BEFREIUNG OHNE SIEG / DIE UKRAINE MUSS GEWINNEN
Gespräch von «THE ATLANTIC» mit Wolodymyr Selenskji
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Wer ist Wolodymyr Selenskij? Myroslaw Marynowytsch, der Verfasser von "Das Universum hinter dem Stacheldraht", seiner Memoiren über sein Engagement für die Menschenrechte in der Sowjet-Ukraine, der dafür mit 7 Jahre Straflager und 5 Jahre Verbannung gestraft wurde, sagte mir: "Zuerst war ich von ihm nicht überzeugt. Seit Beginn des grossen Krieges sehe ich ihn als den Mann, der Gott uns geschickt hat - ein Wunder in dieser Situation."
Wer Selenskij kennenlernen will, dem empfehle ich, sich den Film 1-2 aus der 1. Serie von "Diener des Volkes" anzusehen. Dort spielt er als Komiker einen jungen Typen, der von der Nachricht überrascht wird, dass er als Präsident gewählt worden ist. Fans von ihm hatten ihn zur Wahl als Präsidenten vorgeschlagen, worauf er sich scherzhaft einliess. Aus dem Scherz wird Ernst. Beim Frühstück und noch in den Unterhosen und Leibchen anzogen wird er überrascht, dass er zum Präsident gewählt wurde, und deshalb sofort mitkommen muss, um die Wahl zu unterschreiben. Mit einer Staatskarosse mit Blaulicht wird er zum Parlament geführt, und muss nachher sofort viele Interviews geben . Was er denn als erstevorhabe? Er wisse das noch nicht, er müssen sich erst informieren, und sehe dann, was dran ist.
Hier der Film
(111) [UNTERTITEL] Servant of the People Folge 1&2 (Diener des Volkes) - YouTube
Ein völlig unüblicher Typ wird Präsident. Was Selenskji in der Komödie gespielt hat, geschieht später tatsächlich. Viele Ukrainer wünschten sich einen anderen Präsidenten, jemand jüngeren, der nicht in die damals üblichen politischen Spiele verwickelt ist. Überhaupt glaubten und glauben auch heute die wenigsten Ukrainer an die Politik, sie hat sie zu sehr enttäuscht.
Selenskij wird ermutigt, sich für die Wahl zu bewerben. Ein Oligarche, der sich selbst ebenfalls eine Ukraine ohne die alten Machtspiele wünscht, unterstützt seine Kampagne (unterdessen hat Selenskji ihn entlassen, da er sich doch als korrupt erwies). Und er siegt haushoch.
Schon bei den Wahlveranstaltungen verspricht er die Bekämpfung der Korruption und das Ende des Kriegs im Osten des Landes, der bereits viele Opfer gefordert hatte. Er will das Land weiter modernisieren, damit es den Anschluss an den Westen findet.
Nach der Wahl sammelt er ein Beraterteam von Freunden um sich, die er allerdings immer wieder auswechselt, da sie ihm zu wenig hilfreich erscheinen. Es kommt auch zu einer Begegnung mit Putin, der ihn nicht wirklich ernst nimmt. Trump will ihn später erpressen, wofür Trump später in den USA angeklagt wird. Die russische Propaganda bezeichnet ihn als Drogensüchtigen, Spielball des Westens und als Nazi. Ausgerechnet er, der von jüdischer Herkunft ist.
Die hohen Erwartungen an Selenskij werden im Laufe seiner Präsidentschaft bald enttäuscht. Er kann den Krieg nicht beenden, im Gegenteil, er muss die Armee in ihrem Kampf durch Angriffe aus dem Donbas stärker fördern und die Armee von allzu nationalistischen Gruppierungen trennen. Zuerst aber entlässt er den ganzen Polizeikorps, der völlig korrupt ist. Danach können sich alle bewerben, die bereit sind, unter neuen Bedingungen weiterzuarbeiten. Aber die vielen nötigen weiteren Reformen sind nicht leicht umzusetzen und er kann sich auch nicht überall. Vor dem Angriff Russlands sind nur noch 31% der Bevölkerung von seiner Präsidentschaft überzeugt.
