetet Teig, und im Licht der Kerzen fliegen ihre Hände wie Flügel über den Tisch, und das Mehl legt sich wie feiner Staub auf die Oberfläche. .

 

Vor zehn Jahren, nach dem Tod seiner Frau, war er wieder verwaist. "Obwohl ich mich immer einsam gefühlt habe, ist es eine
Sünde, dies zu verstecken. Würdest du jemandem erklären, wie es ist, zu überleben, wenn alle gestorben sind?"

 

Im Raum auf dem Kleiderständer stehen ein paar helle Hemden: Onkel Mischa kleidet sich täglich festlich. Denn wie kein anderer weiß er: Jeder Alltag ist ein Feiertag, wenn man morgens aufwacht. Trotz seines ehrwürdigen Alters steigt, vier Stockwerke die Treppe hinunter, geht in die Synagoge und ins jüdische Gebet. Beten und Gott danken. In seinen achtzig Jahren Einsamkeit.

 

"Ich selbst? Das Schicksal sieht so aus wie ich. Wer befehligt uns? In den jüdischen Büchern steht: "Gott gibt die Seele, und Gott nimmt die Seele." Und was ist die Seele? Das Wort «atmen»?  Onkel Mischa schaut mir in die Augen, als ob er versucht, dort eine Antwort zu finden. Ich schweige. - "Du weisst es nicht? Ich weiß es auch nicht."

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Andy L (Sonntag, 15 Mai 2022 19:45)

    Es tönt so "einfach".
    Unvorstellbar was er alles durchmachen und mit sehr viel Gottvertrauen sich durchschlagen musste