Ikone «De Anima – III»
Ich habe erneut eine Ikone gekauft. Sie spiegelt meine gegenwärtige Situation. In meinem Buch «Zurück zum Leben – Die Geschichte meiner Depression» schreibe ich:
«Eine Ikone ist nicht einfach ein Bild. Entgegen westlichen Vorstellungen wird sie nicht verehrt. Es geht um den Inhalt. Ikonen sind eine Hilfe in der Gottesbeziehung. Wer sich in das Bild vertieft, wird von Gottes Geist berührt. Das kann heilsam sein.
Die Reformation helvetischer reformierter Prägung war eine Bewegung, in der die Kirchen von allen Bildern und sogar von jeder Musik «gereinigt» wurden. Nichts sollte von Gottes Wort ablenken. Dabei ging viel Sinnlichkeit verloren, die wir in den letzten Jahrzehnten wiederentdecken. Kunst und Spiritualität sind heute ein grosses Thema.»
Die Ikone gehört zu den letzten Werken von Ostap Lozinkij. Er ist am 6. Januar 2022 (an Weihnachten, die in den östlichen Kirchen nach dem alten, julianischen Kalender gefeiert wird) in seinem 39. Lebensjahr unerwartet verstorben - einige Tage nachdem er nach der Behandlung wegen Covid-19 aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Der Künstler, schreibt zu seinem Werk:
Anima-Seele:
Wir alle haben sie. Wir alle reden darüber, denken darüber nach, aber wir wissen nicht wirklich etwas...
Wann und wo erscheint sie? Wohin fliegt sie, wie viel wiegt sie?
In diesem Projekt habe ich versucht, über diese Fragen nachzudenken. Natürlich habe ich keine Antworten, ich weiß nicht, wie die Seele aussieht, aber ich glaube aufrichtig, dass unsere Seelen einen Zweck haben und wir in unserem irdischen Leben trotz aller Interpretationen und Fehlinterpretationen alles tun müssen, damit unsere SEELE aufsteigen kann.
Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes und Jung versuchen, Antworten zu finden, die Seele zu verkörpern oder umgekehrt, die Koexistenz von Seele und Körper zu verwässern. Im gewöhnlichen Leben identifizieren wir unseren Körper tatsächlich mit unserer Seele.
Verschiedene Religionen und verschiedene Lehren interpretieren dieses Konzept radikal unterschiedlich. In den dharmischen Religionen ist das Karma ein wichtiges Konzept, von dem das Schicksal des Menschen bei der Wiedergeburt abhängt. Ziel ist es, einen Zustand der Erleuchtung zu erreichen, die Verschmelzung der menschlichen Seele mit der Welt, wodurch der Kreislauf der Wiedergeburt von Samsara unterbrochen wird, während der Buddhismus den Glauben an eine individuelle menschliche Seele ablehnt.
Die abrahamitischen Religionen zeichnen sich durch den Glauben an ein Leben nach dem Tod aus, in das die menschliche Seele nach dem Tod eingeht, und das Ziel eines rechtschaffenen Lebens ist die Erlösung. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Frage zu beantworten, wie die Seele geboren wird: Die Seele wird direkt von Gott erschaffen, die Seele geht von den Eltern auf das Kind über, und die Seele hat schon immer existiert, sogar vor der Geburt, und hat bei der Geburt das Kind bewohnt.
Die Taoisten glauben, dass der Mensch zwei verschiedene Arten von Seelen hat: Hun und Po. Wenn ein Mensch stirbt, verlässt eine von ihnen den Körper, die andere verbleibt in ihm.
In der Bibel wird das Wort "Seele" mit dem jüdischen Wort "Nefesch" und dem griechischen Wort "Psyche" [ψυχή] übersetzt. Wenn von der "Seele" die Rede ist, meint das Christentum den nicht greifbaren oder geistigen Teil des Menschen, der den Tod des physischen Körpers miterlebt. Andere verstehen sie als ein Lebensprinzip. Die meisten Christen glauben, dass sich die verstorbenen Seelen der Erlösten nach der Auferstehung wieder mit ihren Körpern vereinen.
Die Kabbala lehrt, dass die Seele als eine spirituelle Essenz aufgefasst wird, die ihren Ursprung in einem höheren Geist oder einer Weltseele hat und als Emanation dieser letzteren entsteht. Der Aufstieg der Seele im Körper wird durch ihre Natur bestimmt: Sie muss sich mit dem Körper verbinden, damit sie, nachdem sie ihren Zweck im irdischen Leben erfüllt hat, in die Welt des reinen Lichts - Gott - zurückkehrt.