Doch mit dem Krieg geschieht bei Selenskij sofort eine Verwandlung. Er steht vor sein Volk hin wie ein neuer Präsident. Sofort meldet er sich mit Selfie-Videos, damit alle sehen können, dass das Gerücht, er sei geflüchtet, nicht wahr ist. Seither spricht er täglich zum Volk, ist dauernd unterwegs, um sich dort zu zeigen, wo Menschen vom Krieg betroffen sind und bei der Armee an der Front.
Den Wandel zeigt er mit seinen Kleidern. Er ist nicht mehr ein Präsident im Anzug - er trägt Kleider in Tarnfarben und zeigt damit: Ich bin wie ihr alle im Krieg.
Er empfängt Staatspräsidenten und andere Entscheidungsträger, spricht zu Parlamenten und unterdessen auch zur UNO, EU und NATO mit Klartext: Die Ukraine kann nur überleben, wenn sie rasch und massiv mit Waffen und Munition versorgt wird. Und es geht bei ihrem Kampf letztlich um die Freiheit und Werte des ganzen Westens. Er macht immer wieder Druck, die Ukraine besser zu unterstützen, was nicht überall gut ankommt.
Er handelt rasch und damit autoritär, ohne lange Prozesse der Genehmigung durch das Parlament. Der Krieg erfordert es. Zudem kämpft an zwei Fronten: gegen aussen um den Sieg über Russland, im Innern gegen korrupte Zustände. Wie etwa, dass Zuständige für die Rekrutierung bestochen werden konnten und sich bereicherten, indem sie Männer, die kein Dienst leisten wollen, für Geld als dienstuntauglich erklärten.
Der Mann ist sicher nicht zu beneiden mit seiner Belastung. Er scheint ihr wirklich gewachsen zu sein, obwohl auch er nur ein Mensch ist. Was ihm hilft, ist seine ausserordentliche Begabung in der Kommunikation. Und wohl auch sein tägliches Krafttraining und den Halt in einer funktionierenden Familie. Das Interview zeigt ihn aber auch an Rückenschmerzen leidend.
Eine Last ist sicher auch, dass er nicht nur in Russland mit Argusaugen beobachtet wird und einige hoffen, dass er an eigenen Fehlern und Schwächen scheitert. Klar ist, was mit ihm geschehen wird, falls Russland siegt: Er wird wegen Hochverrat angeklagt und zur Todesstrafe verurteilt. Der Plan Russlands ist klar (siehe Dokument am Schluss).
Hier noch einige Grunddaten zu aus der Wikipedia:
Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj (ukrainisch Володимир Олександрович Зеленський; * 25. Januar 1978 in Krywyj Rih, Ukrainische SSR, Sowjetunion) ist seit Mai 2019 der Präsident der Ukraine. Nach seinem Jurastudium erlangte er in der Ukraine und in Russland Popularität als Schauspieler, Komiker, Synchronsprecher, Regisseur, Fernsehmoderator, Filmproduzent und Drehbuchautor. Nachdem Selenskyj im Frühjahr 2019 den ersten Wahlgang und die Stichwahl der Präsidentschaftswahl in der Ukraine mit etwa 73 Prozent der abgegebenen Stimmen klar vor dem amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko gewonnen hatte, wurde er am 20. Mai 2019 in Kiew in das Amt des Präsidenten eingeführt.
Mehr: Wolodymyr Selenskyj – Wikipedia
Im Folgenden das Gespräch des amerikanischen Magazins "The Atlantic" mit Wolodymyr Selenskji.
BEFREIUNG OHNE SIEG
In einem ausführlichen Gespräch auf seinem Anwesen in Kiew erklärt der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky gegenüber "The Atlantic", was die Ukraine zum Überleben braucht - und beschreibt den Preis, den sie dafür bezahlt hat.
Von Anne Applebaum und Jeffrey Goldberg
Wolodymyr Selenskij
Foto von Christopher Occhicone für The Atlantic
15. APRIL 2022
Kiew ist jetzt halbwegs normal. Ausgebrannte russische Panzer wurden von den Straßen entfernt, die in die Stadt führen, die Ampeln funktionieren, die U-Bahn fährt, es gibt Orangen zu kaufen. Ein fröhliches Volksorchester spielte Anfang der Woche am Hauptbahnhof für die zurückkehrenden Flüchtlinge, an dem Tag, an dem wir ankamen, um Wolodymyr Selenskji, den Präsidenten der Ukraine, zu treffen.
