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Religion in ihrer positiven Relevanz

Die Vielfalt religiöser Erfahrung

Eine Studie über die menschliche Natur

 

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Religion ist für die meisten negativ besetzt. Sie scheint nicht zur heutigen Zeit zu passen, ist ein Relikt von früher, erinnert an zahlreiche Missbräuche in der institutionalisierten Religion, den Kirchen.

 

Worum geht es eigentlich? Was könnte Religion in einem gesunden Sinn bedeuten?

 

 

William James (1842-1910) war ein US-amerikanischer Psychologe und Philosoph, Professor an der Harvard-University. Er gilt als Begründer der Psychologie in den USA und als einer der wichtigsten Vertreter des philosophischen Pragmatismus.

 

Das Buch «Die Vielfalt der religiösen Erfahrung» enthält 20 Vorlesungen, zu denen er von der Universität Edinburgh eingeladen worden war. Es überrascht, wie seine Gedanken, 1902 geäussert, so aktuell erscheinen, wie wenn sie heute ausgesagt worden wären. James beschränkt sich in seiner Studie ganz auf die persönliche Seite der Religion. Was er dabei beobachtet, ist grundlegend für das Menschsein überhaupt. James zeigt positiv den Wert einer gesunden persönlichen Religiosität auf. Was das Institutionelle betrifft, hält er sich zurück und wäre sehr kritisch.

 

Das passt zu unserer Zeit: Religion – ja, aber als eine sehr persönliche Angelegenheit. Kirche – nein. Der moderne Mensch will sich nicht vorschreiben lassen, was er zu glauben hat. Und überhaupt hat die institutionelle Religion längst jede Glaubwürdigkeit verloren im Blick auf ihre Skandale. Persönliche Religion dagegen ist existentiell relevant.

 

 

I. Das Wesen der Religion

 

In der persönlichen Religion geht es um die geistige Disposition (Veranlagung) des Menschen: sein Gewissen, seine Verdienste, seine Hilflosigkeit, seine Unvollkommenheit. Und es geht um die Beziehung von Herz zu Herz und Seele zu Seele zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer.

 

Echte persönliche Religiosität hat etwas Feierliches, Ernsthaftes und Zartes in sich. Was das Wort «göttlich» meint, bedeutet nicht nur das Ursprüngliche, Umfassende und Wirkliche. Es geht ebenso um eine positive persönliche Resonanz.

 

Im Unterschied zu einem Glauben an ein unbestimmtes Schicksal will der christliche Gott geliebt werden. Die Religion kommt uns zu Hilfe und nimmt unser Schicksal in ihre Hände, wird zu einem sicheren Hort: Die Todesstunde unserer Moral wird zur Geburtsstunde unserer Spiritualität. Diese bringt einen Zauber ins Leben, der nicht rational oder logisch ableitbar ist. Diese Verzauberung kommt, wenn sie kommt, als ein Geschenk. Wir erleben sie oder erleben sie nicht. So gesehen ist das religiöse Empfinden eine absolute Bereicherung für das subjektive Lebensspektrum. Es gibt dem Subjekt eine neue Kraftsphäre. Das religiöse Empfinden befreit und belebt unsere innere Welt, die sonst eine leere Wüste wäre.

 

 

II. Die Wirklichkeit des Unsichtbaren

 

In der Religiosität geht es um die Überzeugung von einem Objekt, das wir nicht sehen können. Wir können handeln, als ob es einen Gott gäbe; fühlen, als ob wir frei wären; die Natur betrachten, als ob sie von besonderen Zwecken erfüllt wäre; planen, als ob wir unsterblich wären; und dann stellen wir fest, dass diese Worte unser sittliches Leben wahrhaft verändern.

 

In manchen Köpfen nimmt die «Wissenschaft» den angestammten Platz der Religion ein. - Woher kommt überhaupt Religion? Es scheint so zu sein, als gäbe es im menschlichen Bewusstsein ein Empfinden von Realität, ein Gefühl von objektiver Gegenwart, von «da ist etwas».

 

In religiösen Biographien ist nichts so verbreitet wie der Wechsel von lebendigen und schwierigen Glaubensphasen. Wahrscheinlich erinnert sich jeder religiöse Mensch an besondere Krisen, in der eine unmittelbare Wahrheitsschau eintrat, vielleicht sogar die unmittelbare Wahrnehmung eines lebendigen Gottes, und die Lauheit des gewöhnlicheren Glaubens überwand.

 

Wenn Sie überhaupt Intuitionen (Eingebungen) haben, dann kommen diese aus einer Schicht Ihres Wesens, die tiefer liegen als die geschwätzige Schicht, die der Rationalismus bewohnt.