Meine Deutung der Ikone «Anima – Seele» III
Ja, ich habe einen heftigen Rückfall erlebt. Ich musste mich sogar stationär behandeln lassen, das erste Mal. Meine Gefühle auf der Hinfahrt in die «Krisenintervention-Station» der Psychiatrischen Dienste Aargau waren schwierig. Jetzt auch das noch! Ich weiss, es ist ein vernünftiger Schritt. Doch ich hadere mit mir und Gott.
Ich komme mir vor wie dieser Mann auf der Ikone. Ich bin erneut von der Krankheit gebeugt, fühle mich verloren, kauere mich hin, komme mir als Schatten meiner selbst vor, sehe kein Licht, nur das Leiden. So leben zu müssen, ist doch kein Leben. Ich will zurück ins Leben, nicht wieder durch eine Krise. Es ist einfach so mühsam.
Was gescheit in diesem Menschen? Er sieht nur das Problem vor sich - seine Verwundungen, Kränkungen, sein Leiden. Was macht er mit seiner Hand? Schreibt er etwas in den Sand vor sich? Schreibt er wie ich in seiner Krise Tagebuch - versucht dem, woran er leidet, Worte zu geben.
Da bin ich
Nackt
Entblösst
Entblösst - nackt, einfach ausgesetzt, es nicht vermeiden zu können - wegtreiben, verjagen. Es tut so weh.
Habe ich versagt?
Wer sagt das?
Meine ich es?
Sagen andere es -
oder meine ich, sie sagen es?
Bin ich ihr Gerede?
«Du kannst nichts dafür.»
So sagt der Psychotherapeut zu Will Hunting im Film. Der junge Mann erlebte in seiner Kindheit Schläge durch seinen alkoholsüchtigen Vater. Er ist eigentlich hochbegabt, findet aber als junger Mann nicht den Weg zum Leben. Die Wunde verlässt ihn nicht.
Es war erneut zu viel.
Ich muss kapitulieren,
mich ergeben.
In mir sind wieder
diese bohrende Fragen.
Warum hat sie mich wieder,
diese Krankheit, in den Klauen?
Dieses Bild ist auch ein Bild der Hoffnung. Ein Bild der Hoffnung - das aber dieser Mann nicht sehen kann. Die grosse Hand über ihm - dieses Feld mit dem Kreuz hinter ihm. Er kann es nicht sehen. Es hilft ihm nicht, ihn zu trösten und es ihm sagen. Das wäre zu billig, da er jetzt dieses andere nicht zu sehen vermag. Das andere:
Diese grosse Hand
ausgestreckt
aus dem Himmel
im Zeichen des Segens
mir entgegen
Gottes Hand
unsichtbar
deutlich da
aber gegenwärtig
weit weg.
ER -
über mir
unter mir
hinter mir
und in mir -
Gottes Gegenwart
lässt mich atmen
mich leben
trotz allem
der Himmel
und vor mir
um mir
diese geschundene Welt
lauter Fragen -
keine Antworten
und doch
ein Gott,
ein Gott,
der sich hingibt
Christus am Kreuz hängt
leidend, fragend, schreiend
sein Kreuz
mein Kreuz
einer von uns
mit uns im Leiden.
Sein Blut
vergossen für viele
zur Vergebung der Sünden
seine Passion
für uns
seine Liebe
ER
mir nahe
im Leiden
Er -
mein mich tragender Grund
Trägt er, dieser Grund?
Oder versinke ich längst ins Bodenlose?
ER, damals
Die letzte Nacht
Bleibet hier
wachet und betet
ER zittert und zagt.
Auch er
wie wir:
«Vater
Lass
diesen Kelch
an mir vorbeigehen»
Seine Jünger -
sie schlafen,
wenn er sie braucht
ahnungslos
was da kommt
lassen sie ihn allein.
Die Farben in einer sind nie zufällig. Das Rot ist das Rot des Blutes, des Leidens und gleichzeitig von Gottes Liebe, Das Blau ist die Farbe des Himmels, der Ewigkeit, der Atems, der Seele, des Lebens. Es begegnet uns in Gottes weit ausgestreckter Hand des Segens und in diesem Menschen, der sich hinkauert in seiner dunklen Nacht des Leidens. Doch in ihm ist immer noch Leben, Gottes Odem, die Seele. Jeder Atemzug zeugt von Gottes Leben.