Die Normalität ist trügerisch. Obwohl die Russen ihren Eröffnungsfeldzug verpfuscht haben, bombardieren sie weiterhin die Hauptstadt und sammeln sich jetzt im Osten für einen erneuten Angriff auf die Ukraine. Selenskij muss sein Land und die Welt auf Kämpfe vorbereiten, die tödlicher sein könnten als alles bisher Dagewesene. Der für die Verteidigung von Kyjiw zuständige General Alexander Grusewytsch sagte uns bei einem Rundgang durch die verwüsteten nordwestlichen Vororte, dass er damit rechnet, dass die Russen versuchen werden, in die Hauptstadt zurückzukehren und dabei eine verstärkte Taktik der «verbrannten Erde» anwenden werden: totale Zerstörung durch Bodenartillerie und Luftangriffe, gefolgt von der Ankunft der Truppen.
Als wir Selenskij am Dienstagabend in Kiew trafen, sagte er uns dasselbe: Der Optimismus, den viele Amerikaner und Europäer - und sogar einige Ukrainer - derzeit an den Tag legen, ist ungerechtfertigt. Wenn die Russen nicht aus den östlichen Provinzen der Ukraine vertrieben werden, so Selenskij, «können sie in das Zentrum der Ukraine und sogar nach Kyjiw zurückkehren. Das ist möglich. Jetzt ist noch nicht die Zeit des Sieges». Die Ukraine kann nur dann siegen - und mit «siegen» meint er, dass sie als souveräner, wenn auch permanent belagerter Staat weiterbestehen kann -, wenn ihre Verbündeten in Washington und Europa schnell handeln und das Land ausreichend bewaffnen. «Wir haben ein sehr kleines Fenster der Gelegenheit», sagte er.
Es war schon spät am Abend, als wir Selenskij auf seinem Gelände trafen. Die umliegenden Strassen waren verbarrikadiert und leer, das Gebäude selbst war fast völlig verdunkelt. Soldaten mit Taschenlampen führten uns durch ein Labyrinth von mit Sandsäcken gesicherten Gängen in einen grell beleuchteten, fensterlosen Raum, der nur mit ukrainischen Flaggen geschmückt war. Es gab kein förmliches Protokoll, keine lange Wartezeit, und man wies uns nicht an, am äußersten Ende eines länglichen Tisches Platz zu nehmen. Selenskij, der Komiker, der weltweit zu einer Ikone der Freiheit und des Mutes geworden ist, betrat den Raum ohne Fanfarenklänge - nicht wie Putin mit Prunk, Roten Teppich und schmucken Soldaten.
«Hallo!», sagte er fröhlich und beklagte sich dann über seinen Rücken. («Ich habe einen Rücken, und deshalb habe ich einige Probleme, aber es ist okay!») Er dankte uns, dass wir das Interview nicht gefilmt haben: Obwohl er sein ganzes Erwachsenenleben lang ein professioneller Fernsehdarsteller war, ist es eine Erleichterung, gelegentlich nicht gefilmt zu werden.
Ob vor oder hinter der Kamera, Selenskji verhält sich ganz bewusst nicht verstellt. In einem Teil der Welt, in dem Führungsqualitäten in der Regel eine steife Körperhaltung und ein pompöses Auftreten voraussetzen - und in dem das Signalisieren militärischer Autorität zumindest gut sichtbare Schulterklappen erfordert - erweckt er stattdessen Sympathie und Vertrauen, gerade weil er, in den Worten eines ukrainischen Bekannten, «wie einer von uns» klingt. Er ist eine Art Anti-Putin: Anstatt eine kaltblütige, mörderische Überlegenheit zu demonstrieren, möchte er, dass die Menschen ihn als Jedermann verstehen, als einen Vater mittleren Alters mit einem schlimmen Rückenleiden.
Zu Beginn des Interviews erinnerten wir Selenskji, den jüdischen Präsidenten eines mehrheitlich christlich-orthodoxen und katholischen Landes, daran, dass seine Worte am Karfreitag des westlichen Kalenders und kurz vor dem ersten Seder des Pessachfestes erscheinen würden, einem Feiertag, der die Befreiung eines versklavten Volkes von einem bösen Diktator markiert.