 

 

III. Die Religion des gesunden Geistes

 

Hinter einer gesunden Religiosität steht gewöhnlich eine Krise und eine innere Wendung. Etwas muss Platz machen, eine angeborene Verhärtung muss zusammenbrechen und flüssig werden. Ein solches Ereignis tritt meistens plötzlich und wie von selbst auf und hinterlässt bei dem Betroffenen den Eindruck, er sei von einer äusseren Macht angegangen worden. Es geht darum, dass das eigene kleine, private, verkrampfte Selbst zur Ruhe kommt. Die von der Umgebung ausgehende Suggestivwirkung (Beeinflussung) spielt in jeder spirituellen Beziehung eine enorme Rolle.

 

 

IV. Die Realität der kranken Seele

 

Innerhalb der christlichen Kirche, für die die Schulderkenntnis von Anfang an die entscheidende religiöse Handlung ist, hat das Streben nach geistiger Gesundheit immer eine wichtige Rolle gespielt. Sobald wir einräumen, dass das Böse ein wesentlicher Bestandteil unseres Daseins ist und der Schlüssel zur Deutung unseres Lebens, halsen wir uns ein Problem auf, das es zu lösen gilt. Ein grundsätzlicher Fehler, der Mangel liegt im Wesen unserer Natur. Um es zu beheben, reicht keine Veränderung der Umwelt oder eine oberflächliche Korrektur des Innenlebens aus. Es erfordert vielmehr ein übernatürliches Heilsmittel.

 

Mitgefühl, Schmerz, Angst und das Gefühl menschlicher Hilflosigkeit erschliessen eine tiefere Einsicht. Der tiefere Sinn des Lebens kann nur durch die Erfahrung von Demütigung erreicht werden, die das Scheitern hervorbringt.

 

Zum normalen Lauf des Lebens gehören Momente der Art, wie sie in der melancholischen Geistesgestörtheit zuhauf auftreten: Momente, in denen das Böse radikal zuschlägt.

 

 

V. Die Krise der Bekehrung

 

Bekehrung, Wiedergeburt, Gnadenempfang, religiöse Erfahrung, Erlangung von Gewissheit: dies sind verschiedene Ausdrücke zur Bezeichnung des schrittweisen oder plötzlichen Prozesses, durch den ein bisher gespaltenes und sich schlecht unterlegen und unglücklich fühlendes Selbst seine Ganzheit erlangt und sich jetzt, stärker gestützt auf religiöse Wirklichkeiten, gut, überlegen und glücklich fühlt.

 

Die Krise ereignet sich meist zwischen 14 und 17 Jahren. Die Symptome sind dieselben: ein Gefühl der Unvollständigkeit und Unvollkommenheit; Grübeln, Depressionen, krankhafte Selbstbespiegelung und Schuldgefühle, Angst vor dem Danach, quälende Zweifel und ähnliches. Und das Ergebnis ist dasselbe: ein glückliches Gefühl der Erleichterung und eine Objektivität, sobald das Selbstvertrauen durch Anpassung der Fähigkeiten an den erweiterten Gesichtskreis wächst.

 

Eine Bekehrung, die jemand erlebt, ist ein sehr reales, endgültiges und denkwürdiges Ereignis. Der echte Christ ist ein ganz neues Gebäude, vom Grund- bis zum Schlussstein. Er ist ein neuer Mensch, eine neue Kreatur.

 

 

VI. Heiligkeit

 

Die Früchte der religiösen Erfahrung sind das Beste überhaupt, was die Geschichte zu bieten hat. Die höchsten Wagnisse der Liebe, Hingabe, Treue, Geduld, Tapferkeit, zu denen die menschliche Natur sich aufgeschwungen hat, sind im Namen religiöser Ideale unternommen worden.

 

Reife Charakterfrüchte der Religion:

 

1. Das Gefühl, in einem grösseren Lebenszusammenhang zu existieren, der über die selbstsüchtigen kleinen Interessen dieser Welt hinausreicht; und die nicht nur verstandesmässige, sondern gewissermassen fühlbare Überzeugung von der Existenz einer vollkommenen Macht.

2. Das Empfinden, dass die vollkommene Macht unserem eigenen Dasein freundschaftlich verbunden ist, und die Bereitschaft, sich ihrer Lenkung zu unterwerfen.