Und hinter ihm befindet sich ein quadratisches Feld mit vielen Punkten und mitten drin ein Kreuz. Die blauen Punkte ist die Gemeinschaft derer, die vor uns gelitten haben. Ich bin nicht allein mit meinem Leiden. Andere waren vor mir, andere sind mit mir, andere werden nach uns sein. Und Gott selbst ist ein mit-leidender Gott. Nicht bloss ein mitleidiger Gott. Er geht nicht auf Distanz - er gibt sich hin, leidet selbst - Jesus Christus, sein Weg des Leidens bis hin ans Kreuz, bis hin zum Schrei: "Mein Gott, mein Gott, warum?" Christus nimmt das Kreuz auf sich, trägt es, bricht unter dem Kreuz zusammen. Und ein anderer hilft es ihm zu tragen. - Hoffnung in dunkeln Tagen. Nicht allein im Leiden. Das stärkt mir den Rücken.
Auch die gegenwärtige Losung erinnert mir dran - jetzt, in meinem Rückfall - im Weg wieder zurück ins das Leben.
So spricht der Herr: Gleichwie ich über dieses Volk all dies grosse Unheil habe kommen lassen, so will ich auch das Gute über sie kommen lassen, das ich ihnen zugesagt habe.
Jeremia 32,42
Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden.
1. Johannes 3,2
Wenn unsere Tage verdunkelt sind und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte, so wollen wir stets daran denken, dass es in der Welt eine grosse segnende Kraft gibt, die Gott heisst. Gott kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen. Er will das dunkle Gestern in ein helles Morgen verwandeln - zuletzt das leuchtende Morgen der Ewigkeit.
Martin Luther King
Im Buch, das ich in meinen Aufenthalt in die Klinik mitgenommen habe, begegnen mir zudem Worte, die genau das beschreiben, was ich gerade erlebe (Reiner Knieling: Kraftworte. Adeo 2021):
Körpersignale
Ich spüre
oder ahne es wenigstens
dass was rumort
irgendwo innen drin
Körpersignale sind leise
am Anfang
versteckt
und werden leicht überhört
Was sie mir sagen
muss ich erst wieder lernen
Nicht gleich
der erstbesten
Deutung vertrauen
Was raubt mir die Kräfte?
Was verschließt meine Kehle?
Ich weiß es
noch nicht
Eine erste Erleichterung
stellt sich ein
Was in mir ist
darf sein
Etwas löst sich
ich kann‘s noch nicht glauben
So langsam bilden sich Worte
Stimmen sie schon?
Ich komme in Kontakt
mit mir
und mit dir
Danke dafür
Behalt mich im Auge
halt die Verbindung
zu dem, was rumort
innen drin
Manchmal fehlt mir der Zugang
Manchmal fehlt mir der Zugang
zu mir
meinen Gefühlen
den inneren Regionen
Als ob ich die Schlüssel verlegt hätte
einfach nicht reinkomme
Und doch ahne, dass da etwas ist
was Wichtiges
Manchmal fehlt mir der Zugang
zu meiner Sehnsucht
und dem
was ich mir wünsche
Ich merke erst spät
ich habe mich verloren
Bin leer geworden
und ohne Kraft
So fange ich an
mich wieder zu spüren
Sehne mich
wonach eigentlich?
Was brauche ich
innen drin?
Kann eine Seele Durst haben
Und Hunger mein Herz?
Brauche ich dich, Gott?
Kannst du mir geben
was fehlt
und was ich nicht so gut kenne?
Kann ich satt
werden bei dir?
Ruhe finden
und Kraft?
PS: Nun bin ich "Zurück im Leben". Durchgestanden. Durchgetragen. Dafür bin ich dankbar: Gott und auch all diesen Menschen, die sich in Medizin und Therapie um mich bemüht haben. Und denen, die mich in ihren Gebeten begleitet haben.
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Maria (Samstag, 25 September 2021 16:30)
Zurück im Leben und wiederum ein Stück näher bei Gott.
Sei gesegnet,so dass deine Seele singen kann.
Maria
Walter (Samstag, 25 September 2021 19:53)
Heute lag dein gediegenes Buch in unserer Post. Herzlichen Dank! Ich habe es durch den ganzen Tag immer wieder zur Hand genommen. In dieser ersten spannenden Querbeet-Lektüre stiegen etliche Erinnerungen aus unseren über 20 Jahren gemeinsamen Dienstes in der Kirchgemeinde hoch. Wir hatten beide unsere (verschiedenen) Bürdeli zu tragen. Ich verstehe nun manches besser, was mir damals rätselhaft erschienen war. Sei gesegnet, du und deine Familie!
Natascha (Dienstag, 28 September 2021 18:29)
Deine Worte berühren, bewegen die Seele und das Herz - dort wo man (und frau) fühlt.