«Wir haben Pharaonen in unseren Nachbarländern», sagte Selenskji und lächelte. (Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko ist in den Augen vieler Ukrainer eine Art Vize-Pharao von Putin). Doch obwohl die Ukrainer einem gewaltigen Feind gegenüberstehen, sehnen sie sich nicht nach einem Exodus: «Wir gehen nirgendwohin.»Selenskji hat auch nicht vor, 40 Jahre in der Wüste zu wandern. «Wir haben bereits 30 Jahre unserer Unabhängigkeit hinter uns. Ich möchte nicht, dass wir weitere 10 Jahre für unsere Unabhängigkeit kämpfen müssen.»
Der Einmarsch Russlands hat ihn daran zweifeln lassen, ob es noch möglich ist, Religion mit Moral zu verbinden. «Ich verstehe nicht, wenn religiöse Vertreter Russlands» - hier meinte er den Putin-freundlichen Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche - «sagen, dass sie treu Soldaten ermächtigen, Ukrainer zu töten.» Schlimmer noch: «Ich kann nicht verstehen, wie ein christliches Land, die Russische Föderation, mit der größten orthodoxen Gemeinde der Welt, ausgerechnet in diesen Tagen Menschen töten kann.» Während der Osterzeit planen die Russen «eine große Schlacht im Donbas», der von Russland besetzten Region im äußersten Osten der Ukraine. «Das ist überhaupt kein christliches Verhalten, wie ich es verstehe. An Ostern werden sie töten, und sie werden getötet werden».
Infolgedessen werden viele Ukrainer die heilige Osterzeit unter Belagerung verbringen und sich in Kellern verstecken. Andere werden das Fest gar nicht mehr erleben. Erst vor wenigen Stunden, am frühen Freitagmorgen, schlugen erneut russische Bomben in Kiew ein. «Die Ukraine ist definitiv nicht in Feierlaune», sagte Selenskji. «Normalerweise beten die Menschen für die Zukunft ihrer Familien und ihrer Kinder. Ich denke, dass sie heute für die Gegenwart beten werden, nur um alle zu retten».
Einen Großteil seiner Zeit verbringt Selenskji am Telefon, per Zoom oder Skype, um die Fragen von Präsidenten und Premierministern zu beantworten - oft sind es dieselben Fragen, die sich bis zur Verzweiflung wiederholen. «Ich mag neue Fragen», sagt er. «Es ist uninteressant, Fragen zu beantworten, die man schon einmal gehört hat.» Es frustriert ihn zum Beispiel, wenn er immer wieder nach seiner Wunschliste von Waffensystemen gefragt wird. «Wenn mich einige Führungskräfte fragen, welche Waffen ich brauche, brauche ich einen Moment, um mich zu beruhigen, denn ich habe es ihnen schon in der Woche zuvor gesagt. Es ist wie der Murmeltiertag. Ich komme mir vor wie Bill Murray.»
Er sagt, er habe keine andere Wahl, als es weiter zu versuchen. «Ich komme und sage, dass ich diese bestimmte Waffe brauche. Sie haben sie und wir wissen, wo, sie gelagert ist. Könnt ihr sie uns geben? Wir können sogar unsere eigenen Frachtflugzeuge fliegen und sie abholen; wir können sogar drei Flugzeuge pro Tag schicken. Wir brauchen zum Beispiel gepanzerte Fahrzeuge. Und zwar nicht nur eines pro Tag. Wir brauchen 200 bis 300 pro Tag. Das sind keine persönlichen Taxis, nur für mich, sondern unsere Soldaten brauchen Transportmittel. Flüge sind verfügbar, das Ganze kann organisiert werden, wir können die gesamte Logistik übernehmen.»