3. Eine gewaltige Begeisterung und ein Gefühl der Freiheit, da die beschränkenden Grenzen des Ichs aufgehoben sind.

4. Die Verlagerung des Gefühlszentrums zu Empfindungen der Liebe und Harmonie, hin zum «Ja, Ja» und weg vom «Nein, Nein», wenn es um Ansprüche des Nicht-Ich geht.

 

Diese grundlegenden inneren Bedingungen haben charakteristische praktische Konsequenzen:

 

A) Askese – Die Selbstaufgabe kann so leidenschaftlich werden, dass sie in Selbstaufopferung übergeht.

B) Seelenstärke – Die Empfindung der Daseinserweiterung kann so erhebend sein, dass persönliche Motive und Hemmungen, die gewöhnlich allgegenwärtig sind, so an Bedeutung verlieren, dass sie nicht mehr wahrgenommen werden und Geduld und Tapferkeit in ganz neue Bereiche vorstossen. Ängste und Sorgen lösen sich auf, ein segensreicher Gleichmut tritt an die Stelle.

C) Reinheit – Die Verlagerung des Gefühlszentrum bewirkt zunächst eine zunehmende Reinigung. Die Sensibilität gegenüber spirituellen Dissonanzen ist gesteigert, und die Reinigung der Existenz von brutalen und sinnlichen Elementen wird zum Imperativ.

D) Nächstenliebe – Die Verlagerung des Gefühlszentrum führt zweitens zu einer Zunahme der Nächstenliebe und der Freundlichkeit gegenüber den Artgenossen. Der Heilige liebt seine Feinde und behandelt den widerwärtigsten Bettler wie seinen Bruder. Der heilige Mensch wird ausserordentlich feinfühlig.

 

 

VII. Mystik (Gotteserfahrung)

 

Vier Merkmale:

 

1. Unausprechbarkeit – Der Betroffene erklärt sofort, dass ihm der Ausdruck fehlt, dass er über den Inhalt seiner Erfahrung verbal nicht angemessen berichten kann. Es kann anderen nicht mitgeteilt oder auf sie übertragen werden.

2. Noetische Qualität – Obwohl Gefühlszuständen ähnlich, sind mystische Zustände für die, die sie erfahren, anscheinend auch Erkenntniszustände. Verbunden mit diesem Zustand sind Einsichten in Tiefen der Wahrheit, die vom diskursiven Verstand nicht ausgelotet werden. Es handelt sich um Erleuchtungen, Offenbarungen, die bedeutungsvoll und wichtig erscheinen.

3. Flüchtigkeit – Mystische Zustände können nicht für lange Zeit aufrechterhalten werden. Sie dauern eine halbe oder höchstens eine Stunde. Danach verblassen und können nur in eingeschränkter Qualität zurückerinnert werden.

4. Passivität – Obwohl das Auftreten von mystischen Zuständen durch vorausgehende Willensleistungen erleichtert werden kann, etwa durch das Fixieren der Aufmerksamkeit oder durch gewisse körperliche Übungen, hat der Mystiker das Gefühl, sein eigener Wille sei ausser Kraft gesetzt, und fühlt sich manchmal sogar von einer höheren Macht ergriffen und gehalten. Es geht um eine Wahrnehmungserweiterung.

 

Ich glaube, wir müssen uns mit der traurigen Wahrheit abfinden, dass der Versuch, auf dem Wege der reinen Vernunft die Echtheit religiöser Befreiungserlebnisse zu demonstrieren, absolut hoffnungslos ist. In jedem lebendigem Akt der Wahrnehmung ist etwas Glitzerndes und Funkelndes, das sich nicht einfangen lassen will und für das die Reflexion zu spät kommt.

 

 

VIII. Weitere Kennzeichnungen

 

Bei den natürlichen Ausformungen der Religion durch den Geist darf man nie das ästhetische Moment vergessen (Erfahrung von Schönheit).

 

Was das Beten für Kranke betrifft, so steht fest, wenn innerhalb der Medizin überhaupt irgendetwas feststeht, dass Gebete unter Umständen zur Genesung beitragen und als therapeutische Massnahmen unterstützt werden sollten.

 

Gebet ist die Seele und das Wesen der Religion. Sie besteht darauf, dass Gebete Dinge in Gang setzen, die auf andere Weise niemals zustande kämen: das Gebet setzt Energien frei, die ohne das Gebet gebunden wären, und diese Energie tritt in objektiven oder subjektiven Bereichen der wirklichen Welt in Kraft. Der religiös entscheidende Punkt ist, dass beim Beten spirituelle Energie, die ansonsten schlummern würde, aktiviert wird und ein reales spirituelles Geschehen in Gang setzt.