Später in der Nacht schickte uns einer von Selenskji Beratern eine SMS mit einer Liste, was genau die Ukraine braucht, um die Invasion aus dem Osten abzuwehren:
Es ist nicht so, dass die verschiedenen Präsidenten und Premierminister, die Sympathie für die ukrainische Sache bekunden, nicht helfen wollen, sagte Selenskji: «Sie sind nicht gegen uns. Sie leben nur in einer anderen Situation. Solange sie ihre Eltern und Kinder nicht verloren haben, fühlen sie nicht so wie wir». Er zieht den Vergleich zu den Gesprächen, die er mit den außergewöhnlichen Verteidigern von Mariupol führt, der belagerten Hafenstadt, in der bisher 21 000 Zivilisten getötet worden sein könnten. «Sie sagen zum Beispiel: 'Wir brauchen Hilfe, wir haben vier Stunden Zeit.' Und selbst in Kiew verstehen wir nicht, was vier Stunden sind. In Washington verstehen sie es sicher auch nicht. Aber wir sind den USA dankbar, weil die Flugzeuge mit den Waffen immer noch kommen.»
Selenskji Stabschef, Andriy Jermak, sprach später am Abend mit uns und äusserte ebenfalls seine Verwirrung über das Tempo, mit dem die Regierung Biden vorgeht. Washington stellt jeden Tag neue Waffen bereit, und Präsident Joe Biden hat gerade zusätzliche 800 Millionen Dollar für die Verteidigung der Ukraine zugesagt. Jermak sagte uns, dass er und Selenskji gute Beziehungen zu vielen wichtigen amerikanischen Akteuren unterhalten - ein Unterschied zur vorherigen Regierung, die ihre Botschafterin kurz vor Donald Trumps «perfektem Telefongespräch» mit Selenskji (das Telefonat, das die erste Anklage auslöste) abzog und sie nicht ersetzte. Biden, so Jermak, sei «ein Mann, dem man vertrauen kann, nicht nur ein Politiker». Er lobte die Aussen- und Verteidigungsminister sowie die Führer des Kongresses. Und er lobte Bidens nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan: «Es gab keine einzige Minute, in der wir nicht ausdrücklich oder inhaltlich gesprochen haben», sagte er.
Alle sind also großartig, aber die Waffen kommen nicht schnell genug? «Bitte sagen Sie mir, mit wem ich noch sprechen soll», sagte Jermak.
Selenskji ist sich darüber im Klaren, dass seine Aufgabe nicht nur darin besteht, Waffenanfragen zu stellen und die Dringlichkeit zum Ausdruck zu bringen, sondern auch alte Stereotypen über die Ukraine als korrupt und inkompetent sowie die russische Propaganda zu überwinden, die der Ukraine das Recht auf Staatlichkeit abspricht. Er möchte ein Bild der Ukraine als modernen und liberalen Staat vermitteln, der durch einen bürgerlichen und nicht durch einen rein ethnischen Nationalismus geeint ist.
«Die USA, Großbritannien, die EU und die europäischen Länder waren immer skeptisch gegenüber unserer Entwicklung und unserem 'Europäertum'«, sagte er. Aber jetzt «haben viele von ihnen ihre Sicht auf die Ukraine geändert und sehen uns als gleichberechtigt an». Für internationale Institutionen hat er überhaupt keine Zeit. Auf die Frage nach der Rolle der Vereinten Nationen bei der Verteidigung der Ukraine, einem ihrer Mitgliedsstaaten, gegenüber Russland, einem Mitglied des UN-Sicherheitsrats, rollt er mit den Augen und zieht eine tragikomische Grimasse. «Gut, dass wir kein Video haben», sagt er. «Beschreiben Sie einfach mit Worten, was Sie in meinem Gesicht sehen.» Sowohl Selenskji als auch Jermak haben darüber nachgedacht und gesprochen, wie alternative internationale Institutionen aussehen könnten. Vielleicht sollte es eine Liste von Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen geben, die automatische Reaktionen auslösen, schlug Jermak vor. Im Moment ist der Prozess der Abgabe von Erklärungen, der Ankündigung von Sanktionen und der Bereitstellung von Antworten jeglicher Art zu komplex, zu bürokratisch und vor allem zu langsam.
Aber wenn westliche Führer Selenskji frustrieren können, treiben die Russen ihn zur Verzweiflung. Seit Beginn des Krieges hat er von Zeit zu Zeit auf Russisch gesprochen und sich an das russische Publikum gewandt, etwas, das er gewohnt ist zu tun: Damit hat er einmal seinen Lebensunterhalt verdient. Seine Film- und Fernsehproduktionsfirma war eine der größten in der Region, mit einem Büro in Moskau und Zuschauern in der gesamten ehemaligen Sowjetunion.
Seine produktive Beziehung zu Russland und den Russen ging 2014 zu Ende, als Menschen, die er seit Jahren kannte, nicht mehr mit ihm sprachen: «Ich hatte einfach nicht erwartet, dass die Leute, viele Partner, Bekannte - ich dachte, sie wären Freunde, aber das waren sie nicht - einfach nicht mehr ans Telefon gehen.» Seitdem haben sich viele Menschen, die er kennt, verändert, «sind brutaler geworden». Da Russland Alternativen zu den staatlichen Medien geschlossen hat - unabhängige Zeitungen, Fernsehsender und Radiosender wurden geschlossen - hat Selenskji festgestellt, dass sich seine alten Bekannten weiter zurückgezogen haben. «Selbst der kleine Teil der intelligenten Menschen, den es noch gab, begann in dieser Informationsblase zu leben», und er findet es sehr schwierig, diese zu durchbrechen. «Das ist der nordkoreanische Virus. Die Menschen erhalten absolut vertikal integrierte Botschaften. Die Menschen haben keine andere Möglichkeit, sie leben in dieser Blase». Er ist sich über den Urheber der Botschaften im Klaren: «Putin hat die Menschen sozusagen ohne ihr Wissen in diesen Informationsbunker eingeladen, und sie leben dort. Es ist, wie die Beatles sangen, ein gelbes U-Boot.»
Nun, da die russische Propaganda immer barocker wird, weiß er manchmal nicht, wie er sie verarbeiten soll. Vielleicht greift er deshalb oft auf popkulturelle Analogien zurück: «Die Art und Weise, wie sie sagen, dass wir hier Menschen essen, dass wir Killertauben haben, spezielle biologische Waffen ... Sie machen Videos, erstellen Inhalte und zeigen ukrainische Vögel, die angeblich ihre Flugzeuge angreifen. Putin und Lukaschenko - sie lassen es wie eine Art politisches Monty Python klingen».
Wenn die Ukraine eine sichere Zukunft haben soll, muss die russische Informationsbarriere durchbrochen werden, sagt er. Die Russen brauchen nicht nur Zugang zu Fakten, sondern auch Hilfe beim Verständnis ihrer eigenen Geschichte und dessen, was sie ihren Nachbarn angetan haben. Im Moment, so Selenskji, «haben sie Angst, ihre Schuld zuzugeben». Er vergleicht sie mit «Alkoholikern, die nicht zugeben wollen, dass sie Alkoholiker sind». Wenn sie gesund werden wollen, «müssen sie lernen, die Wahrheit zu akzeptieren». Die Russen brauchen Führungspersönlichkeiten, die sie wählen, denen sie vertrauen, «Führungspersönlichkeiten, die dann kommen und sagen können: 'Ja, das haben wir getan'. So hat es in Deutschland funktioniert.»
Während des gesamten Gesprächs zeigte Selenskji seine Gabe für Spontaneität, Ironie und Sarkasmus. Er erzählte zwar keine Witze, aber er sagte, dass er sich vom Humor nicht ganz trennen kann. «Ich glaube, dass jeder normale Mensch ohne ihn nicht überleben kann. Ohne Sinn für Humor, wie Chirurgen sagen, wären sie nicht in der Lage, Operationen durchzuführen - Leben zu retten und auch Menschen zu verlieren. Ohne Humor würden sie einfach den Verstand verlieren.»
Das Gleiche gilt jetzt für die Ukrainer: «Wir können sehen, was für eine Tragödie wir haben, und es ist schwer, damit zu leben. Aber man muss damit leben... Man kann nicht ernst nehmen, was russische Politiker und Lukaschenko jeden Tag sagen. Wenn man es ernst nimmt, kann man sich genauso gut aufhängen.»
Hat Putin Angst vor Humor?