 

Das Gefühl, Instrument einer höheren Macht zu sein, entfaltet sich vor allem auf dem weiten Feld der «Inspiration».

 

 

VIII. Schlussfolgerungen

 

1. Die sichtbare Welt ist Teil eines mehr geistigen Universums, aus dem sie ihre eigentliche Bedeutung gewinnt.

2. Die Vereinigung mit diesem höheren Universum bzw. die harmonische Beziehung zu diesem ist unsere wahre Bestimmung.

3. Das Gebet bzw. die innere Gemeinschaft mit dem Geist des Universums (Gott) ist ein Prozess, in dem etwas Wirkliches geschieht, durch den spirituelle Energie in die Erscheinungswelt fliesst und dort psychologische oder materielle Wirkungen hervorbringt.

 

Zu einer Religion gehören darüber hinaus folgende psychologische Kennzeichen:

 

4. Ein neuer Geschmack am Leben, der diesem wie ein Geschenk beigegeben wird und entweder in Form lyrischer Verzauberung auftritt oder in Gestalt eines Aufrufs zu Ernsthaftigkeit und Heroismus.

5. Ein Gefühl von Geborgenheit und eine friedliche Grundstimmung sowie überwiegend liebevolle Empfindungen gegenüber den Mitmenschen.

 

Der sogenannte «Wissenschaftler» ist – zumindest solange er sich mit seiner Wissenschaft beschäftigt – so materialistisch eingestellt, dass der Einfluss der Wissenschaft im grossen und ganzen darauf hinausläuft, der Religion die Anerkennung zu versagen. Der einzige Gott, den die Wissenschaft anerkennt, ist ein Gott universaler Gesetze, ein Gott, der einen Welthandel, keinen Krämerladen betreibt.

 

Es sind immer noch der Schrecken und die Schönheit der Phänomene, die «Verheissung» des Morgengrauens und des Regenbogens, die «Stimme» des Donners, die «Sanftheit» des Sommerregens, die «Erhabenheit» der Sterne und nicht die sie regierenden physikalischen Gesetze, von denen sich der religiöse Geist beeindrucken lässt; und wie in grauer Vorzeit erklärt dir der Fromme, dass er in der Einsamkeit seines Zimmers oder der Weite der Felder noch immer die göttliche Gegenwart spürt, dass als Antwort auf seine Gebete ein Strom der Hilfe sich über ihn ergiesst und dass die Opfer, die er dieser unsichtbaren Realität bringt, ihn mit Sicherheit und Frieden erfüllen.

 

Unabhängig davon, welche konkreten Antworten wir auf die Fragen finden, die unser individuelles Schicksal betreffen, gewinnen wir dadurch an Tiefe, dass wir sie als echte Fragen anerkennen und den Bereich, den sie eröffnen, mit unserem Denken ergründen.

 

Es gibt eine gewisse einheitliche Botschaft, in der sich alle Religionen zu treffen scheinen. Sie besteht aus zwei Teilen:

 

1. einem Unbehagen, und

2. der Befreiung von ihm

 

Das Unbehagen besteht, auf die einfachste Formel gebracht, aus dem Gefühl, dass mit uns in unserem natürlichen Zustand irgend etwas nicht stimmt.

Die Befreiung besteht aus dem Gefühl, dass wir von der Unstimmigkeit geheilt werden, wenn wir mit den höheren Mächten in die richtige Verbindung treten.

 

Alle stimmen darin überein, dass das «MEHR» wirklich existiert, wenn auch einige behaupten, es existiere in Gestalt eines persönlichen Gottes oder Götter, während andere sich damit zufriedengeben, es sich als eine geistige Strömung vorzustellen, die in das ewige Weltgefüge eingebettet ist. Darüber hinaus stimmen alle darin überein, dass es nicht nur existiert, sondern auch handelt, und dass es dir wirklich zum Besseren gereicht, wenn du dein Leben in seine Hand gibst.

 

Abgesehen von allen religiösen Überlegungen gibt es im Ganzen unserer Seele wirklich und buchstäblich mehr Leben, als uns zu irgendeiner Zeit bewusst ist.

 

Wir Menschen und Gott haben etwas miteinander zu tun; indem wir uns selbst seinem Einfluss öffnen, erfüllt sich unsere eigentliche Bestimmung.

 

Der Unterschied zu einem Leben, dessen Grundton Resignation, und einem Leben, dessen Grundton Hoffnung ist, besteht darin, dass in einem Fall eine Chance besteht, in dem anderen nicht. Bild: Kirche in Mogno, Tessin. Architektur Mario Botta.

    

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