«Sehr sogar», sagte Selenskji. Humor, so erklärte er, enthüllt tiefere Wahrheiten. Die berühmte Fernsehserie «Diener des Volkes», in der Selenskji die Hauptrolle spielte, machte sich über die Wichtigtuerei der ukrainischen Politiker lustig, griff die Korruption an und stellte den kleinen Mann als Helden dar; viele seiner Sketche waren kluge Satiren auf die politischen Führer und ihre Haltung. «In den alten Königreichen war es den Narren erlaubt, die Wahrheit zu sagen», sagte er, aber Russland «fürchtet die Wahrheit». Die Komödie bleibt «eine mächtige Waffe», weil sie zugänglich ist. «Komplexe Mechanismen und politische Formulierungen sind für Menschen schwer zu begreifen. Aber durch Humor ist es einfach; es ist eine Abkürzung.»
Der Humor in der Ukraine ist jetzt hauptsächlich von der dunkelsten Sorte. In manchen Momenten wirkte Selenskji fassungslos über die Grausamkeit des Ganzen. Er versuchte zu erklären, warum er - und die meisten Ukrainer - keine große Genugtuung über ihre Siege auf dem Schlachtfeld empfinden können. Ja, sie haben die mächtige russische Armee aus dem nördlichen Teil des Landes vertrieben. Ja, sie haben nach ihren Angaben mehr als 19 000 russische Soldaten geopfert. Ja, sie behaupten, mehr als 600 Panzer erbeutet, zerstört oder beschädigt zu haben. Ja, sie sagen, sie hätten das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte versenkt. Ja, sie haben das Bild ihres Landes und ihr Selbstverständnis verändert. Aber der Preis dafür war kolossal.
Zu viele Ukrainer, so erzählte uns Selenskji, starben nicht im Kampf, sondern «bei der Folterung». Kinder erlitten Erfrierungen, als sie sich in Kellern versteckten; Frauen wurden vergewaltigt; ältere Menschen verhungerten; Fußgänger wurden auf der Straße erschossen. «Wie werden diese Menschen den Sieg genießen können?», fragte er. «Sie werden nicht in der Lage sein, den russischen Soldaten das anzutun, was [die Russen] ihren Kindern oder Töchtern angetan haben, also werden sie diesen Sieg nicht spüren.» Ein wirklicher Sieg werde erst eintreten, wenn die Täter vor Gericht gestellt, verurteilt und bestraft werden.
Aber wann wird das sein? «Wie lange müssen wir noch warten? Es ist ein langer Prozess, diese Gerichte, Tribunale, internationalen Gerichte».
Plötzlich wurde er persönlich. Er hat zwei Kinder, erinnerte er uns. «Meine Tochter ist fast 18. Ich will mir das nicht vorstellen, aber wenn meiner Tochter etwas passiert wäre, wäre ich nicht zufrieden gewesen, wenn der Angriff abgewehrt worden wäre und die Soldaten weggelaufen wären», sagte er. «Ich hätte nach diesen Menschen gesucht und sie gefunden. Und dann hätte ich mich als Sieger gefühlt.»
Was hätte er getan, wenn er sie gefunden hätte?
«Ich weiß es nicht. Alles.»
Dann wurde er nachdenklich, als ob er sich an die Rolle erinnerte, die ihm die Geschichte zugedacht hat, als Avatar der demokratischen Zivilisation, der der Grausamkeit eines gesetzlosen Regimes gegenübersteht. «Wenn man Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft sein will, muss man sich beruhigen, denn das Gesetz entscheidet über alles.»
Aber er spürt mit dem Herzen, was so viele Ukrainer empfinden. «Es wird keinen vollständigen Sieg für die Menschen geben, die ihre Kinder, Verwandten, Ehemänner, Ehefrauen und Eltern verloren haben. Das ist es, was ich meine», sagte er. «Sie werden den Sieg nicht spüren, auch wenn unsere Gebiete befreit sind.»
Anne Applebaum ist Redakteurin bei "The Atlantic".
Jeffrey Goldberg ist Chefredakteur von "The Atlantic" und wurde mit dem "National Magazine Award for Reporting" ausgezeichnet. Er ist der Autor von "Prisoners: Eine Geschichte von Freundschaft und Terror".
Russlands Plan mit der Ukraine nach seinem Sieg
Zu finden im zweiten Beitrag
Wie funktioniert die russische Propaganda - Blog Max Hartmann (max-hartmann.ch)
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